«Die revidierte Invalidenversicherung wird zu einer Quelle der Lebensfreude für die Betroffenen»

Am 8. April 2007 (Zwei Monate vor der Abstimmung über die 5. IV-Revision) erschien in der NZZ ein sehr aufschlussreicher Text von Beat Kappeler. Er beginnt so:

«Die revidierte Invalidenversicherung wird zu einer Quelle der Lebensfreude für die Betroffenen und der Glaubwürdigkeit der Institution selbst. Diese österlich-optimistische Lesart eines völlig neuen Sozialstaats muss eingeübt werden gegenüber den kleinmütigen Gegnern wie gegenüber den verlegenen Entschuldigungen der Befürworter, man müsse halt sparen.

Es geht um die Einstellung gegenüber dem Leben, um nichts weniger. Hochphilosophisch gesagt, wendet sich die IV von der Kausalität zur Finalität, weil nicht einfach medizinische Ursachen verrentet werden, sondern die Teilhabe an Arbeit und Gesellschaft zum Ziel wird.(…)»

Ich empfehle die Lektüre des ganzen Artikels, denn der geneigte Leser, die geneigte Leserin wird darin das entschlossene und höchst selbstbewusste Vorspuren der vom Autor gewünschten politischen Richtung erkennen, beispielsweise hier: «Der Wildwuchs immer neuer medizinischer Begriffe wird nicht mehr rentenbestimmend. Heute sind das Schleudertrauma sowie die Fibromyalgie – unerklärliche Schmerzen – beides Rentengründe in der Schweiz, aber kaum anderswo.»

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Kleiner Exkurs an dieser Stelle. Die hidden Agenda, welche Kappelers Artikel zugrunde liegt, legt er freundlicherweise auf seiner Webseite detailliert dar (lang, aber ich empfehle auch diese erhellende Lektüre sehr). Da findet sich unter Punkt 25 folgendes:

Es gibt bewährte Techniken des Umbaus alternder, überforderter Sozialstaaten. Sie wurden in den angelsächsischen Ländern seit 1979 (GB), 1981 (USA) und 1985 (Neuseeland) erprobt: „Obfuscation“ – die Massnahmen sind oft sehr technisch, graduell, aber auf lange Sicht sehr wirksam.

  • Empfängergruppen können verschieden angegangen, behandelt und zu anderen Zeiten verändert werden – damit teilt man die Widerstände sozialer Demagogie, die heute gegenüber den über 50% der Haushalte mit Staatszuschüssen mobilisert werden kann, indem man diese anlässlich einer Einzelmassnahme schreckt, „das ist der erste Schritt für alle“.
  • Oder im Gegenteil: runde Tische können Opfer aller Gruppen symmetrisch akzeptabel machen.
  • Ranghöhere Verfassungs- oder Gesetzesnormen können Ausgabenprogramme verhindern (Schuldenbremsen, Einsparungen am gleichen Ort, qualifizierte Mehrheiten im Parlament für Ausgabenbeschlüsse)
  • Nur künftige Leistungen, nicht laufende, beschneiden. Diese Interessenträger sind selten organisiert.
  • Den Funktionären der Betroffenen erlauben, das Gesicht zu wahren. Dann werden sie „pfadunabhängig“ von ihren früheren Versprechungen und Demagogien.
  • Die Durchführung harter Massnahmen auf untere Ebenen schieben.
  • Die Massnahmen den Verursachern übertragen (die Arbeitslosen- und Invalidenversicherung beispielsweise den Arbeitgebern und Arbeitnehmern).
  • Multiplikativ wirkende Drehpunkte in den Ausschüttungsprogrammen ändern (z.B. Definitionen von Armutsschwellen, die für viele Programme als Berechtigung wirken).
  • Gewinnerkoalitionen bilden, Verliererkoalitionen bilden sich von selbst.
  • Die intellektuelle Lufthoheit über sozialpolitische Tabus gewinnen (versucht dieser Text!)

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Jeder einzelne Punkt dieser Agenda wurde in der öffentlichen sowie politischen Diskussion um die IV-Revisionen virtuos ausgespielt. Am perfidesten ist wohl die unverfrorene Aneigung der jahrzehntealten Forderung der Behinderten – nämlich diejenige nach gleichberechtigter Teilnahme an der Arbeitswelt – welche Kappeler im eingangs erwähnten NZZ-Artikel bis zur Groteske pervertiert. Also die von ihm propagierte «Obfuscation» 1:1 umsetzt. (Obfuscation is the hiding of intended meaning in communication, making communication confusing, wilfully ambiguous, and harder to interpret).

