«Arbeiten mit psychischer Erkrankung» – Ein Leitfaden für Betroffene

Wer aufgrund einer psychischen Erkrankung vorübergehend oder längerfristig in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist, sieht sich mit vielen Fragen rechtlicher, sozialer, aber auch persönlicher Art konfrontiert. Ich habe deshalb den Leitfaden «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» geschrieben. Er wendet sich an Betroffene in unterschiedlichen Lebenssituationen. Sei es, dass man nach einer Krise (wie einem Burnout) an den Arbeitsplatz zurückkehrt oder trotz/mit einer IV-Rente (wieder) in einem kleinen Pensum arbeiten möchte. Behandelt werden unter anderem Fragen wie:

  • Kann mir gekündigt werden, während ich krankgeschrieben bin?
  • Soll ich mich am Arbeitsplatz outen?
  • Wie kann der Arbeitsplatz an meine Bedürfnisse und Fähigkeiten angepasst werden?
  • Wie kann mich mein/e Therapeut*in bei Arbeitsschwierigkeiten unterstützen?
  • Welche Auswirkungen hat eine Erwerbstätigkeit auf die IV-Rente/Ergänzungsleistungen?

Es werden zudem verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten und die Eingliederungsangebote der IV vorgestellt. Ergänzt wird das Ganze mit Statements von Betroffenen und Expert*innen.

Ich habe den Leitfaden auf privater Basis initiiert und als Pilotprojekt in zwei Versionen für die Kantone St. Gallen und Basel-Stadt mithilfe finanzieller Unterstützung der beiden Kantone und der Pro Mente Sana realisiert. Fachlich unterstützt wurde das Projekt von den Stiftungen Dreischiibe (SG) und Rheinleben (BS), der Psychiatrie St. Gallen Nord, dem Kompetenzzentrum WorkMed (BL) der Pro Mente Sana sowie von Peers (Expert*innen aus Erfahrung). Die beiden Versionen unterscheiden sich hauptsächlich durch eine Seite, auf der lokale Eingliederungsangebote aufgelistet sind. Der übrige Teil ist natürlich auch in anderen Kantonen nutzbar.

Damit der Leitfaden seinen Weg zu den Betroffenen findet, wäre es schön, wenn diejenigen unter Ihnen, liebe Leser*innen, die mit psychisch beeinträchtigten Menschen arbeiten, die Broschüren den Betroffenen an geeigneter Stelle zugänglich machen könnten. Entweder in digitaler Form (PDF): Leitfaden Basel bzw. Leitfaden St. Gallen (z.B. auf Ihrer Webseite oder einem Newsletter) oder in der Papierversion. Die gedruckten Broschüren können von Institutionen, Organisationen, Ämtern, Job Coaches, Psychotherapeut*innen usw. und natürlich auch von Privatpersonen gratis bestellt werden.

Ergänzung 2023: Es gibt es nun auch eine schweizweite Ausgabe des Leitfadens «Arbeiten mit psychischer Erkrankung». Die deutsche Version kann beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) als gedruckte Broschüre bestellt werden. Barrierefreie PDF’s: Deutsch, Französisch und Italienisch.

You’re a little late to the party

Während der letzten Jahre habe ich immer wieder darüber geschrieben, warum man Menschen mit psychischen Krankheiten nicht mit Mülleimern vergleichen, Menschen mit Körperbehinderungen nicht als Schaufensterpuppen, Depressive nicht als Zombies und «Behinderte» ganz generell nicht ständig als Kinder (mit Trisomie 21) darstellen sollte.

Bei den aufgezählten Beispielen handelte es sich um «professionelle» Kommunikation(skampagnen) von Organisationen der sogenannten Behindertenhilfe. Die Organisationen waren über meine Artikel jeweils not amused, denn die «Fachleute» und die «preisgekrönten Werber» wissen schliesslich, was sie tun. Auf meine Kritik hat man – falls überhaupt – arrogant und herablassend (Gell, Pro Infirmis) reagiert.

Aber über die Kritik nachdenken? Nope. Warum auch. Herzige Kinder oder sonstwie bemitleidenswerte Kreaturen sind halt einfach gut für’s Retter-Image der Organisationen und infolgedessen auch für deren Spendeneinnahmen. Menschen mit Behinderung als selbstbestimmte, kompetente Erwachsene abbilden? Äh, wie meinen…?

Selbst das eidgenössische Büro für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) hat 2014 die gesamten Werbematerialien seines Schwerpunktprogramms zum Thema «Partizipation» (Motto «Wir haben auch ein Wort mitzureden!») ausschliesslich mit Fotos von Kindern und Jugendlichen bebildert. Ich schrieb dazu:

Man stelle sich mal vor, auf dem Tagungsprogramm, den Postern und Postkarten wären auch Abbildungen von Menschen mit Behinderung jenseits des Jugendalters zu sehen, Erwachsene in individueller Kleidung statt im einheitlichen Jugendlager-Shirt! Womöglich auch welche im Businesskostüm oder Anzug! Und die wollen mitreden? Und vielleicht sogar mehr nur «ein Wort», wie es das Motto vorgibt?
Scary.

