Liebe Leser·innen, ich nehme Sie nun mit auf eine wilde Achterbahnfahrt durch die Schweizer Begutachtungs-, IV- und Gerichtspraxis zu ME/CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom / Myalgische Enzephalomyelitis). Schnallen Sie sich an und halten Sie für den Notfall eine Tüte bereit. Nicht, dass mir nachher Klagen kommen, ich hätte Sie nicht gewarnt.
Diejenigen, die mit dem Krankheitsbild ME/CFS nicht vertraut sind, finden im Artikel «Post-COVID-Syndrom mit Fatigue und Belastungsintoleranz: Myalgische Enzephalomyelitis bzw. Chronisches Fatigue-Syndrom» (Aus: Die Innere Medizin, 2022) vorab eine gute Übersicht. Die Autorin Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen ist kommissarische Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie der Charité Berlin und wurde kürzlich für ihre Verdienste im Bereich der Forschung und Therapie von ME/CFS vom deutschen Bundespräsidenten mit dem Verdienstkreuz ausgezeichnet.
Falls Sie es überlesen haben: Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen ist Immunologin. Keine Psychiaterin.
1. 1. PMEDA: «Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiert ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung»
Als erstes ein Fall (IV 2019/26) aus dem St. Galler Versicherungsgericht:
[Die Versicherte] gab an, sie habe täglich Phasen grösster Leistungseinschränkungen. Sie sei mental und körperlich total entkräftet, geschwächt, benommen und lähmend erschöpft. Zusätzlich leide sie an einem Grippegefühl, Herzbeschwerden, einem Schwindel, einer Übelkeit, kognitiven Dysfunktionen, einer Konzentrationsschwäche und einer veränderten Wahrnehmung. Der Zustand verschlechtere sich nach jeglicher körperlicher und geistiger Aktivität.
Aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme hatte die Versicherte sich schon vor dem IV-Verfahren umfangreichen medizinischen Abklärungen unterzogen, bei denen der Verdacht auf ein «Chronic Fatigue Symptom» geäussert wurde. Auffallend sei eine starke Erschöpfung nach körperlicher Anstrengung. Die Versicherte wurde auch im Auftrag des Krankentaggeldversicherers durch die PMEDA polydisziplinär (neurologisch, psychiatrisch und neuropsychologisch) abgeklärt, welche zu folgendem Schluss kam:
Für die beklagten Beschwerden habe sich namentlich auf kognitiver Ebene kein Korrelat gefunden. Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiere ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung und ohne eine biologisch verstandene morphologische Basis. Auch habe sich bei der Versicherten keine Grunderkrankung herausarbeiten lassen, auf deren Basis es zu einer raschen körperlichen und kognitiven Erschöpfung kommen könnte.
Weiter:
Der RAD-Arzt Dr. I._ notierte am 28. Januar 2016 (IV-act. 84), der von der Versicherten beklagte Gesundheitsschaden habe im Rahmen der Begutachtung durch die PMEDA nicht erhoben werden können. Eine Verdachtsdiagnose (wie von der Abteilung für Psychosomatik des X._ geäussert) reiche nicht aus, um einen Leistungsanspruch zu begründen. Gutachterlich gestellte Diagnosen genössen in der Regel den Vorzug vor jenen der Behandler.
Basierend auf der Begründung des RAD bzw. der PMEDA wies die IV Stelle das Rentenbegehren ab. Die Versicherte erhob dagegen Beschwerde und bei der IV beriet man sich:
Ein Strategiegespräch zwischen dem RAD-Arzt, einem Rechtsdienstmitarbeitenden und einer Sachbearbeiterin der IV-Stelle vom 3. Juli 2017 ergab (IV-act. 119), dass die medizinische Aktenlage im Lichte der geänderten Rechtsprechung zu den syndromalen Leiden keine überzeugende Beurteilung zulasse. In psychiatrischer Hinsicht fehle es an einer sich an den Indikatoren orientierenden Beurteilung. Eine polydisziplinäre Begutachtung sei erforderlich.