Dass die Wünsche der Behinderten zur gleichberechtigten Teilnahme am Arbeitsleben den Herren des Establishments in Wirklichkeit am Allerwertesten vorbei gehen und immer schon gingen, zeigt u.a. eine parlamentarische Eingabe der SP, welche die Problematik der fehlenden Eingliederungsunterstützung von psychisch Kranken (welche ja für die IV heute das zahlenmässig grösste Problem darstellen) bereits 1986 – offenbar mit wenig nachhaltigem Erfolg – thematisierte.

Auch die Pro Mente Sana wies schon 2001 (in der Vernehmlassung zur 4. IV-Revision) deutlich und ausführlich auf die Schwierigkeiten bei der beruflichen Integration psychisch Kranker hin.

Die Problematik war also durchaus bekannt. Es hat nur einfach niemanden interessiert, die Bedingungen für die Betroffenen zu verbessern. (Siehe auch:  → Kaum Eingliederungsmassnahmen für psychisch Kranke und → Wen würden sie einstellen?)

Interessant wurde das Thema erst dann, als man Betroffene zu Sündenböcken abstempeln und für eigene politische Zwecke instrumentalisieren konnte. Der machthungrige alte Mann aus Herrliberg hat 2003 mit der Lancierung des Scheininvalidenbegriffs die Lufthoheit über ein – natürlich selbst definiertes – sozialpolitisches Tabu gewonnen. Und ein gut organisiertes Netzwerk aus willfährigen Helfer unterstützte ihn in seinem Ansinnen. Hat irgendjemand aus irgendeinem bürgerlichen Munde (FDP, CVP…) je vernommen, die Scheininvalidenhetze sei dann aber nicht so nett? Im Gegenteil: Ein Geschenk das Himmels war das. Schliesslich hat sie auch Gott Blocher persönlich lanciert. (Die Symbolik dessen, wann ein Thema Chefsache ist, ist nicht zu unterschätzen).

Angesichts der oben aufgezeigten Strategien ist es wohl auch nicht vermessen zu vermuten, dass die jahrelange Ignoranz bezüglich der Eingliederungsproblematik bei der IV und das damit immer grösser werdende Defizit kein «Betriebsunfall» sondern eine durchaus mit Wohlwollen betrachtete Entwicklung darstellten, die im richtigen Moment eine überraus komfortabe Ausgangslage für radikale Abbau-Forderungen beim ungeliebten Sozialstaat bieten würden. Welche dann ganz im Sinne von Orwells Neusprech auch noch als «Quelle der Lebensfreude für die Betroffenen» propagiert wurden.

Apropos Netzwerk: NZZ-Autor Beat Kappeler erhielt 2011 den Röpke-Preis des liberalen Institutes: Es würdigt damit «dessen langjähriges Engagement zugunsten einer Ethik der Selbstverantwortung und gegen sozialstaatliche Entmündigung». Der Gründer des Liberalen Instituts, Robert Nef wiederrum hat seine Schrift «Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat» im Schweizerzeit-Verlag von Ulrich Schlüer verlegen lassen und ist ein langjähriger Duzfreund vom alten Mann aus Herrliberg. Und das ist nur ein einziger kleiner Faden im dicht gewebten Spinnengeflecht der Macht, welche «Die intellektuelle Lufthoheit über sozialpolitische Tabus» an sich riss und man muss es leider sagen, damit sehr weit – viel zu weit – gekommen ist. (Und wer denkt, mit der Versenkung der IV-Revision 6b wäre jetzt erstmal Ruhe im Karton täuscht sich: Eine illustre Runde um FDP-Nationalrat Cassis hat eine Motion eingreicht, die den Bundesrat beauftragt die – angeblich – unbestrittenen Elemente der IV-Revision umgehend in Angriff zu nehmen.)

Der Lackmustest für die von den netten alten Herren aus dem liberalen Umfeld angeblich so sehr unterstützte Teilnahme Behinderter am Arbeitsmarkt ist übrigens ganz leicht. Im direkten Gespräch einfach mal leise «Behindertenquote» flüstern – und dann die darauf folgenden panischen Ausflüchte mit hochgezogener Augenbraue quittieren.