Anfang 2017 hat das EBGB ein neues Schwerpunktthema lanciert. Es heisst «Gleichstellung und Arbeit». Der ebenfalls anfangs 2017 erschienene Bericht zur Entwicklung der Behindertenpolitik des EDI legt den Schwerpunkt auch auf die Arbeitsthematik:

Bei der inhaltlichen Vertiefung steht in einer ersten Phase die Förderung der Gleichstellung im Bereich der Arbeit im Vordergrund. Bei diesem Thema besteht nach übereinstimmender Einschätzung der grösste Handlungsbedarf; zugleich bietet die Abstimmung mit der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung und der für 2017 vorgesehenen Konferenz zur Förderung der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen einen optimalen Rahmen zu einer umfassenden Förderung der Gleichstellung in der Arbeit.

Und nicht nur, aber natürlich auch deshalb, sollten – so der Bericht – Kommunikationsstrategien verstärkt auf Kompetenzorientierung ausgerichtet werden:

Kommunikationsaktivitäten, welche behindertenpolitische Anliegen vermitteln, sollen vermehrt dazu benutzt werden, eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen zu fördern. (…) Weiter soll auch in geplanten Kommunikationsmassnahmen des Bundes darauf geachtet werden, dass defizitorientierte Bilder vermieden werden. Die Wirkung kann verstärkt werden, wenn auch die Behindertenorganisationen in ihren über den Bund finanzierten Informations- und Sensibilisierungskampagnen ebenfalls darauf bedacht sind, ein kompetenzorientiertes Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln.

Darüber dass Kompentenzorientierung für eine bessere berufliche Integration von Menschen mit Behinderung fundamental wichtig ist habe ich immer und immer wieder geschrieben. Und zwar bereits 2012:

Ich habe ein klitzekleines Problem mit der aktuellen Arbeitgeber-Umgarnungsaktion der Invalidenversicherung. «Behinderte bzw. IV-Bezüger einstellen» klingt in meinen Ohren nämlich immer irgendwie wie: «Wir haben jetzt einen Hund (oder ein paar Zimmerpflanzen) in unserer Firma, das ist gut für Betriebsklima».

(…) Aber eine Behinderung alleine ist keine Qualifikation. Trotzdem zielen die ganzen Arbeitgeber-Umgarnungsaktionen der IV aber genau auf diese Zimmerpflanzen-Analogie ab. Ganz nach dem Motto: Gibt es nicht irgendeine kleine Nische, wo ihr die Zimmerpflanze reinstellen könnt?

Und:

Wäre dieses ganze Affentheater um die Eingliederungen ernst gemeint, würde man die einzugliedernden IV-Bezüger als zukünftige Arbeitnehmer behandeln und nicht wie die letzten Deppen. Denn Arbeitgeber suchen keine «Behinderten», sie suchen qualifizierte, zuverlässige Mitarbeiter. Eine Einstellung muss sich für sie lohnen. Es schafft auch niemand extra Arbeitsplätze einfach so, «weil er sich ein bisschen sozial fühlt». In einem Unternehmen fällt ein gewisses Volumen an Arbeit an und dafür werden Mitarbeitende gesucht, die diese Arbeit gut ausführen können. Alles andere ist Sozialromantik.

Nach all den Zimmerpflanzen, Mülleimern, Zombies und Kinderbilder der letzten Jahre kommt man nun also im EDI zum Schluss, dass «(…) auch Behindertenorganisationen in ihren über den Bund finanzierten Informations- und Sensibilisierungskampagnen darauf bedacht sein sollten, ein kompetenzorientiertes Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln».

Die Fachleute bei den Organisationen werden sich (zusammen mit den preisgekrönten Werbern) dazu bestimmt was hübsches einfallen lassen. Vielleicht eine Inszenierung von Kindern mit Trisomie 21 als Ärzte in einer TV-Serie namens «Euses Spital». So als gehaltvoller Diskussionsbeitrag zum Fachkäftemangel.

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Weiterführend:

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What is the meaning of the phrase «late to the party»?
If you are «late to the party» it means that you have only recently learned of something that others already have known for some time.