1. 2. Neurologischer Gutachter SMAB: «Verdacht auf ein Chronic Fatigue Syndrom kann unter der neurologischen Kodierung ICD-10 G93.3 nicht nachvollzogen werden»
Obwohl die Versicherte im Verlauf des insgesamt sieben Jahre dauernden Verfahrens sowohl von Gutachtern als auch privat sprichwörtlich auf Herz und Nieren geprüft wird und infolgedessen die privat zugezogene Ärzte regelmässig die Diagnose ME/CFS stellen, können die von der IV beauftragten Gutachter «beim besten Willen» einfach keinen relevanten «objektivierbaren» Gesundheitsschaden feststellen. Beispielhaft hierfür die Aussage des neurologischen Gutachters, der die Versicherte im Rahmen des polydisziplinären Gutachtens bei der SMAB untersuchte:
Der im Bericht des Z._ vom 7. Juni 2012 angegebene Verdacht auf ein Chronic Fatigue Syndrom könne unter der neurologischen Kodierung ICD-10 G93.3 nicht nachvollzogen werden, da unter G93 „sonstige Erkrankungen des Gehirns“ allenfalls ein sekundäres CFS zu verschlüsseln wäre; eine Gehirnerkrankung liege bei der Versicherten jedoch nicht vor.
Liebe Leserschaft, was Sie hier sehen, ist Verweigerung des Schweizer IV-Apparats die offizielle Codierung der WHO von ME/CFS anzuerkennen. Von Fachkentnissen über die Krankheit selbst ganz zu schweigen.
1. 3. Psychiatrischer Gutachter SMAB: «Für die versicherungsmedizinische Beurteilung ist es nicht relevant, ob man zur Diagnose eines CFS oder einer subsyndromalen Neurasthenie gelangt»
Weil ME/CFS laut eidgenössischer Rechtsprechung eine «psychische» Erkrankung ist, sieht sich der psychiatrische SMAB-Gutachter hingegen durchaus befähigt, ME/CFS zu diagostizieren. Zumindest so ein bisschen:
Die geschilderte Symptomatik sei aus psychiatrischer Optik nur milde ausgeprägt, differentialdiagnostisch sei ein chronisches Müdigkeitssyndrom CFS (ICD-10 G93.3) gegenüber einer inkompletten subsyndromalen Neurasthenie-Symptomatik (ICD-10 F48.0) zu differenzieren. Für die versicherungsmedizinische Beurteilung sei es aber nicht relevant, ob man zur Diagnose eines CFS oder einer subsyndromalen Neurasthenie gelange.
Angesichts der Tatsache, dass in diesem Fall wirklich jede nur erdenkliche Diagnose (ausser eben ME/CFS) akribisch anhand von medizinischen Kriterien geprüft und dann ausgeschlossen wurde, schliesslich schlampig festzuhalten, es sei ja dann eigentlich auch egal, ob man nun die richtige Diagnose stelle oder nicht, mutet grotesk an. Wenig überraschend attestiert der Psychiater der Versicherten insgesamt eine hervorragende psychische Gesundheit mit ganz vielen psychischen «Ressourcen» (das ist insofern verquer, weil das Problem der Versicherten ja nicht fehlende psychische, sondern fehlende körperliche Ressourcen sind). Dass die Diagnose ME/CFS überhaupt genannt wird, dürfte wohl vor allem der Tatsache geschuldet sein, dass in einem Gerichtsverfahren den Jurist·innen (welche medizinische Laien sind) keine allzu grosse Diskrepanz mit der Diagnose der von der Versicherten privat konsultierten Ärzt·innen präsentiert werden soll. Ganz nach dem Motto: Schaut mal, wir haben ME/CFS ja «ernst genommen», aber wir konnten halt einfach keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit feststellen.
1. 4. St. Galler Versicherungsgericht: «Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die Beschwerdeführerin vollständig arbeitsfähig ist.»
