Das Balkonurteil des Bundesgerichts aus juristischer Sicht: Höchst bedenklich

Als ich Anfang Dezember letzten Jahres den Artikel über den Bundesgerichtsentscheid (BGE 8C_272/2011) wonach IV-Bezüger/Antragsteller von Detektiven auf dem eigenen Balkon gefilmt werden dürfen, schrieb, war ich… sagen wir mal… ein bisschen schlecht gelaunt, nicht nur wegen des Urteils an sich, sondern weil man sich ohne Jurastudium nicht mal eben so einen Kommentar dazu aus dem Handgelenk schütteln kann. (Was heisst eigentlich Privat und- Geheimbereich? Und warum gilt das hier nicht? Und überhaupt:…?!?!?)

Umso mehr freut es mich, dass sich jemand mit Sachverstand dem Urteil angenommen hat und das Ganze aus juristischer Sicht in etwa auf auf den selben Punkt bringt, wie ich als Laie. Im folgenden einige Ausschnitte aus dem Artikel «Observation von IV-Versicherten: Wenn der Zweck die Mittel heiligt» von Dr. Lucien Müller, veröffentlicht im Jusletter vom 19. Dezember 2011:

[Rz 35] (…)Aus dem Zusammenspiel mit diesen Erwägungen muss man schliessen, dass das Bundesgericht die Geeignetheit der Observation gar nicht oder zumindest nicht primär unter dem Aspekt der Missbrauchsbekämpfung prüft und bejaht. Sie wird vielmehr damit gerechtfertigt, dass ansonsten nicht genügend Informationen zur Abklärung des vorhandenen Gesundheitsschadens und zur Einschätzung der Arbeitsfähigkeit bestünden. Das ist aber etwas anderes.

(…)Die Ausführungen des Bundesgerichtes lassen sich mit anderen Worten so interpretieren, dass für eine Observation schon ein Mangel an Informationen für eine abschliessende und umfassende medizinische Begutachtung ausreichen würde. Entscheidend ist aber, ob ein Verdacht auf Missbrauch besteht. Die Ausführungen des Bundesgerichtes sind umso problematischer als – wie die Vorinstanz feststellt – «Verdeutlichungstendenzen, Selbstlimitierung und mangelnde somatische Objektivierbarkeit der geltend gemachten Beschwerden nicht selten zu beobachtende Phänomene darstellen, wenn die Diagnosen eines diffusen Schmerzsyndroms und/oder einer Erkrankung aus dem somatoformen Kreis im Raum stehen».Alleine die Diagnose eines diffusen Schmerzsyndroms oder einer somatoformen Erkrankung kann und darf m.E. zur Annahme eines Missbrauchsverdachtes nicht ausreichen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung läuft jedoch auf das Gegenteil hinaus.

Das Fazit von Dr. Lucien Müller:
[Rz 51] Der hier besprochene Entscheid des Bundesgerichts muss als in der Begründung mangelhaft, im Ergebnis unrichtig und in seinen weiteren Konsequenzen als höchst bedenklich eingestuft werden. Es ist zwar sehr zu begrüssen und auch unumgänglich, dass missbräuchlichen Leistungsbezügen entschieden entgegengetreten wird. Doch es geht nicht an, diesem Ziel die Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundsätze, namentlich des Legalitäts- und Verhältnismässigkeitsprinzips, vollkommen unterzuordnen und den verfassungs- und strafrechtlichen Schutz der Privatsphäre auf derart unstimmige, unsaubere und gefährliche Art zu beschränken. Klar abzulehnen ist insbesondere auch die in diesem Entscheid mehrfach zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass Äusserungen und Handlungen, einzig weil sie in einer für Dritte wahrnehmbaren Art und Weise vorgenommen werden, nur in geringem Ausmass schutzwürdig wären oder der Einzelne damit gar auf den Schutz seiner Privatsphäre verzichtet hätte.

Quelle: Lucien Müller, Observation von IV-Versicherten: Wenn der Zweck die Mittel heiligt, in: Jusletter 19. Dezember 2011

Nachtrag 16. Februar 2011: Auch humanrights.ch berichtet und unterstützt die kritische Sichtweise von Lucien Müller.