Arbeitsplatzerhalt bei psychisch belasteten Mitarbeitenden – Leitlinien für ArbeitgeberInnen und PsychiaterInnen

Es gilt als Binsenwahrheit, dass psychische Störungen stark zunehmen und daran der Druck in der modernen Arbeitswelt schuld ist. Als Beleg dafür werden der hohe Anteil psychischer Krankheiten bei Krankschreibungen und Invalidisierungen (45% der IV-Bezüger haben ein psychische Erkrankung) herangezogen. Effektiv ist es aber so, dass die Prävalenz psychischer Störungen nicht zunimmt, sondern schon immer hoch war, denn rund 50% der Bevölkerung erkranken einmal im Leben psychisch. Psychische Störungen werden heute allerdings eher erkannt, präziser diagnostiziert (früher hiess es vielleicht «Schlafstörungen» oder «Rückenschmerzen») und häufiger behandelt.

Vor allem leichtere und mittelschwere psychische Erkrankungen werden jedoch nach wie vor zu wenig erkannt und behandelt. Dies ist auch aus volkswirtschaftlicher Sicht bedeutend, da die Betroffenen zwar häufig am Arbeitsplatz präsent, aber nur eingeschränkt leistungsfähig sind. Nicht behandelte Erkrankungen können zudem zu Chronifizierung und Invalidität führen, was für die Betroffenen sehr belastend und für die Arbeitgeber erst recht teuer wird.

Vermutlich nicht zuletzt aus diesem Grund wird seit einiger Zeit der Prävention psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz vermehrt Beachtung geschenkt. Das SECO hat Flyer zu psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz veröffentlicht und an der nationalen Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement / 4. Netzwerktagung Psychische Gesundheit vom 26. August 2015 befassten sich viele Beiträge mit Präventionsmöglichkeiten.

So gut und wichtig der Präventionsgedanke ist, täuscht er doch darüber hinweg, dass 50% der psychischen Erkrankungen vor dem 14. und 75% vor dem 25. Altersjahr beginnen. Das heisst, das klassische «Burn-out« gibt es zwar, die meisten Betroffenen werden aber nicht durch «Arbeitsstress» krank, sondern treten schon vulnerabel in den Arbeitsmarkt ein. Stress oder ein schlechtes Arbeitsklima können – wie belastende Ereignisse wie Scheidung, Tod eines Angehörigen ect. – zwar einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben, insgesamt ist «Arbeit» aber eher ein Schutzfaktor, und keine Arbeit zu haben macht oft erst recht psychisch krank.

Untersuchungen zeigen auch, dass psychisch Kranke schneller gesunden, wenn sie  – ggf. mit Anpassungen – am Arbeitsplatz tätig bleiben können oder wissen, dass sie nach einem Klinikaufenthalt an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. Damit Betroffene trotz und mit einer psychischen Erkrankung ihren Arbeitsplatz behalten können, wäre ein Austausch zwischen dem Arbeitgeber und dem behandelnden Psychiater häufig sinnvoll. Arbeitgeber merken nämlich in der Regel schon früh, wenn mit einem Mitarbeiter etwas nicht (mehr) stimmt, trauen sich aber oft nicht, es anzusprechen und sind unsicher, wie sie den erkrankten Mitarbeiter unterstützen können.

Einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Psychiater/Psychologen stehen allerdings verschiedene Hürden (u.a. das Arztgeheimnis) im Weg. Nicht zuletzt bestehen auch viele Vorurteile von Seiten der Psychiater («Der Arbeitgeber will den Mitarbeiter sowieso nur loswerden») wie Arbeitgebern («Psychiater haben keine Ahnung von der Arbeitswelt»). Um diese sich fremden Welten zusammenzubringen, organisierten die Stiftung Rheinleben und die Psychiatrie Baselland letzten Herbst einen runden Tisch für Wirtschaftsvertreter und Psychiater aus der Region Basel (Interview mit Mitinitiant Niklas Baer dazu in der Tageswoche vom 29.10.2014). Auf der Grundlage dieses Austausches wurden zwei Leitfäden erarbeitet, die nun praxisnah aufzeigen, wie Arbeitgeber und Psychiater dazu beitragen können, dass psychisch erkrankte Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz behalten können. Kernpunkt beider Leitlinien ist die bessere Kommunikation zwischen Arbeitgeber und PsychiaterIn. Dabei werden folgende Fragen zur gegenseitigen Klärung vorgeschlagen:

WAS DER ARBEITGEBER VOM PSYCHIATER WISSEN MUSS

Einschränkungen

  • Was kann der Mitarbeiter (nicht)?
  • Was darf ich von ihm verlangen?
  • Wo darf ich Druck machen, wo nicht?

Führungsverhalten

  • Wie soll ich mit dem Mitarbeiter umgehen?
  • Muss ich immer Verständnis zeigen, oder darf ich auch konfrontieren?
  • Soll ich das Team informieren– und wie soll ich es informieren?
  • Welche Arbeitsplatzanpassungen sind sinnvoll?