Das Kalkül seitens der Gutachter geht natürlich auf. Das Gericht hält fest:
Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Einwände der Beschwerdeführerin Zweifel am Gutachten zu wecken vermögen. (…) [Der psychiatrische Sachverständige] hat ein Chronic Fatigue Syndrom diagnostiziert, allerdings ohne diesem Syndrom eine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit zuzumessen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Untersuchungen und die Diagnosestellungen durch die Gutachter nicht umfassend gewesen wären. (…)
Die Berichte von Dr. K._ sind nicht geeignet, Zweifel am Gutachten zu wecken. Dr. K._ hat sich bei der Erhebung der Befunde nämlich vorwiegend auf die Schilderungen der Beschwerdeführerin gestützt. Er hat also, obwohl er kein behandelnder Arzt ist, keine objektive Betrachtungsweise eingenommen, sondern sich bei der Beurteilung von Art und Ausmass einer Gesundheitsbeeinträchtigung massgeblich auf die subjektiven Angaben der Beschwerdeführerin gestützt.
(…) Die Beschwerdeführerin hat schliesslich vorgebracht, es sei durchaus Erfahrungstatsache, dass Gutachter wegen einer fehlenden Objektivierungsmöglichkeit den Schweregrad (wohl: einer Gesundheitsstörung) zulasten des zu Begutachtenden völlig unterschätzten. Lasse sich der Schweregrad diagnostisch nicht bestimmen, zeige sich die Schwere der Störung in ihrer rechtlichen Relevanz erst bei deren funktionellen Auswirkungen. Die Beschwerdeführerin hat dabei verkannt, dass von den Gutachtern nicht nur bei der Diagnosestellung, sondern auch bei der Beurteilung des verbliebenen funktionellen Leistungsvermögens ein objektiver Massstab angesetzt worden ist.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die von der Beschwerdeführerin eingereichten Berichte von Dres. J._ und K. keine Zweifel am Gutachten der SMAB AG L.__ zu wecken vermögen. Die Einschätzung der Sachverständigen, dass die Beschwerdeführerin in der erlernten Tätigkeit als Hochbauzeichnerin vollständig arbeitsfähig sei, überzeugt. Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die Beschwerdeführerin vollständig arbeitsfähig ist.
IV 2019/26
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass die Besetzung des St. Galler Versicherungsgerichts bei diesem Fall die gleiche war, die im trümmligen Urteil IV 2020/209 festgehalten hatte:
Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich.
1. 5. Abklärung der Erwerbsfähigkeit ohne Einbezug der effektiven Erwerbsfähigkeit?
Nun kann man natürlich durchaus der Meinung sein, im obigen Fall der ME/CFS-Patientin sei alles (juristisch) korrekt gelaufen und/oder sie sei tatsächlich nicht in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt, beziehungsweise könne das halt nicht beweisen. Bemerkenswert ist dabei jedoch Folgendes: Zu Beginn des IV-Verfahrens war die Versicherte noch zu 60% angestellt, hatte aber bereits erhebliche gesundheitliche Probleme und konnte auch kein höheres Pensum leisten, weshalb sie sich der IV anmeldete. Im Verlauf des Verfahrens wurde ihr gekündigt. Ob dies aus gesundheitlichen Gründen geschah, ist aus dem Urteil nicht ersichtlich. Es stellt sich die Frage, weshalb der Arbeitgeber, bei dem die Versicherte bereits mehrere Jahre vor dem Ausbruch ihrer Erkrankung tätig war, nicht dazu befragt worden war, wie sich die Erkrankung konkret auf ihre berufliche Funktionsfähigkeit auswirkt.
Im Fall eines anderen Versicherten (Mann! Schweizer! Grenzwächter!) mit einer Fibromyalgie (gilt offenbar nur als bei Frauen als «Hysterie») befand das Bundesgericht BGE im Urteil 9C_148/2012 nämlich, dass die Aussagen des Arbeitgebers sowie des behandelnden Herr Professors (ein behandelnder Arzt ist plötzlich glaubwürdig, huh?) geeignet seien, Zweifel an der von der MEDAS attestierten 100%igen Arbeitsfähigkeit zu wecken:
2.3.1 Aus Stellungnahmen des Arbeitgebers ergibt sich, dass die fachärztlich beschriebene eingeschränkte Belastungstoleranz allein auf den gesundheitlichen Zustand – und nicht auch auf unversicherte Faktoren – zurückzuführen ist. Zwei Schreiben der Eidg. Zollverwaltung (an die IV-Stelle vom 24. Februar 2010 sowie an das kantonale Gericht vom 15. November 2010) ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer klar willens ist, sein Leistungsvermögen erwerblich zu verwerten. Die Oberzolldirektion berichtete, während zweier Arbeitsversuche an verschiedenen Stellen habe sich gezeigt, dass von dem „sehr engagierten und motivierten Mitarbeiter“ eine Leistung von maximal 60 Prozent erwartet werden könne (…)
9C_148/201
Steht eine medizinische Einschätzung der Leistungsfähigkeit in offensichtlicher und erheblicher Diskrepanz zu einer Leistung, wie sie während einer ausführlichen beruflichen Abklärung bei einwandfreiem Arbeitsverhalten/-einsatz des Versicherten effektiv realisiert und gemäss Einschätzung der Berufsfachleute objektiv realisierbar ist, vermag dies ernsthafte Zweifel an den ärztlichen Annahmen zu begründen.
