BGE 9C_492/2014: «Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben»

Die Überwindbarkeitspraxis ist den Betroffenen gegenüber schlecht kommunizierbar und beleidigt sie, weil sie mit einer Schuldzuweisung verbunden ist: Wir haben durch unsere Abklärung nicht nur herausgefunden, dass Sie keine Rente bekommen, wir haben auch noch gemerkt, dass Sie an Ihrem misslichen Zustand selber Schuld sind, Sie könnten nämlich arbeiten gehen und selber Geld verdienen, wenn Sie nur wollten!

– Dies ist kein Zitat aus einer realen Verfügung, aber die Botschaft, wie sie beim Empfänger ankommt, wenn mit der «willentlichen Überwindbarkeit» argumentiert wird.

Jörg Jeger: Die persönlichen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Überwindbarkeitspraxis, 2014

Jörg Jeger ist nicht etwa Rechtsanwalt bei einer Patienten- oder Behindertenorganisation, sondern Chefarzt der Medas Zentralschweiz. Neben diesem eher anekdotischen Zitat hat Jeger vor allem mit seinem fachlich fundierten und langjährigen Engagement für eine gerechtere Begutachtung bei somataformen Schmerzstörungen einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass das Bundesgericht im kürzlich publizierten BGE 9C_492/2014 zum Schluss kam: «Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben.»

Der vom Rechtsanwalt David Husmann errungene Bundesgerichtentscheid war, wie die Schadenanwälte in ihrem Kommentar «Überwindbarkeitsrechtsprechung überwunden!» schreiben, nämlich «Teamwork» an dem – wie sich an den Literaturhinweisen im Urteil ablesen lässt – viele verschiedene Akteure beteiligt waren. Eine wichtige Rolle spielte auch das von den Anwälten von «Indemnis» in Auftrag gegebene Gutachten des renommierten deutschen Professors Dr. Peter Henningsen, der sachlich fundiert darlegte:

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Schmerzkrankheiten beruht auf falschen Annahmen über die medizinische Empirie.

Darauf hatten zuvor zwar schon andere Autoren (u.a. der oben ziterte Jörg Jeger) mehrfach hingewiesen, aber das waren eben «die berühmten Propheten im eigenen Land» wie es Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht im Tagi-Interview («Ich erwarte, dass Patienten ganzheitlicher begutachtet werden») formulierte.

[Kurzer Einschub]
Ein im IV/psychisch-Bereich im Übrigen nicht ganz unbekanntes Phänomen. Bevor im Januar 2014 der OECD-Länderbericht Schweiz «Psychische Gesundheit und Beschäftigung» Handlungsbedarf konstatierte, hat das Thema ausser ein paar Verschrobenen niemanden interessiert. Mittlerweile lassen sich sogar in Hintertupfingen Weinfelden (TG) ganze Säle damit füllen und es finden nationale Tagungen (z.B. «Arbeit und psychische Gesundheit – Herausforderungen und Lösungsansätze» am 26. August 2015 in Zürich) statt.

Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass im Land der sorgsam gepflegten Ressentiments gegen «fremde Richter» gewisse Themen erst durch Gutachten/Berichte aus dem Ausland in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Schweiz-Intern gälte als hinreichender Beleg der Relevanz des Themas vermutlich einzig die Ausgrabung eines entsprechenden historischen Dokuments («Arbeytsfähigkeit bey Mannen des Ritterstandes nach Postraumatischen Belastungsstörungen» Bernardus der Ältere, Morgarten, 1317).
[Einschub Ende]

Zurück zum Thema.
Was ändert sich mit dem BGE 9C_492/2014 denn nun genau?
Während bisher davon ausgegangen wurde, dass eine somatoforme Schmerzstörung (bzw. Päusbonog) mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar und darum per se nur in seltenen Ausnahmefällen (bei Erfüllung der sog. Foerster-Kriterien) invalidisierend ist, soll nun jeder Einzelfall indviduell und «ergebnisoffen» abgeklärt werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Funktionsfähigkeit und Ressourcen gelegt werden, die anhand von vom Bundesgericht skizzierten «Indikatoren» festgestellt werden sollen:

Funktioneller Schweregrad
– Gesundheitsschädigung
– Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome
– Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
– Komorbiditäten

Persönlichkeit
– Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen

Sozialer Kontext*

Konsistenz
– gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen
– behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck

* Ausführung im BGE dazu:

Soweit soziale Belastungen direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, bleiben sie nach wie vor ausgeklammert(…) Anderseits hält der Lebenskontext der versicherten Person auch (mobilisierbare) Ressourcen bereit, so die Unterstützung, die ihr im sozialen Netzwerk zuteil wird.