Prognose und weiteres Procedere

  • Wann kann der Mitarbeiter wieder an den Arbeitsplatzplatz zurückkehren, mit welchem Pensum und mit welcher Leistung?
  • Ist mit einer vollständigen Gesundung zu rechnen oder bleibt die Problematik, wenn auch stabilisiert, langfristig auf einem tieferen Niveau?
  • Wie kann der Psychiater den Vorgesetzten künftig unterstützen?
  • Welche Anzeichen deuten auf einen Rückfall hin und was ist dann zu tun?

WAS DER PSYCHIATER VOM ARBEITGEBER WISSEN MUSS

  • Welche Arbeitsaufgaben hat der Patient genau?
  • Welche Fähigkeiten werden verlangt am Arbeitsplatz?
  • Welche Auffälligkeiten bezüglich Verhalten, Arbeitsverhalten und Leistung wurden beobachtet?
  • Was bewirken diese Einschränkungen im Arbeitsumfeld?
  • Wie reagiert das Team?
  • Wie gefährdet ist der Arbeitsplatz des Patienten?

Der Leiftaden für ArbeitgeberInnen (pdf) beantwortet auch Fragen wie: Woran erkenne ich eine psychische Erkrankung? Wann und wie soll ich Auffälligkeiten bei Mitarbeitenden ansprechen? Wie kann der Arbeitsplatz angepasst werden? Wann soll ich Unterstützung von aussen zuziehen?

Der Leitfaden für PsychiaterInnen (pdf): Wie können psychische Krankheiten in eine konkrete Arbeitsplatzanpassung übersetzt werden? Was sind mögliche Vor- und Nachteile, für den Patienten, wenn er seine Krankheit beim Arbeitgeber offenlegt? Wie und mit wem soll ich in Kontakt treten (HR, Vorgesetzter)? Wann soll krankgeschrieben werden; wann eher nicht?

Das alles wird sehr informativ, praxisbezogen und kompakt auf wenigen Seiten dargestellt.

Bericht zum Thema in der Basler Zeitung vom 1. September 2015: Krankgeschrieben – Warum wenige Menschen mit psychischen Problemen an den Arbeitsplatz zurückkehren

Quellen Zahlen und Fakten:
OECD: Fit Mind, Fit Job, 2015
OECD: Mental health and work: Switzerland, 2014

Die Disziplinierung der «Faulen». Ein Ablenkungsmanöver.

«Viele sind nicht motiviert, früh aufzustehen und eine Arbeit zu machen, bei der sie kaum mehr verdienen als mit der Sozialhilfe.»

HSG-Professorin Monika Bütler, Blick 20.12.2014

Das ist einer der Sätze, die so alltäglich sind, dass sie schon gar nicht mehr hinterfragt werden, sondern als «wahr» gelten. Für einmal möchte ich nicht auf die Anreizthematik eingehen, sondern auf die Implikation, dass sich «rechtschaffende Menschen» dadurch auszeichnen, dass sie früh aufstehen. Obwohl man mittlerweile weiss, dass «früh aufstehen» und vor allem «früh morgens leistungsfähig sein»* nicht allein vom «guten Willen» abhängt, sondern auch davon, welchem (genetisch bedingten) Chronotypen (Lerche, Mischtyp oder Eule) jemand angehört, gilt «Frühaufstehen» nach wie vor als Tugend.

Auch die wichtigste Aufgabe von sogenannten «Integrationsmassnahmen» für ALV-/IV-/Sozialhilfebezüger scheint oft darin zu bestehen, diesem (angeblich) faulen Pack das «früh aufstehen» beizubringen. Jedenfalls bekommt man den Endruck, wenn man regelmässig Zeitungsberichte über oder Selbstbeschreibungen von entsprechenden Anbietern liest. So sagte beispielsweise der Ingeus-Geschäftsleiter anno 2010 gegenüber dem Tagesanzeiger:

«Es kann aber auch vorkommen, dass ein Berater seine Klientin eine Zeit lang jeden Morgen anruft, um sie zum Aufstehen zu bewegen.»

Wie wir mittlerweile wissen, fiel die Integrations-Bilanz von Ingeus eher suboptimal aus. Offenbar braucht es für erfolgreiche Integration noch etwas anderes als ein Frühaufsteh-Bootcamp und Bauchtanzkurse. Im letzten Jahr veröffentlichten Abschlussbericht wurde u.a. festgestellt, dass die vor allem bei psychisch Kranken miserable Eingliederungsbilanz möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass die Ingeus-Berater keine Fachkompetenzen in diesem Bereich haben.

Hätten sie ebendiese gehabt, hätten sie vielleicht gewusst, dass bei vielen psychischen Krankheiten Schlafstörungen auftreten und Depressive häufig unter einem sogenannten «Morgentief» leiden. An dieser Stelle würde ich dann einfach mal gerne fragen, ob die «EingliederunsgberaterInnen» Seh- und Hörbehinderte auch dahingehend «unterstützen», dass sie ihnen erklären, wenn sie genügend «motiviert» wären, würde das mit dem Sehen oder Hören auch bald besser klappen?

