Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode (2)

Im letzten Artikel habe ich das Urteil IV 2020/209 des St. Galler Versicherungsgerichtes vorgestellt. Die Argumentationslinie des Gerichtes geht folgendermassen: Begutachtungsinstitute wie das ABI können gar nicht befangen sein, denn dann müssten ja auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert sein. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre. Tatsächlich sei aber «eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich».

Nicht «an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert»? Äh, Moment…

Ende 2019 machte der Tagesanzeiger publik, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen jährlich für jede kantonale IV-Stelle ein Sparziel festlegt:

Auf einer Tabelle ist für jeden der 26 Kantone ein Leistungsziel für das kommende Jahr vorgegeben. ­Dieses lautete etwa für 2018 für die meisten IV-Stellen: «halten oder senken» der Neurentenquote, «halten oder senken» der Gesamtrentenzahl sowie «halten oder senken» der Kosten pro Versicherten.
(…)
Die Sparziele scheinen auch einen unguten Wettbewerb unter den IV-Stellen zu fördern. Laut Aussagen einer früheren Mitarbeiterin der IV-Stelle Luzern legte deren Direktor besonders grossen Wert darauf, «gegenüber anderen kantonalen IV-Stellen besonders gut dazustehen». Die langjährige Mitarbeiterin liess sich dieses Jahr vorzeitig pensionieren, weil sie den internen Spardruck nicht mehr aushielt.

Wir erinnern uns, Luzerner IV-Direktor war damals Donald Locher, der sich in den Medien Anfang 2014 schweizweit als innovativer Pionier der sogenannten «Hirnstrommessungen» feiern liess. Durch diese Methode könne nämlich laut Locher eindeutig nachgewiesen werden, dass die Mehrheit der IV-Antragstellenden mit einer psychischen Erkrankung ihre Beschwerden übertrieben darstellen würde. Die NZZ schrieb am 5.1.2014:

Die IV-Stelle in Luzern zieht bei der Beurteilung strittiger IV-Gesuche neuropsychologische Tests an Patienten zu Hilfe. Eine Mehrheit der Patienten gaukelte eine übertriebene psychologische Erkrankung vor.

Diese «innovative» Methode zur Rentenverhinderung wurde dann allerdings einige Jahre später vom BSV wegen «Unseriosität» in aller Stille beerdigt. Doch Locher hatte noch andere Tricks auf Lager, um im Wettbewerb der IV-Stellen um möglichst fantasievolle Rentenvermeidigungsstrategien ganz vorne mitzumischen: Die IV-Stelle Luzern konnte eine überdurchschnittliche Anzahl von Rentenaufhebungen aufgrund der Schlussbestimmung der IV-Revision 6a erreichen, indem sie die gesetzliche Grundlage nicht nur sehr eigenwillig, sondern wie das Bundesgericht im BGE 8C_324/2013 feststellte, effektiv widerrechtlich auslegte.

Wie lautete die Argumentationslinie des St. Galler Gerichtes gleich nochmal?

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Wenn nun also die Aufsichtsbehörde es nicht nur toleriert, dass die IV-Stellen an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert sind, sondern den IV-Stellen die Sparziele gleich selbst vorgibt, und die IV-Stellen diesen Sparzielen dann mit «innovativen Methoden» nachkommen, erfüllt das laut dem St. Galler Gericht natürlich nicht den Tatbestand der «Befangenheit». Gut ja, da hat das Gericht natürlich einen Punkt. «Befangenheit» ist nicht der korrekte Ausdruck: «Das ganze System ist durch und durch marode» wäre ein passendere Beschreibung.

Und was macht die Politik?

Im Frühling 2020 fand im Ständerat eine Diskussion zur Interpellation «System der Quotenziele des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Konflikt mit dem Rechtsanspruch und dem Untersuchungsgrundsatz?» statt. Bundesrat Berset begegnete dem Befremden verschiedener (nicht nur linker) Parlamentarier·innen über die Praxis des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit folgenden drei Punkten:

  • Er weist die Parlamentarier·innen an, sie sollen nicht so überrascht tun, denn diese Praxis sei immer transparent gewesen («On ne peut donc pas faire comme si l’on ne savait pas que cela existait.») und verweist auf Artikel 64a IVG: «Das BSV übt die administrative Aufsicht über die IV-Stellen einschliesslich der regionalen ärztlichen Dienste aus. Es gibt insbesondere Kriterien vor, um die Wirksamkeit, Qualität und Einheitlichkeit der Erfüllung der Aufgaben nach den Artikeln 57 und 59 Absatz 2 zu gewährleisten, und überprüft die Einhaltung dieser Kriterien.»
  • Berset erinnerte das Parlament auch daran, dass die IV 15 Milliarden Schulden hatte (aktuell immer noch 10 Mia. übrigens), und dass man ja unbedingt sparen wollte («Je vous rappelle que tout ce qui a été réalisé était la conséquence de décisions du Parlement prises dans un climat dans lequel il fallait à tout prix réduire les dépenses de l’assurance-invalidité.»)
  • Als dritten Punkt fügte Berset an, dass er bereits zwei Studien im Auftrag gegeben hätte. Diese sollten sowohl die Gutachterpraxis als auch die Aufsichtstätigkeit des BSV über die IV-Stellen untersuchen.

Die Resultate dieser unterdessen veröffentlichten Studien werde ich zu einem späteren Zeitpunkt kommentieren.