Ich interpretiere das mal frei: Schwierige Scheidung hinter sich? Ist IV-fremder Faktor, interessiert uns nicht. Unterstützender Ehepartner? Oho! Pluspunkt für die Ressourcen, ergo tieferer IV-Grad. – Und was passiert, wenn der unterstützende Ehepartner ein paar Jahre später nicht mehr da ist? Ist das dann neuerdings ein IV-Revisionsgrund?

Im Hinblick auf die konkrete Umsetzung wird wohl noch einiges zu klären sein. Das Bundesgericht formuliert deshalb auch einen deutlichen Auftrag an die medizinischen Fachgesellschaften:

Bezüglich Leitlinien der (psychiatrischen) Begutachtung besteht dringender Handlungsbedarf.

Und:

In künftige Leitlinien einzubeziehen sein werden auch Schlussfolgerungen aus der laufenden Nationalfonds-Studie des Universitätsspitals Basel „Reliable psychiatrische Begutachtung im Rentenverfahren“ (RELY-Studie), welche die Verlässlichkeit einer funktionsorientierten psychiatrischen Begutachtung untersucht.

Das ist jetzt ein bisschen ein gemeiner Seitenhieb von den Bundesrichtern. Die Zwischenergebnisse der RELY-Studie vom März 2015 zeigen nämlich leider eher das Gegenteil dessen, was sie eigentlich zeigen sollten:

Die Zwischenergebnisse zeigen allerdings auch, dass die vier Gutachter bei der Bewertung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit ein und derselben Person eine geringere Übereinstimmung erzielten als erwartet. Das heisst, die Studie konnte bisher nicht schlüssig nachweisen, dass die funktionsorientierte Begutachtung zu akzeptablen Übereinstimmungen in der geschätzten Leistungs- und Arbeitsfähigkeit führt.

Dazu muss man allerdings sagen, dass in der Studie nicht überprüft wurde, wie hoch (oder tief) die Übereinstimmung bei herkömmlichen Begutachtungsmethoden ist. Bemerkenswert dazu ist, dass vor einem Jahr eine ebenfalls vom Unispital Basel (die Hälfte der Forschergruppe hatte allerdings «Beziehungen» zum ABI Basel) durchgeführte Begutachtungs-Studie für Schlagzeilen sorgte, in der festgestellt wurde, dass behandelnde Ärzte vor allem bei somatformen Störungen die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten tiefer einschätzen als Medas-Gutachter. Was in den meisten Medienberichten damals unter den Tisch fiel, war, dass nicht mit der Einschätzung von «Medas-Ärzten im Allgemeinen» verglichen wurde, sondern nur mit derjenigen einer einzigen Medas-Stelle (nämlich des ABI Basel). Und da das ABI Basel keine 50 Psychiater beschäftigt, ist davon auszugehen, dass die Gutachten vermutlich von einer eher kleinen Personengruppe mit ähnlichem «Gutachterverständnis» ausgestellt wurden.

Da die Psychiater in der RELY-Studie keine eigenen Patienten begutachtet haben und trotzdem zu relativ unterschiedlichen Resultaten kamen, legt den Schluss nahe, dass bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht nur eine Rolle spielt, ob sie der behandelnde oder ein Medas-Arzt vornimmt, sondern vor allem auch, welche ganz persönliche Sichtweise der Psychiater hat. Oder auch: 4 Psychiater, 5 Meinungen.

Um es noch mal mit dem Bundesgericht zu sagen:

Bezüglich Leitlinien der (psychiatrischen) Begutachtung besteht dringender Handlungsbedarf.

Und das «psychiatrisch» kann da gleich ganz weg, denn aus meiner Sicht ist nicht einzusehen, weshalb die neu propagierte Funktions-und Ressourcenorientierte Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nur für bestimmte und nicht für alle Krankheiten gleichermassen gelten soll. Henningsen sagt das in seinem Gutachten auch genauso:

Es ist insofern nicht gerechtfertigt, Körperbeschwerdesyndrome mit eindeutiger organischer Ätiologiekomponente im Hinblick auf die Begutachtung der Arbeitsfähigkeit anders zu behandeln als solche ohne eindeutige Komponente.