Auch wenn sehr viele Menschen das einfach nicht wahrhaben wollen (inklusive diverse Politiker, IV-Stellen und das Bundesgericht), ist es so, dass psychische Erkrankungen in vielen Fällen leider allerhöchstens (ein bisschen) behandelbar, aber nicht heillbar sind. Wären die alle heilbar, hätten wir nämlich keine 100’000 IV-Bezüger mit chronischen psychischen Krankheiten. Und es wäre auch nicht ein Drittel der RAV-und Sozialhilfe-Klienten psychisch krank.

Man wird dem grossen Leid und den mit solchen Erkrankungen verbundenen massiven Einschränkungen nicht gerecht, wenn man die Betroffenen medial immer wieder als «Idioten» hinstellt, die einfach noch nicht gemerkt haben, dass sie halt früher aufstehen sollten. Als ob alleine dadurch sämtliche behinderungsbedingten Einschränkungen wie von Zauberhand verschwänden.

Das «Frühaufstehen» bzw. «der Tagesrhythmus» ist ein immer wiederkehrendes Thema in der medialen Berichterstattung über Integrationsmassnahmen, ein plakatives Symbol für die angestrebte «Erziehung» speziell psychisch Kranker zu «Normalen» oder «rechtschaffenden Menschen». Angesichts der Tatsache, dass wir mittlerweile in einer 24 Stunden-Gesellschaft leben, in der viele Menschen zu den unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten arbeiten (Tankstellenshopangestellte, Fluglotsen, Pflegepersonal, Securitas und und und…) sowie flexible Arbeitszeitmodelle und Homeoffice sich immer weiter verbreiten, wirkt das Trimmen auf «Frühaufstehen» ein wenig (ein wenig sehr) anachronistisch. Aber irgendwie passt das ja zum Schweizer Behindertenbereich, in dem die Uhren geschätzte 10 Jahre nachzugehen zu scheinen. Oder wie es Niklas Baer, der Leiter der Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation Baselland, mal formulierte:

«Für Arbeitsplatzerhalt und Eingliederung von Menschen mit komplexen Erlebens- und Verhaltensproblemen in ebenso komplexe Arbeitsumgebungen gibt es nach wie vor weniger Anleitungen als für das Layout eines BSV-Forschungsberichts».

Infos Insos, Juli 2012

Wenn ich noch ergänzen dürfte: funktionierende Anleitungen. Wenn man sich nämlich mal die letzten vier abgeschlossenen Pilotversuche zur Förderung der Eingliederung (Art. 68quater IVG) auf der Seite des BSV anschaut, sieht die Bilanz in der Tat nach wie vor wenig überzeugend aus:

Man macht es sich schon sehr bequem, wenn man diese Misserfolge wenig selbstkritisch samt und sonders der «Faulheit» der Betroffenen anlastet. Je länger je mehr wirkt das einfach nur noch wie ein Scheinargument einer Gesellschaft, die nicht fähig oder willens ist, gesundheitlich/psychisch beeinträchtigte Menschen mit/trotz ihrer Beeinträchtigung im Arbeitsmarkt aufzunehmen. Stattdessen sollen die Betroffenen erstmal «normal» sprich «nichtbehindert» werden. Und als Zeichen der erfolgreichen «Erziehung zur Normalität» gilt dann eben plakativ das «Frühaufstehen können». Selbstverständlich kann Frühaufstehen und ein geregelter Tagesrhythmus genau das sein, was jemand braucht, um funktionieren zu können. Nur: es kann genausogutsein, dass ein chronisch Depressiver es in seinem Leben nicht mehr schafft, morgens um 7.30 frischfröhlich irgendwo aufzutauchen, aber an einem Arbeitsplatz, wo er um 14 Uhr beginnen kann, durchaus gute Leistungen erbringen könnte.

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*Britische Wissenschaftler haben bei einer Untersuchung der Leistungsfähigkeit von Wettkampfsportlern kürzlich herausgefunden, dass der Unterschied zwischen maximaler und minimaler Leistung bei den unterschiedlichen Chronotypen über den Tag verteilt bis zu 26 Prozent betragen kann. Die Forscher folgerten daraus ganz erstaunlicherweise nicht, dass sich die Sportler eben mehr «zusammenreissen» müssten, sondern dass die Wettkampfzeiten je nachdem, welchem Chronotyp der Sportler angehöre, über Sieg oder Niederlage entscheiden könnten.

Behindert und nicht erwerbstätig? Selbst schuld, weil; behindert! Oder: Potential? Welches Potential?!