Merkwürdig, wie sowas möglich ist, wenn man nur will. Allerdings scheint es irgendwie vom Wetter, oder dem, was es in der Mensa des Bundesgerichtes zum Mittagessen gab, abzuhängen, wie die Richter·innen entscheiden. Denn im Fall einer Versicherten mit einer diagnostizierten Multiplen Sklerose(!) ist ihre Fatigue halt nur «subjektiv», sowie der Bericht der Eingliedederungsinstitution nichts wert, weil «die Einschätzung der Integrationsfachleute weitgehend auf Aussagen der Beschwerdeführerin beruhten» und überhaupt hat das ABI recht (BGE 9C_718/2019).
Tschuldigung, kleine Abschweifung. Zurück zum Thema:
2. Kantonsgericht Luzern: «Abklärungen haben im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen»
Welche Probleme die ignorante Sturheit des IV-Apparats ME/CFS partout als eine «psychische» Störung sehen zu wollen, bereitet, zeigt sich auch im BGE 8C_272/2019:
Das kantonale Gericht hat erwogen, gestützt auf die aktuelle medizinische Aktenlage könne nicht abschliessend über die Arbeitsfähigkeit der Versicherten befunden werden. Dabei hat es die Vorinstanz abgelehnt, dem Entscheid in psychiatrischer Hinsicht das Gutachten der medaffairs, Basel, vom 13. Juni 2017 zu Grunde zu legen. Dass auf die dort attestierte vollständige Arbeitsunfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten nicht abgestellt werden kann, wird auch von der beschwerdeführenden IV-Stelle nicht bestritten. In der Tat ist es nicht nachvollziehbar, wenn einerseits eine psychische Störung mit Krankheitswert bejaht, gleichzeitig aber auf die Unmöglichkeit einer abschliessenden Diagnostik hingewiesen wird. Damit mag zwar, wie die IV-Stelle geltend macht, im jetzigen Zeitpunkt bezüglich der Frage eines invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden ein Zustand der Beweislosigkeit vorliegen; die Vorinstanz hat aber implizit festgestellt, dass weiterhin eine reale Chance besteht, durch weitere Abklärungsmassnahmen einen Sachverhalt zu ermitteln, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen.
Das Vorinstanz begegnete der Unmöglichkeit die «psychische Störung» zu diagnostizieren mit folgendem Vorschlag:
Das kantonale Gericht hat festgelegt, die von ihm angeordneten Abklärungen hätten im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen.
Es ist offenbar noch nicht bis zum Luzerner Gericht durchgedrungen, dass man ausser Schwerverbrechern heute in der Schweiz niemanden mehr jahrelang in eine psychiatrische Klinik steckt. Zudem verfiele das für’s Budget verantwortliche Gremium bei der zuständigen Krankenkasse bei den Worten «mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung» wohl kollektiv in Schnappatmung.
