Liebe Leser·innen, ich hoffe, Sie haben sich gut erholt von der wilden Achterbahnfahrt durch die Schweizer Begutachtungs-, IV- und Gerichtspraxis zu ME/CFS. Im nun folgenden und letzten Artikel der Serie werden einige Resultate aus den beiden Studien präsentiert, die Bundesrat Berset nach der immer lauter werdenden Kritik am Gutachterwesen sowie der (mangelnden) Aufsichtstätigkeit des BSV 2019 in Auftrag gab. Als inoffizielles Resultat wurde dabei ersichtlich, dass der ganze IV-Apparat mit einer grossen Portion Selbstgerechtigkeit ausgestattet ist, die aufgrund der offiziellen Untersuchungsresultate schlicht nicht gerechtfertigt ist.
Evaluation zeigt diverse Missstände auf
Die beiden im Herbst 2020 veröffentlichten Studien «Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)» und «Analyse der Aufsicht über die IV-Stellen (2020)» zeigten diverse Missstände im Bereich des Gutacherwesens wie auch der Aufsichstätigkeit des BSV auf. Exemplarisch dazu:
Verschiedentlich wird in den Gesprächen zudem darauf hingewiesen, dass die Vergabe als Thema nicht so zentral wäre, wenn die Qualität der Gutachten stimmen würde. So wird auch erwähnt, dass die Zufallsvergabe für alle Gutachten eher als Überbrückungssystem gesehen werden könnte, bis man die Qualität der Gutachten etwa auf einem gleichen Niveau hätte. Davon sei man aber weit entfernt. (…) Zudem wird angemerkt, dass eine Zufallsauswahl keine Qualitätsverbesserung bringe, sondern lediglich die Chance, auf eine/-n schlechte/-n Gutachter/-in zu stossen, gleich verteile.
Die Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)
Aus derselben Studie:
So stellte Niklaus Gyr (2010) im Rahmen einer Qualitätserhebungsstudie fest, dass 22 Prozent der analysierten Gutachten qualitativ ungenügend waren, wobei die wesentlichen Mängel nicht nur in der versicherungsmedizinischen Diskussion und in einer insuffizienten Begründung der Schlussfolgerungen lagen, sondern auch aus medizinisch-handwerklichen Fehlern wie einer unvollständigen Befunderhebung oder gar dem Fehlen von klinischen Untersuchungen bestanden.
Das St. Galler Versicherungsgericht behauptet ja aber:
Mit unsorgfältigen, tendenziösen oder „versichertenfeindlichen“ Gutachten würde eine MEDAS einer IV-Stelle einen Bärendienst erweisen, da ein solches Gutachten keine taugliche Beweisgrundlage darstellen würde und sich die IV-Stelle folglich gezwungen sähe, eine Begutachtung durch eine andere MEDAS in Auftrag zu geben.
Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.
Dazu nochmal aus der oben bereits zitierten Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung:
Unklare Rolle des BSV bezüglich Qualitätssicherung: Von verschiedener Seite wird mit Nachdruck betont, dass das momentane System bei schwerwiegenden Fällen versagt habe. Eine Hauptkritik, die bereits bei der Zulassung angesprochen wurde, ist das fehlende konsequente Durchgreifen des BSV bei massivem Fehlverhalten gewisser Gutachterstellen. Das Problem wird (auch versicherungsintern) so beschrieben, dass sich bei Qualitätsmängeln bei polydisziplinären Gutachten niemand richtig zuständig fühle. Nicht zuletzt seitens der IV-Stellen wird angemerkt, dass es keine Stelle gebe, wo man solche Mängel rapportieren könne.
Und:
Inhaltlich handle es sich bei der Vereinbarung zwischen BSV und Gutachterstellen primär um eine Art Absichtserklärung der Gutachterstellen, die geforderten Voraussetzungen zu garantieren. Der Vertrag sichere eine gewisse Qualität bezüglich Gutchtensstruktur, Weiterbildung, Struktur der Räumlichkeiten und bezüglich der Prozesse wie der Termineinhaltung. Die Vereinbarung biete jedoch keine adäquate Grundlage für eine systematische Qualitätssicherung in Bezug auf die Ergebnisqualität der Gutachten. Erwähnt wird verschiedentlich der Genfer Corela-Fall.* Dieser habe gezeigt, dass es selbst bei gefälschten Gutachten extrem lange gedauert habe, bis das BSV aktiv geworden sei. Diese Kritik wird auch versicherungsintern geäussert. Obwohl eine IV-Stelle selbst diese Gutachterstelle (Corela) bereits Jahre zuvor von ihrer Liste für mono- und bidisziplinäre Gutachten gestrichen habe, sei sie aufgrund der Zufallszuweisung im Rahmen der polydisziplinären Gutachten gezwungen gewesen, diese wieder zu «akzeptieren».