«Ich bin nicht behindert, ich werde behindert» hört oder liest man immer wieder von Behinderten-AktivistInnen vor allem aus dem angelsächsischen Raum. In der Schweiz ist das soziale Modell von Behinderung (noch) nicht ganz so selbstverständlich. Behinderungen werden noch vielfach als (ausschliesslicher) Makel der betroffenen Person angesehen und ihre Anstrengungen, sich möglichst wie Nichtbehinderte zu verhalten, werden gelobt und bewundert. («Seine Wohnung liegt im zweiten Stock, einen Lift gibt′s nicht. So stemmt sich der Mann mit Spina bifida («offener Rücken») jedesmal mit Krücken die Treppen hoch.» – «Supermann mit Handicap» (März 2014) Ostschweizer Anzeiger über den Thurgauer Rollstuhlsportler Marcel Hug)

Auch das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG) geht von der medizinischen Sicht auf Behinderung aus, wonach die Verantwortung für eine durch Behinderung oder Krankheit verursachte Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit ausschliesslich bei der betroffenen Person liege:

Art. 7 Pflichten der versicherten Person
1 Die versicherte Person muss alles ihr Zumutbare unternehmen, um die Dauer und das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG2) zu verringern und den Eintritt einer Invalidität (Art. 8 ATSG) zu verhindern.

2 Die versicherte Person muss an allen zumutbaren Massnahmen, die zur Erhaltung des bestehenden Arbeitsplatzes oder zu ihrer Eingliederung ins Erwerbsleben oder in einen dem Erwerbsleben gleichgestellten Aufgabenbereich (Aufgabenbereich) dienen, aktiv teilnehmen. Dies sind insbesondere:

a. Massnahmen der Frühintervention (Art. 7d);
b. Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung (Art. 14a);
c. Massnahmen beruflicher Art (Art. 15-18 und 18b);
d. medizinische Behandlungen nach Artikel 25 KVG3;
e. Massnahmen zur Wiedereingliederung von Rentenbezügerinnen und Rentenbezügern nach Artikel 8a Absatz 2.

Art. 7a Zumutbare Massnahmen
Als zumutbar gilt jede Massnahme, die der Eingliederung der versicherten Person dient; ausgenommen sind Massnahmen, die ihrem Gesundheitszustand nicht angemessen sind.

Art. 7b Sanktionen
1 Die Leistungen können nach Artikel 21 Absatz 4 ATSG2 gekürzt oder verweigert werden, wenn die versicherte Person den Pflichten nach Artikel 7 dieses Gesetzes oder nach Artikel 43 Absatz 2 ATSG nicht nachgekommen ist.
(…)

Währenddessen:

Art. 7c Mitwirkung des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber arbeitet aktiv mit der IV-Stelle zusammen. Er wirkt bei der Herbeiführung einer angemessenen Lösung im Rahmen des Zumutbaren mit.

Im Parlament regte sich im Dezember 2012 heftigster Widerstand als der Artikel 7c im Rahmen der IV-Revision 6b folgendermassen geändert werden sollte:

(neu) Mitwirkung des Arbeitgebers
Ordnet die IV-Stelle Frühinterventions- oder Eingliederungsmassnahmen an, so lädt sie den Arbeitgeber ein, das Arbeitsverhältnis mit der versicherten Person nicht aufzulösen, ohne mit der IV-Stelle Rücksprache genommen zu haben.

Noch zwei Jahre zuvor, bei der Debatte über die IV-Revision 6a (Dezember 2010) wehrte sich die Mehrheit des Parlaments ebenso erbittert (und ebenso erfolgreich) gegen eine moderate Quote, welche bei der vorgesehenen Eingliederung von 16’000 IV-Bezügern auch auf Seiten der Arbeitgeber für etwas Druck sorgen sollte. Unvergessen dabei das Votum gegen die Quote von FDP-Nationalrat Pierre Triponez: «Man will ja beide Parteien mit Liebe und Vertrauen zueinander führen.»

Das mit dem «mit Liebe zusammenführen» war, wie wir mittlerweile wissen, eher mässig erfolgreich. Die geglückten «Integrationen aus Rente» sind etwa so häufig wie die Exemplare einer bedrohten Tierart kurz vorm Aussterben.

Und während die Eingliederung von Frauen und älteren Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt im Rahmen der Masseneinwanderungsinitiative und dem Fachkräftemangel umfassend diskutiert wird, ist das diesbezügliche Potential von Menschen mit Behinderungen offenbar eher… nebensächlich. Weil der Bund sich nicht einmal dafür interessiert nicht einmal weiss, wie wie gross das Potential durch eine verstärkte Integration dieser Gruppe wäre, möchte SP-Ständerätin Pascale Bruderer in der kommenden Session einen entsprechenden Vorstoss einreichen.

Bis das dann evaluiert ist, heisst es also vermutlich noch eine ganze Weile: Potential? Welches Potential?!