Das Bundesgericht sieht an sich kein Problem darin, Menschen zwecks Therapie mehrere Jahre in die Psychiatrie zu stecken. Aber als Abklärungsmethode findet man es dann doch etwas zu langwieirig:
Vorliegend mag eine mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung angezeigt sein, um den Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern; weshalb der Sachverhalt allerdings nur durch eine solche geklärt werden könnte, wird vom kantonalen Gericht nicht näher begründet. Insbesondere ist nicht ersichtlich, weshalb nicht bereits durch das Einholen eines Gerichtsgutachtens ein Sachverhalt ermittelt werden könnte, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen. (…) Demnach hat das kantonale Gericht gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz und damit gegen Bundesrecht verstossen, als es nicht ein Gerichtsgutachten, sondern eine Abklärung im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung anordnete. Entsprechend ist die Beschwerde der IV-Stelle in dem Sinne teilweise gutzuheissen, dass die Sache unter Aufhebung des kantonalen Entscheides an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit diese nach Einholen eines Gerichtsgutachten über den Leistungsanspruch der Versicherten neu entscheide.
8C_272/2019
Aufgrund von Informationen aus vertrauenswürdiger Quelle kann ich hier noch Folgendes anmerken: Bei der erneuten Begutachtung wurden mehrere Diagnosen gestellt, darunter auch ME/CFS. Der ME/CFS-Diagnose wurde allerdings (Überraschung!) keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit zugemessen.
3. Schadenminderungs- und Mitwirkungspflicht um jeden Preis – bis hin zur Körperverletzung
Wie oben gezeigt, findet das Bundesgericht, dass eine «mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung» durchaus angezeigt sein könne, um den Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern. Immerhin sind im Gesetz diverse Schadenminderungs- und Mitwirkungspflichten für die Versicherten verankert. Beispielsweise im Artikel 7, IVG:
Art. 7 Pflichten der versicherten Person
Die versicherte Person muss alles ihr Zumutbare unternehmen, um die Dauer und das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG64) zu verringern und den Eintritt einer Invalidität (Art. 8 ATSG) zu verhindern.
Wie sich ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klink bei ME/CFS-Betroffenen auswirken kann, konnte man vergangenen Frühling in der Sendung «Reporter» sehen, in der zwei junge Betroffene mit schwerem ME/CFS portraitiert wurden: Dejan Lauber war in einer psychosomatischen Klinik zur «Behandlung», wo man ihn zu körperlicher Aktivität zwang. Er kam deutlich kränker aus der Klinik, als er hineinging und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen:
Die Szene, in der Laubers Vater erzählt, wie man seinen Sohn zum Laufen zwang, bricht einem das Herz:
Was Bericht nicht erwähnt wird, (aber Dejan Lauber mir persönlich gesagt hat): Es war die IV, die ihm diesen Klinikaufenthalt «nahegelegt» hat.
Eigentlich steht im IVG auch dies:
Art. 7a Zumutbare Massnahmen
Als zumutbar gilt jede Massnahme, die der Eingliederung der versicherten Person dient; ausgenommen sind Massnahmen, die ihrem Gesundheitszustand nicht angemessen sind.
Der Gesetzesartikel wird aber in der Schweizer Versicherungslandschaft offenbar nonchalant ignoriert. Dass sich ihr Gesundheitszustand durch (übertriebene) Aktivierung massiv verschlechtert, erleben nämlich auch Long Covid-Betroffene wie Andrina Fischer. Der Beobachter berichtet:
Acht Wochen soll sie sich Anfang 2022 in den Bergen erholen. Doch Reha heisst nicht Ruhe. Die Krankenkasse definiert eine gewisse Anzahl Stunden, die Fischer besuchen muss. Bewegung, Atmung, Entspannung, Gruppentherapie. Die Rückschläge lassen nicht lange auf sich warten. Immer wieder wird die 53-Jährige aktiviert und angespornt. «Probieren Sie es doch. Das tut Ihnen sicher gut», heisst es.
Quelle: Beobachter, 27. Oktober 2022
Andrina Fischers Zustand verschlechtert sich so stark, dass sie nach der Long-Covid-Reha ins Spital muss. Im Rollstuhl, weil sie kaum noch gehen kann. Diagnose: ME/CFS.
