Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern · Update 2023: Das BSV mag offenbar Märchen [2/3]

Wie im letzten Artikel ausgeführt, veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen im Dezember 2022 den «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020» und hielt in der zugehörigen Medienmitteilung fest:

Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.

Detailliertere Codierung: kein Mehrwert für Versicherte und IV, Medienmitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherungen, 09.12.2022

Die «Beweisführung» mittels derer das BSV im Bericht zum Schluss kommt, dass Versicherte mit psychischen Erkrankungen unbedingt weiterhin mittels der aus den 60er Jahren stammenden Codierung erfasst werden müssen, mäandert zwischen «abenteuerlich», «Arbeitsverweigerung» und «absurd».

Im Dezember 2022 habe ich deshalb einige Fragen ans BSV gerichtet, worauf ich im Februar 2023 die Antworten erhalten habe. Im Folgenden der erste Teil dieser Fragen, die Antwort des BSV, sowie mein jeweiliger Kommentar dazu:

1. Hält es das BSV für angemessen, im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) die Bezeichnungen «Idiotie» und «Psychopathie» zu verwenden?

BSV: Der Begriff Idiotie ist in der Tat veraltet. Im Rahmen einer kommenden Überarbeitung prüfen wir die Angemessenheit der Begriffe. Diese Arbeiten mussten angesichts der prioritären Gesetzesrevision zurückgestellt werden.

Kommentar: Zum Zeitpunkt der Einreichung des Postulates «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» im Juni 2020 wurde der Begriff «Idiotie» in den damals gültigen «Codes zur Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS-C)» an zwei Stellen verwendet:

Im Kapitel über die psychischen Störungen («XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen») als Querverweis:
649  Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen), Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI

Und am Zielort des Verweises («XXI. Angeborene Leiden ausserhalb des Anhangs GgV):
502 Oligophrenie (Idiotie, Imbezillität, Debilität, siehe auch Ziff. 403).

Was ich zur Zeit der Fragestellung an das BSV im Dezember 2022 nicht realisierte: Seit der Einreichung des Postulates zur differenzierten Codierung im Jahr 2020 ist die «Idiotie» auf wundersame Weise aus dem Code 502 verschwunden und hat der «Intelligenzminderung» Platz gemacht. Im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) sieht der Code 502 nämlich so aus:

502 Angeborene Intelligenzminderung

Im Kapitel über die psychischen Krankheiten ist der Verweis auf die Idiotie» aber immer noch vorhanden. Der Forderung von Inclusion Handicap für zeitgemässe Begriffe für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde also an entsprechender Stelle offenbar ohne grossen Aufhebens Folge geleistet (womit sich das «Interesse» von Inclusion Handicap am Vorstoss dann auch erledigt hatte), während das ganze Psychokapitel nicht angefasst wird und buchstabengetreu in den 60er Jahren verhaftet bleiben muss. Und dies, egal, wie absurd das im Detail ist, wie der Kommentar zur nächsten Frage zeigt:

2. Welche medizinischen Diagnosen werden unter dem Begriff bzw. Code «Psychopathie» kategorisiert?

BSV: Definitionsgemäss wird unter einer Psychopathie eine schwere Form der antisozialen (od. dissozialen) Persönlichkeitsstörung im Sinne eines weitgehenden oder völligen Fehlens von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, verstanden. In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten.

Kommentar: Das hat der/die BSV-Mitarbeitende sehr schön aus Wikipedia abgeschrieben. Gibt ein Sternli! Aber hat es beim Abschreiben von «In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten» nicht zumindest ein bisschen geklingelt? Es ist zudem äusserst skurril, dass für eine einzelne ganz spezifische Form der Persönlichkeitsstörung die (veraltete und heute oft als Schimpfwort benutzte) Kategorie «Psychopathie» existiert, während alle anderen Persönlichkeitsstörungen irgendwo im grossen Nirvana der Sammelkategorien «646» (Psychogene oder milieureaktive Störungen) oder «649» (Übrige geistige und charakterliche Störungen) verschwinden.