Sich wandelnde Strukturen

Am 20. Juni 2014 hielt Bundesrat Johann Schneider-Ammann eine Rede im KKL Luzern. Unter anderem sprach er über die wirtschaftlichen Folgen der Abstimmung zur Masseneinwanderung vom 9. Februar 2014:

Wir kommen nicht darum herum, uns wieder vermehrt aus dem eigenen Reservoir zu versorgen. Es gibt ein ungenutztes Potential. Ich denke da in erster Linie an die zahlreichen ausgezeichnet ausgebildeten Frauen. Durch gezielte Vereinbarkeitsmassnahmen muss man ihnen – und ihren Männern – ermöglichen, ihre Erwerbsarbeitszeit angemessen zu erhöhen. Ich denke aber auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich mit 65 nicht zur Ruhe setzen wollen. Auch dieses Potential ist besser zu nutzen. Hier sind in erster Linie die Unternehmen gefordert: je früher sie handeln, umso eher bleiben sie am Arbeitskräftemarkt und damit ganz generell am Markt. Wir müssen aber vor allem auch optimale Bedingungen schaffen, dass die Leute in der Arbeit bleiben.

Ich würde jetzt mal behaupten, es hätte nichts an Schneider-Ammanns Rede geändert, wenn der Bericht über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, der am 27. Juni 2014 vom BFS  veröffentlicht wurde, schon früher vorgelegen hätte. Dass laut dem Bericht Menschen mit Behinderungen heute besser ausgebildet sind als vor fünf Jahren, aber deren Arbeitsmarktbeteiligung nach wie vor 17% tiefer liegt als bei Nichtbehinderten und in effektiven Zahlen ausgedrückt nur jede zweite Person mit starker Behinderung überhaupt eine Arbeitsstelle hat, hätte Schneider-Ammann (wenn denn er oder sein Redenschreiber sich dafür interessiert hätten) vermutlich auch nicht dazu gebracht,  auf das brachliegende Potential von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen hinzuweisen.

Weil… Menschen mit Behinderungen und «Potential»…? Wie meinen…? Behinderte sind doch diese… Zimmerpflanzen, die man – wenn’s denn halt unbedingt sein muss – irgendwo in eine stille Ecke, wo sie möglichst wenig stören, in die Möblierung hineinintegriert. Und die sich bitte auch gefälligst anzustrengen haben, möglichst «unbehindert» zu wirken sein. Währenddessen die Behinderungen «Frau» bzw. «Alter» mit «optimalen» Arbeitsbedingungen ausgeglichen werden sollen, auf dass Frauen und Ältere ihr wertvolles Potential möglichst «unbehindert» der Wirtschaft zur Verfügung stellen mögen.

Soweit die schöne Theorie jedenfalls. Bei jenen, die sie «unters Volk» bringen sollten hakt’s allerdings noch etwas, so machte Arbeitgeberdirektor Roland Müller Ende April die «innere Einstellung» der Frauen zur Berufsausübung für deren im Vergleich zu den Männern nach wie vor tieferen Löhne verantwortlich:

«Für gewisse Stellen müsse man bereit sein, höhere Anstrengungen auf sich zu nehmen, sagte Müller. Abklärungen hätten ergeben, dass sich eher Männer bereit erklärten, Arbeitszeiten weit über die regulären acht Stunden hinaus zu leisten, während Frauen vermehrt reguläre Arbeitszeiten und geordnete Arbeitsverhältnisse verlangten. Das sei ein wesentlicher Faktor für die Lohnunterschiede.»

Immerhin fügte Müller noch hinzu: «Somit sind es strukturelle Probleme, welche die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau verhindern.» Dass er nicht «biologische» sondern «strukturelle» Gründe für die vermeintliche «Faulheit» der Frauen angab, kann man als geradezu «fortschrittlich» einstufen. So als Aussage eines privilegierten WHM (weisser heterosexueller Mann) über 50, der in seinem Leben vermutlich eher selten bis nie seine Kinder rechtzeitig aus der Kita abholen, zum Fussballtraining bringen, mit ihnen in Wartezimmern von Kinderärzten sitzen oder nach der Arbeit kurz vor Ladenschuss das Essen für die ganze Famile einkaufen und selbiges dann auch noch kochen musste.

Oder wie es die Politologin Michelle Beyeler einmal treffend formulierte: «Zu verdanken haben wir diese Situation einem Verständnis von Liberalismus bei dem der Mann von Selbstverantwortung spricht, damit aber eigentlich die Betreuungsdienstleistungen seiner abhängigen Ehefrau meint».

«Eigenverantwortung» ist ja ein Wort, dass im Zusammenhang mit der Invalidenversicherung auch gerne mal bemüht wird. Oder «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar». Gesagt wird es in der Regel von gesundheitlich, beruflich und sozial privilegierten Menschen Männern, denen die herrschenden Strukturen es erlauben, ihre Arbeitskraft weitestgehend ungehindert auszuschöpfen.