4. Verwaltungsgericht Bern: «Sodann ist mit der Reise vom Wohnort der Beschwerdeführerin nach (…) keine übermässige bzw. unzumutbare körperliche Belastung verbunden»
Dass man die für ME/CFS typische Belastungsintoleranz (PEM = Post-Exertional Malaise) an vielen Orten in der Schweiz schlicht nicht versteht, zeigt auch der nächste Entscheid, diesmal vom Verwaltungsgericht Bern:
3.2 Die Beschwerdeführerin bringt jedoch vor, eine Begutachtung in … sei ihr aufgrund der ihres Erachtens langen Anreise aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar (…)
3.2.2 Dr. med. G.__ hielt im Bericht vom 5. Mai 2020 (act. II 175 S. 3 f.) fest, die Beschwerdeführerin leide unter der chronischen Krankheit ME/CFS. Dies bedeute, dass jegliche Belastung die körperlichen Beschwerden über eine längere Zeit verstärken könne. Aufgrund ihrer Krankheit sei sie auf einen Rollstuhl mit elektrischem Antrieb angewiesen. Sie könne sich nicht länger als 15 Minuten in einer aufrechten Position halten. Jegliche Transporte zu Terminen verursache eine Verschlimmerung der chronischen Krankheit.
Das Gericht ignorierte die Ausführungen des behandelnden Arztes und schloss sich in seinem Urteil dem RAD an, der befunden hatte, es gebe keinen medizinischen Grund, die Begutachtung in einer anderen (näheren) Gutachterstelle durchführen zu lassen:
Sodann ist mit der Reise vom Wohnort der Beschwerdeführerin (…) nach … (Sitz der MEDAS E.) keine übermässige bzw. unzumutbare körperliche Belastung verbunden, so dass für einen Wechsel der Gutachterstelle in medizinischer
200 20 454 IV
Hinsicht kein Anlass besteht. Daran ändern auch die von der Beschwerdeführerin geschilderten und von Dr. med. G. in seinen (im Wesentlichen auf den Angaben der Beschwerdeführerin beruhenden) Berichten wiedergegebenen Beschwerden nichts.
5. ABI: «Erfinderische Mediziner und subjektive Beschwerden, die immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehen werden.»
Auch beim grössten Begutachtungsinstitut der Schweiz, das die meisten Gutachteraufträge durch die IV erhält, verfügt man zum Krankheitsbild ME/CFS über eine eher beschränkte «Expertise»:
In einer Stellungnahme spricht der leitende Gutachter von erfinderischen Medizinern und subjektiven Beschwerden, die «immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehen werden. Gerade die «besonders gefährlich tönende Myalgische Enzephalomyelitis» sei ein sehr ungeeigneter Begriff. Treffender sei die «dem Psychiater zugeordnete Neurasthenie» (Nervenschwäche).
«IV verharmlost schwere Krankheit», Beobachter, 11. Februar 2021
Beim im «Beobachter» portraitierten ME/CFS-Betroffenen handelt es sich um Rudolf Blatter, der früher als Personenschützer des Bundesrates gearbeitet hatte. Dass Blatter sich zu wehren wusste und dabei auch die mediale Öffentlichkeit suchte (und bekam) hat möglicherweise auch dazu beigetragen, dass die IV ein zweites Gutachten erstellen liess. Während das erste vom ABI erstellte Gutachten Blatter noch eine psychiatrische «Nervenschwäche» und eine 90%-ige Arbeitsfähigkeit attestierte, kam das zweite Gutachten von der Rehaklinik Bellikon zum Schluss, dass Blatter aufgrund vom ME/CFS zu 87% arbeitsunfähig sei. Die IV-Stelle Bern sprach ihm infolgedessen eine ganze Rente zu. Blatter blieb damit erspart, was viele ME/CFS-Betroffene sich finanziell und kräftemässig nicht leisten können und in den meisten Fällen auch nicht von Erfolg gekrönt ist: Der langwierige Weg vor Gericht.
6. Florian Steinbacher: «Wer Anspruch auf eine Leistung hat, der bekommt die Leistung auch.»
Rudolf Blatters (damals noch nicht entschiedener) Fall wurde auch in der Rundschau-Sendung vom 30. März 2022 zum Thema «Long Covid» vorgestellt. Blatter appellierte an die Politik und sagte, wie die IV-Verfahren bei solchen Krankheitsbildern sind: Unwürdig.