3. Die psychischen Gebrechen werden mit neun der knapp 300 Gebrechenscodes erfasst. Eine detaillierte Codierung der psychischen Gebrechen böte laut Bericht keinen Mehrwert. Welchen Mehrwert bietet die detaillierte Erfassung der körperlichen Gebrechen mit den restlichen ungefähr 290 Gebrechenscodes?

BSV: Diese Codierung ist zu weiten Strecken historisch bedingt. In den letzten Jahren wurden auch die Codierungen bei körperlichen Gebrechen nicht erweitert. Seit die IV als Eingliederungsversicherung positioniert worden ist, haben die Diagnosen ihren Wert nur im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen. Wesentlich ist – wie im Postulatsbericht hervorgehoben – die Sicht auf das Potenzial der versicherten Personen.

Kommentar: Die Aufgabe einer IV-Statistik liegt nicht darin, das «Potential» der Leistungsbeziehenden abzubilden, sondern die Gründe für deren Leistungsbezug. Und diese lassen sich zwar nicht direkt, aber zumindest indirekt auf eine zugrundeliegende Erkrankung/Behinderung zurückführen.

Aktuell will die Öffentlichkeit vom BSV auch nicht wissen, «dass Long Covid-Betroffene ganz viel Potential haben», sie will wissen, wieviele Betroffene sich bei der IV anmelden mussten und wieviele davon schliesslich Leistungen erhalten. Als ich Anfang 2021 beim BSV nachfragte, sah man noch keine Notwendigkeit für Long Covid einen spezifischen Code einzuführen. Erst aufgrund des (ebenfalls von mir angeregten) parlamentarischen Vorstosses «Monitoring IV-Beziehende mit Long Covid» im März 2021 bequemte sich die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) schliesslich dazu, die entsprechenden Anmeldungen und Leistungszusprachen zumindest mittels einer Excel-Tabelle(!) zu erfassen. Ohne eindeutige Codierung ist die Nachverfolgbarkeit der Wege, den die Versicherten durch das IV-System nehmen, aber nicht gewährleistet. Der Witz ist: Codiert werden die Versicherten im IV-System natürlich trotzdem, einfach mit irgendeinem Code. Und dieser Code dürfte im Fall von Long Covid nicht selten der «irgendwas psychisches halt» Code 646 sein. Statistische Verzerrungen sind also vorprogrammiert.

Und was das «historisch bedingt» betrifft: Diese Argumentationslinie kennen wir vom BSV bereits von anderer Stelle. Interessant daran ist einfach, dass sich dieses «historisch bedingt» rein zufällig immer zum Nachteil von Versicherten mit psychischen Erkrankungen auswirkt (die mittlerweile immerhin 50% der IV-Beziehenden ausmachen). Und diese Nachteile lassen sich zudem leider leider niemals beheben, wie auch dieser Ausschnitt aus einem WOZ-Artikel vom letzten Herbst zeigt:

Die Blindenorganisationen erhalten pro Jahr 20 Millionen Franken, das Geld wird über den Dachverband SZBlind verteilt. Nur Pro Infirmis – die Dachorganisation, die alle Menschen mit Beeinträchtigungen vertritt – erhält mehr. Pro Mente Sana, der Dachverband, der sich spezifisch um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmert, erhält jedoch nur 2,7 Millionen Franken. Warum das so ist, lässt sich kaum ergründen. «Diese Verteilung ist auch historisch bedingt und kann deshalb nicht angepasst werden, weil die aktuellen Rechtsgrundlagen momentan keine entsprechende (andere) Verteilung vorsehen. Wie damals die genaue Zuteilung erfolgte, kann ich Ihnen nicht sagen», teilte der Verantwortliche beim Bundesamt für Sozialversicherungen der WOZ mit. Die Gelder sind enorm wichtig, aber es fragt sich, ob der Verteilschlüssel noch zeitgemäss ist.

Man ist geneigt zu fragen: Ist das eigentlich noch ein Bundesamt oder schon ein historisches Museum?

4. Was spricht dagegen, die neun bestehenden psychischen Gebrechenscodizes mit den zehn ICD Kategorien F0 – F9 (ohne deren Unterkategorien) zu ersetzen? Das wäre keine grosse Veränderung, aber die Zuteilung aufgrund der Hauptdiagnose nach ICD wäre einfach, zweckmässig und zumindest ein bisschen präziser.