*Im Fall der Genfer Klinik Corela sah es das Bundesgericht als erwiesen an, dass der Leiter des Instituts eigenmächtig Gutachten angepasst und Diagnosen geändert hat – zuungunsten der Versicherten (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember 2017 (2C_32/2017)).
Insgesamt zeigt die Evaluation in vielerlei Hinsicht ein komplett anderes Bild des ganzen Systems als jenes flauschige Traumbild, welches das St. Galler Versicherungsgericht zeichnete. Frappierend ist hier nicht nur die grosse Differenz zwischen dem, was die Evaluation aufzeigt und dem, was das Gericht behauptete, sondern auch mit welcher Selbstsicherheit und Überheblichkeit das Gericht ein – offensichtlich – komplett falsches Bild der angeblichen «Realität» zeichnete. Der Begriff «Gaslighting» böte sich hier an.
Laissez-faire für Gutachter, strenge Gesetze und Sanktionen für Versicherte
Irritierend bei der Lektüre der Evaluation sind nicht nur vielseitigen Mängel im Gutachterwesen und die quasi völlig fehlende Aufsicht. Geradezu verstörend ist auch, mit welchem unendlichen Vertrauen bisher davon ausgegangen wurde, dass Gutachter, IV-Stellen und Gerichte ohne ernstzunehmende Kontrollmechanismen selbstverständlich seriös, unabhängig und unparteiisch ihren Aufgaben nachkommen würden. Im krassen Gegensatz dazu steht das hochgradige Misstrauen gegenüber den Versicherten, das sich in den letzten Jahren in einer immer harscheren Gesetzgebung manifestierte, welche alle Versicherten als potentielle Betrüger·innen behandelt. Dieses institutionalisierte Misstrauen wurde den Betroffenen auch noch als «Wohltat» verkauft, für die diese sogar dankbar sein müssten. So äusserste sich die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog in der Diskussion zur «Gesetzlichen Grundlage für die Überwachung von Versicherten» während der Frühjahrssession 2018 folgendermassen:
Kollegin Schenker, denken Sie nicht auch, dass Invalide sogar dankbar sind, wenn IV-Betrüger entdeckt werden?
Silvia Schenker (SP/BS) antwortete:
Ich habe mit sehr vielen Betroffenen gesprochen. Ich habe sehr viele Rückmeldungen erhalten. Ich kann Ihnen versichern: Bezügerinnen und Bezüger von Invalidenrenten sind nicht dankbar dafür, dass man ihnen Privatdetektive auf den Hals jagt.
Schenkers Einwand verhallte ungehört. Auch die Aargauer «Mitte»-Nationalrätin Ruth Humbel bekäftigtige nach der Verabschiedung des Observations-Gesetzes in der Luzerner Zeitung:
Gerade zum Schutz der Menschen, welche auf eine Rente angewiesen sind, braucht es Instrumente zur Aufdeckung von unrechtmässigem Leistungsbezug. Eine konsequente Ahndung von Missbrauch schützt vor Generalverdacht und Stigmatisierung. Wer Missbrauch schützt, tut Menschen mit Behinderungen sowie den IV/UV-Rentnern keinen Gefallen.
Merkwürdigerweise hörte man aus dem Mitte-Rechts-Lager nie ebenso entschiedene Forderungen für eine konsequente Kontrolle und Überwachung von IV-Gutachtern, weil *checks notes* «eine konsequente Ahndung von Missbrauch vor Generalverdacht und Stigmatisierung schütze.» Im Gegenteil: Sobald bei den Gutachtern auch nur minimale Massnahmen zur mehr Transparenz vorgesehen werden (z.B. die Veröffentlichung einer Liste der Gutachter und ihr jeweils mit der IV-Begutachtung erzieltes Einkommen) lamentiert ein Anwalt im Jusletter unter dem Titel «Der «gläserne Gutachter»? :
Vorliegend wird insbesondere bezweifelt, dass sich die öffentliche Liste im Allgemeinen und die Veröffentlichung der Gesamtvergütung im Besonderen mit einem rechtsgenügenden öffentlichen Interesse rechtfertigen lassen. Ganz im Gegenteil giessen diese ein Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber den Sachverständigen in rechtliche Form, ohne dass sich die veröffentlichten Informationen von den begutachteten Personen in irgendeiner Art und Weise rechtlich verwerten liessen.