Der Kritik der Betroffenen, dass die IV mit dem Krankheitsbild zu wenig vertraut sei, meinte der Präsident der IV-Stellen-Konferenz Florian Steinbacher in der selben Sendung: Falls man sich von der IV unfair behandelt fühle, könne man sich ja mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren:
Laut der Statistik des BSV erhielten von den knapp 1800 Personen, die sich 2021 aufgrund von «Long Covid» bei der IV anmeldeten 62% keinerlei Leistungen. Diejenigen, die Leistungen erhielten, bekamen meist eine Eingliederungsmassnahme zugesprochen. Nur 3% der Angemeldeten sprach die IV eine Rente zu. Das BSV schreibt:
Der hohe Anteil Anmeldungen, die nicht in eine Leistungszusprache münden und der hohe Anteil der Eingliederungsmassnahmen (gegenüber den Rentenzusprachen) unter den Leistungszusprachen weisen darauf hin, dass die Erwerbsfähigkeit der von Long-Covid betroffenen IV-Versicherten sich in sehr vielen Fällen dank guter medizinischer Betreuung und gegebenenfalls mit Unterstützung der IV bei der Eingliederung deutlich verbessert oder wiederhergestellt werden kann – womit keine Rente notwendig ist.
Meint das BSV mit «guter medizinischer Betreuung» die Rehaufenthalte, aus denen die Betroffenen im Rollstuhl rauskommen? Und die Erwerbsfähigkeit wird «wiederhergestellt» durch die hochkompetenten IV-Gutachter, die einfach «nichts» finden können, was eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit «begründen» würde?
Dazu nochmal Florian Steinbacher:
Florian Steinbacher (49), Präsident der Konferenz der kantonalen IV-Stellen, kann die Kritik der Long-Covid-Betroffenen nicht nachvollziehen. Der Vorwurf, sie würden zurückgewiesen, sei «Unsinn», sagt er. «Wer Anspruch auf eine Leistung hat, der bekommt die Leistung auch.»
Quelle: Blick, 15.3.2022
Ich übersetze die Aussage von Jurist Steinbacher mal für die mit der IV-Perfidie nicht ganz so vertrauten Leser·innen: Wer keine Leistung bekommt, hat halt eben einfach keinen «Anspruch» darauf. Denn für den Anspruch auf eine IV-Rente müssen IV-Gutachter ja erstmal eine Diagnose stellen, sowie nachvollziehbar darlegen, inwiefern die Erkrankung die Erwerbsfähigkeit des bzw. der Antragstellenden erheblich einschränkt. Findet der Gutachter «nichts», hat die Person «keinen Anspruch». Ist sie mit damit nicht einverstanden, kann sie sich aber laut Steinbacher (siehe weiter oben) «mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren». Abgesehen, davon, dass sowohl eine anwaltliche Vertretung nicht gratis und auch das Verfahren an sich kostenpflichtig ist, stützen sich die Gerichte in der stark überwiegenden Mehrheit der Fälle auf die «Expertise» der von Natur aus kompetenten und objektiven Gutachter ab und begegnen Einwänden der Versicherten (wie wir im ersten Beispiel sahen) gerne mal folgendermassen:
Die Beschwerdeführerin hat dabei verkannt, dass von den Gutachtern nicht nur bei der Diagnosestellung, sondern auch bei der Beurteilung des verbliebenen funktionellen Leistungsvermögens ein objektiver Massstab angesetzt worden ist. (…) Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die/der Beschwerdeführer/in vollständig arbeitsfähig ist.
IV 2019/26
Die Betroffenen können natürlich schon versuchen sich zu wehren, die Wahrscheinlichkeit ist einfach sehr hoch, dass das illustre Ringelreihen aus IV-Gutachtern, IV-Stellen, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und den Gerichten in seiner bizarren Stringenz eine weitere kafkaeske Pirouette dreht.
Übrigens: Florian Steinbacher, aktuell noch Leiter der IV-Stelle für Versicherte im Ausland, wird neuer Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen und Leiter des Geschäftsfelds Invalidenversicherung. Sprich: Steinbacher ist ab dem 1. Dezember 2022 der neue IV-Chef.