BSV: Im Rahmen der Arbeiten am Postulatsbericht ist die Frage tatsächlich bereits abgeklärt worden. Wie oben beschrieben und im Postulatsbericht hervorgehoben, fokussieren die IV-Stellen auf das Potenzial der versicherten Personen. Die Diagnosen haben ihren Wert im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen der versicherungstechnischen Voraussetzungen. Sobald entschieden ist, dass eine versicherte Person Anrecht auf Leistungen der IV hat, konzentrieren sich die IV-Stellen auf das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person. Vor diesem Hintergrund haben wir darauf verzichtet, die Codierung auch auf einer höheren Aggregationsstufe anzupassen, da sie in der Folge keinen echten Mehrwert für die Arbeit der IVST bieten würde.

Kommentar: Auf der Webseite der IV-Stelle Bern ist unter «Ein guter Arztbericht enthält folgende Punkte» auch folgender Punkt aufgeführt:

Diagnose nach ICD 10, nachvollziehbar darlegen, auf welchen Befunden die Diagnose gründet

Die Diagnosen werden im IV-Verfahren also sowieso erhoben, warum diese Diagnosen(n) nicht direkt im System erfasst werden, sondern nach einem 60 Jahre alten Codierungs-System «umgedeutet» und unkenntlich gemacht werden, ist nicht nachvollziehbar. Das BSV kann noch so oft wiederholen, dass die IV-Stellen «auf das Potential fokussieren», das «Eintrittsticket» für IV-Leistungen bleibt trotzdem die Diagnose. Ohne Diagnose gibt es nämlich keine Leistungen. Was übrigens auch der Leiter der IV-Stelle Graubünden Thomas Pfiffner kürzlich in der Radiosendung Fokus mit dem Titel «Ist Long Covid ein Fall für die IV?» zugeben musste.

5. Im Bericht werden die RELY-Studien erwähnt, wonach die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Personen mit psychischen Einschränkungen mit Unsicherheiten behaftet sei. Ist dem BSV bekannt, welche Reliabilität Gutachter bei somatischen Einschränkungen erreichen?

BSV: Es liegen keine Forschungsarbeiten zu dieser Thematik vor, so dass das BSV über keine entsprechenden Daten verfügt.

Kommentar: Die RELY-Studien des Universitätsspitals Basel zeigten auf, dass verschiedene psychiatrische Gutachter·innen die Erwerbsfähigkeit bei denselben Fällen/Personen mit psychischen Erkrankungen teils sehr unterschiedliche einschätzten. Die Studien werden gerne herangezogen, um mehr oder weniger subtil aufzuzeigen, dass bei psychischen Erkrankungen weder die Betroffenen, noch die Gutachter·innen, noch die Diagnosen verlässlich, klar oder glaubwürdig sind. Oder wie hier vom BSV immer wieder betont wird: «Psychiatrische Diagnosen sind sowieso nicht aussagekräftig.»

Oft wird auch (beispielsweise von beweisfetischistischen Juristen) ex- oder implizit der Vergleich zu körperlichen Krankheiten gezogen, bei denen sich die Erwerbsfähigkeit angeblich völlig klar und quasi «automatisch» aus den Befunden (ergo der Diagnose) ergeben würde. Diese Behauptung wird aber interessanterweise nie mit entsprechenden Studien über die Reliabiliät von Gutachten bei körperlichen Erkrankungen untermauert. Es wird einfach behauptet, dass es so ist. Und selbst wenn die RELY-Studien auch die Begutachtung von körperlichen Krankheiten einbezogen hätten und dabei eine grössere Übereinstimmung zwischen den Gutachter·innen ausmachen hätten können als bei den psychischen Erkrankungen, hätte sich die Frage gestellt, ob die von den Gutachter·innen in Übereinstimmung attestierten Erwerbsfähigkeiten den «tatsächlichen» Erwerbsfähigkeiten entsprechen, oder ob sie nicht vielmehr jenen Grad der Erwerbs(un)fähigkeit abbilden, von dem Betroffene, Gutachter·innen und die Öffentlichkeit stillschweigend übereingekommen sind, dass sie im Fall der sichtbaren und offensichtlichen körperlichen Behinderung «angemessen» ist.