 

Medienmitteilung Bundesgericht
Bundesgerichtsentscheid 9C_492/2014

10vor10: Kehrtwende des Bundesgerichts/Folgen für die Invalidenversicherung
NZZ: Kurswechsel bei den Invalidenrenten
Tagesanzeiger: Patienten mit Schleudertrauma können wieder IV beantragen / Eine überfällig Kurskorrektur

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Noch etwas zur Rolle der Behindertenorganisationen Supervision für Procap und Pro Infirmis

Erfreulich war, dass die Procap sehr flink mit einer Stellungnahme auf den Bundesgerichtsentscheid reagiert hat, so dass diese auch in der sda-Meldung erwähnt wurde:

Die Behindertenorganisatorin [sic! Hallo sda?] Procap begrüsste das Ende der «unsinnigen und ungerechten Diskriminierung» einzelner Menschen mit Behinderung. Procap erwarte nun, dass für die Beurteilung ein faires Verfahren geschaffen werde und auch die Fälle aus den letzten Jahren wieder aufgerollt würden, bei denen Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden seien.

So schaut gute Medienarbeit aus.

Pro Infirmis hingegen fand, eine knappe Information auf der Webseite einen Tag später reiche auch. Anders als die Procap (die sowohl die MM des Bundesgerichtes, die Stellungnahme der Schadenanwälte, als auch einen Artikel aus dem letzten Procap-Magazin zur Schmerzrechtsprechung verlinkt) findet man Zusatzinfos bei der PI unnötig. Viel wichtiger ist, dass der stellvertretende Direktor der Pro Infirmis, Urs Dettling, Kraft seines Amtes betont, dass die Behindertenorganisationen an erster Stelle für eine gerechtere Beurteilung gekämpft haben:

(…)wurde sowohl von Behindertenverbänden wie auch der Medizin und Juristen immer wieder auf der fachlichen Ebene kritisiert

Bei der Procap hingen wählte man eine etwas bescheidenere relitätsnähere Reihenfolge:

Die jahrelange breite Kritik von juristischen und insbesondere auch medizinischen Fachleuten sowie von Behindertenorganisationen(…)

Auch wenn die Procap sich auf der Zielgeraden noch schnell eigeklinkt hat (das Henningsen-Gutachten ist seit fast einem Jahr öffentlich und wurde erst in der diesjährigen Mai-Ausgabe des Procap-Magazins besprochen): Es waren wirklich nicht die Behindertenorganisationen, die an vorderster Front für eine faire Begutachtung für alle gekämpft haben.

Vielmehr wurde beispielsweise in Behinderung und Recht 4/13 (von Integration Handicap) «begrüsst», dass Cancer-related Fatigue nicht zu den Schmuddelkindern Päusbonogs gezählt werde. Wohingegen der bereits eingangs zitierte Jörg Jeger zum entsprechenden Urteil fragte:

Warum vertraut man bei der Cancer-Related Fatigue auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit durch den Arzt, beim Fibromyalgie-Syndrom nicht?

Um Veränderungen anzustossen, reicht es eben nicht, à la Behindertenorganisationen einfach zu sagen «Heiliger St. Florian…» «Das ist aber unfair!» Man muss etwas auch begründen bzw. gezielt in in Frage stellen können. Nun ist natürlich nicht jeder Mediziner oder Jurist und nicht jeder mag sich überhaupt mit sowas befassen. Wenn aber Pro Infirmis bei der entsprechenden Meldung nicht mal das zugehörige Bundesgerichtsurteil verlinkt, gibt man klar zu verstehen: Du Fussvolk, du eh zu doof, dir eine eigne Meinung zu bilden (oder gar Fragen zu stellen) – übernimm einfach unsere vorgekaute Meinung, das reicht. (Und komm bloss nicht auf die unverschämte Idee, genauer nachzufragen, was PI eigentlich überhaupt zu diesem erfreulichen Resultat beigetragen hat).

Menschen mit Behinderung in ihrer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu fördern, hiesse halt auch, ihnen aufzuzeigen, wie solche Veränderungen zustanden kommen, sie – wenn sie es möchten – am Prozess zu beteiligen und weiterführende Informationen, die ihre Angelegenheiten betreffen, zugänglich zu machen. Und wenn es nur 1% sind, sich damit befassen mögen. Ist wie bei den Rollstuhlrampen, die müssen einfach da sein, auch wenn sie in manchen Fällen vielleicht nur einmal im Jahr benutzt werden.