Gregori Werder, Der «gläserne Gutachter»?, in: Jusletter 7. November 2022
Man möchte Herrn Werder gerne mal all die Gesetzestexte vorlegen, in denen dass Misstrauen gegenüber den Versicherten in rechtliche Form gegossen worden ist. Wie würde er sich wohl erst empören, wenn die Einstellung der Vergabe von Gutachteraufträgen bei blossem Verdacht auf unseriöse Gutachtertätigkeit ebenso rechtlich festgelegt worden wäre, wie in Art. 52a ATSG?
Art. 52a42 Vorsorgliche Einstellung von Leistungen
Der Versicherungsträger kann die Ausrichtung von Leistungen vorsorglich einstellen, wenn die versicherte Person die Meldepflicht nach Artikel 31 Absatz 1 verletzt hat, einer Lebens- oder Zivilstandskontrolle nicht fristgerecht nachgekommen ist oder der begründete Verdacht besteht, dass sie die Leistungen unrechtmässig erwirkt.
Doch während Versicherten die Leistungen sofort «vorsorglich» entzogen werden können, wenn auch nur der Verdacht auf unrechtmässigen Leistungsbezug besteht, können Gutachterfirmen, gegen die bereits mehrere Strafverfahren laufen, völlig unbehelligt weiterhin Gutachten erstellen. Die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber fragte deshalb in der Herbstsession 2022:
Die Klagen rund um die Firma PMEDA AG, die wenig fundierte IV-Gutachten erstellen und wider ärztlichen Zeugnissen Arbeitsfähigkeit attestieren soll, wollen nicht enden. Verschiedene Strafanzeigen sind hängig.
Worauf baut das Vertrauen des Bundesrates bzw. der IV, dass weiterhin Gutachten durch die PMEDA AG erstellt werden können und warum werden die Aufträge nicht wenigstens so lange sistiert, bis die Strafanzeigen behandelt sind?
Und der Bundesrat antwortete:
(…) Zwischenzeitlich ist eine Sistierung der Zuteilung der Aufträge nicht angezeigt, insbesondere da bei laufenden Strafverfahren die Unschuldsvermutung gilt.
Undenkbar auch, dass ein Gutachterinstitut bei offensichtlich unrichtigen oder gar gefälschten Gutachten die Kosten für zusätzliche Gutachten übernehmen müsste, analog Art. 45 ATSG:
Art. 45 Kosten der Abklärung
Hat eine versicherte Person wissentlich mit unwahren Angaben oder in anderer rechtswidriger Weise eine Versicherungsleistung erwirkt oder zu erwirken versucht, so kann ihr der Versicherungsträger die Mehrkosten auferlegen, die ihm durch den Beizug von Spezialistinnen und Spezialisten, die zur Bekämpfung des unrechtmässigen Leistungsbezugs mit der Durchführung der Observationen beauftragt wurden, entstanden sind
Als unumstösslicher Grundsatz im IV-Apparat scheint zu gelten: Sogar bei absolut offensichtlichem Fehlverhalten hat und ist der Gutachter immer im Recht und beim kleinsten auch nur eventuell möglichen Fehlverhalten ist die versicherte Person immer im Unrecht und gerne auch mal präventiv zu massregeln.
Wird jetzt alles besser?
Im Rahmen der Weiterentwicklung zur IV (In Kraft seit Anfang 2022) wurden verschiedene Massnahmen eingeleitet, die den Kritikpunkten rund um die Begutachtung begegnen sollten. Unter anderem wurde das Zufallsprinzip, das bisher nur bei polydisziplininären Gutachten zu Anwendung kam, auf bidisziplininäre Gutachten ausgeweitet. Das Bundesamt für Sozialversicherungen schreibt:
Die Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert – zusammen mit den weiteren Vorgaben nach BGE 137 V 210 (E. 2.4 237) – generelle, aus den Rahmenbedingungen des Gutachterwesens fliessende Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen.
Neuerungen bei medizinischen Begutachtungen in den Sozialversicherungen, CHSS, Juni 2022
Wenn man das ganz genau liest, kann man erkennen, dass das St. Galler Versicherungsgericht gar nicht so falsch liegt, wenn es festhält:
Das Zufallsprinzip leistet nämlich entgegen anderslautender Behauptungen keinen Beitrag zur Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Sachverständigen (…)».
Denn das BSV schreibt im oben verlinkten Artikel NICHT, dass durch das Zufallsprinzip die Unabhängigkeit gewährleistet werde, sondern nur, dass es Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen «neutralsiere». Also geht um offenbar viel eher um eine Art Kosmetik mit Beruhigungseffekt, denn eine tatsächliche Verbesserung.
Ob die anderen Massnahmen – beispielsweise die Schaffung einer «Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung» mehr als blosse Kosmetik darstellen, wird sich noch zeigen müssen. Es ist allerdings fraglich, ob sich ein so schwerfälliges, marodes und gleichzeitig zutiefst von seiner eigenen Unfehlbarkeit überzeugtes System sich wirklich grundlegend von innen erneuern kann.
Apropos «Unfehlbarkeit»…
Noch ein kurzer Nachtrag zum letzten Artikel über den kafkaesken Umgang des IV-Apparates mit ME/CFS-Betroffenen: Der deutsche Psychiater, Neurologe und Gutachter Wolfgang Hausotter, der unzählige Standardwerke zur Begutachtung verfasst hat (die übrigens gerne von beweisfetischistischen Jurist·innen zitiert werden), schrieb anno 2015 in einem äusserst tendenziösen Artikel «zur Begutachtung des chronischen Erschöpfungssyndroms»:
Merkwürdig ist das Verhalten der Selbsthilfegruppen, die unbeirrbar an einem somatischen Konzept festhalten (…). Das vehemente Festhalten an einer körperlichen Genese trotz wiederholter Versicherungen, dass keine organische Ursache existiert, entspricht wiederum den definitorischen Kriterien einer somatoformen Störung.
Man ist geneigt, Herrn Hausotter den Zirkelschluss in Bronze zu verleihen.
In einem kürzlich veröffentlichen Fachartikel kommt Hausotter (wenn auch spürbar widerwillig) nun aber zu folgendem Fazit:
Das seit Jahrzehnten bekannte und umstrittene Chronic Fatigue Syndrome (…) hat seit zwei Jahren im Rahmen der COVID-19-Erkrankung außerordentliche Parallelen im Long- und Post-COVID-Syndrom gefunden. Frühere Diskussionen über eine mögliche Virusgenese sind dadurch wieder aktuell geworden, sodass die Annahme einer rein seelischen Störung nicht mehr überzeugt (…)
Das Ganze wäre eine amüsante Anekdote, die man mit einem saloppen «Auch Gutachter können sich mal irren» beschliessen könnte, wenn Hausotter nicht über Jahrzehnte hinweg durch seine unzähligen Publikationen quasi unverrückbare Grundsteine gelegt hätte, auf denen der schweizerische IV-Apparat sein lustiges Ringelreihen tanzt. Beispielsweise auch die vielfach von Gerichten zitierten Glaubenssätze über «grundsätzlich» voreingenommene behandelnde Ärzt·innen und die ebenso «grundsätzlich» über alle Zweifel erhabene Objektivität der Gutachter:
Zur Rolle des Gutachters ist auszuführen, daß auch der angestellte, hauptamtliche Gutachter im Verwaltungsverfahren (…) nicht weisungsgebunden und nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist. Von ihm sind keine Gefälligkeitsgutachten zu erwarten, weder für seinen Auftraggeber noch für den Probanden.
Wolfgang Hausotter, Ärztliche Gutachten: Eine elementare ärztliche Aufgabe, Deutsches Ärzteblatt, 1999
Wenn Gutachter Hausotter also sich selbst und seinen Berufskolleg·innen uneingeschränkte «Objektivität» attestiert, ist diese Selbstzuschreibung natürlich nicht von der eigenen Subjektivität («eigenes Gewissen») beeinflusst, weil Gutachter kraft ihrer «naturgegeben Objektivität» auch ihr eigene gutachterliche Tätigkeit völlig objektiv als «objektiv» beurteilen können. Die behandelnden Ärzt·innen hingegen, die verfügen einfach nicht über diese magische gutachterliche Fähigkeit, sich selbst ganz objektiv als «objektiv» zu deklarieren und gelten deshalb als unumstösslich in ihrer Subjektivität verhaftet.
Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden. Mir ist schon wieder ein bisschen trümmlig.