Un«behindert» von schweren gesundheitlichen Beinträchtigungen, Care-Verpflichtungen und zugleich gut unterstützt von einem Heer meist weiblicher «fleissiger Bienchen» im Hintergrund (beispielsweise die Mutter, die dem Jungkarrieristen die Wäsche wäscht, später die Kinder hütet, und noch später wiederrum von der Ehefrau gepflegt wird) die sich darum kümmern, dass der betreffende Herr seine «Eigenverantwortung» (*Hüstel*) voll und ganz wahrnehmen kann.

Wie wenig diese Strukturen (und vor allem die zum grossen Teil unbezahlte Gratisarbeit auf der sie fussen) hintersinnt werden, zeigt die kürzlich auf Twitter geführte Konversation:

ivinfo: Wenn wegen der #mei Frauen vermehrt berufstätig sein sollen; wer macht dann die bisher unbezahlte Care-Arbeit? Hat @Avenir_Suisse eine Idee?

Avenir_Suisse: Wer die Care-Arbeit macht, ist ein privater Entscheid. Wichtig ist eine höhere Flexibilität zwischen Familie und Beruf

ivinfo: Wenn unbezahlte Arbeit plötzlich kostet (Krippen, Pflegeheime ect) ist das kein privates sondern auch polit.+wirtsch. Problem.

Eine liberale DENK-Fabrik sollte darauf schon eine ungefähre Antwort haben. Dass sie keine hat, zeigt wie wenig man(n) sich bewusst ist, wie sehr die eigene so sehr gepriesene «Leistungsfähigkeit» auf Strukturen basiert, die das optimale Ausschöpfen der eigenen Arbeitskraft vor allem für einen ganz bestimmten Typus Mensch Mann begünstigt.

Die Aussage von Arbeitgeberdirektor Müller, dass «Frauen sich eben weniger anstrengen mögen» hat – zurecht – lautstarke Proteste hervorgerufen. Diese Proteste hätte es vermutlich vor nicht allzulanger Zeit so noch nicht gegeben, da war «klar»: Wer als Frau beruflich erfolgreich sein will, hat gefälligst wie ein Mann zu sein; sprich: nicht schwanger zu werden und auch keine Betreuungsaufgaben für Kinder zu haben.

Mittlerweile wirbt aber beispielsweise eine grosse Versicherung als «moderne Arbeitgeberin» in einem aktuellen Werbespot explizit mit flexiblen Arbeitszeitmodellen für Väter. Weil man – natürlich – gemerkt hat, dass den Bedürfnissen der MitarbeiterInnen angepasste Strukturen deren Zufriedenheit und damit auch deren Leistungsfähigkeit verbessern.

Diese Entwicklung stimmt mich doch einigermassen zuversichtlich, dass man irgendwann auch noch erkennen wird, dass man Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht ums Verrecken an die «Norm» (so wie einst der nicht schwangerwerdenkönnende Mann die «Norm» war) anpassen muss, sondern vielmehr Strukturen geschaffen werden, in denen sie – ähnlich wie Frauen mit Betreuungsaufgaben (was früher einmal eine veritable «Behinderung» im Arbeitsleben darstellte) ihr Potential zur Geltung bringen können.

Und ich glaube auch, dass solche Veränderungen nicht nur Menschen mit gesundheitlichen Beinträchträchtigungen, sondern allen MitarbeiterInnen zugute kommen werden. So wie heute selbstverständlich nicht nur Frauen, sondern auch Männer von flexiblen Arbeitszeitmodellen profitieren. Widerstandlos wird das nicht zu haben sein, aber das entlarvende am Widerstand ist ja, dass sich immer jene am erbittersten gegen eine Veränderung wehren, deren eigene Privilegien dadurch ins Wanken geraten. Könnte ja noch jemand merken, dass die eigene Position nicht ausschliesslich dem so plakativ hochgehaltenen Leistungswillen zu verdanken ist, sondern auch durch strukturelle Vorteile begünstigt wurde. Das hört man im liberalen wer-will-der-kann-Universum natürlich nicht so gern, das macht schon etwas Bauchweh.

Tasse Pfefferminztee, meine Herren?

OECD-Länderbericht Schweiz zur psychischen Gesundheit und Arbeit

Die Hauptfrage, die die Schweiz im Bezug auf Menschen mit psychischen Erkrankungen seit 10 Jahren bewegt, ist ja vor allem: Wie verwehren wir denen bestmöglichst den Zugang zur IV-Rente bzw. wie kriegen wir die aus der IV wieder raus? Der medial/politisch/juristische Lösungsweg dazu lautet: Wir erklären die einfach für gesund! Problem gelöst. (Oder auch nicht…)

Der Ansatz des heute veröffentlichten OECD-Länderberichts Schweiz zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung ist ein komplett anderer. Nämlich: Was muss man tun, damit Menschen mit psychischen Problemen gar nicht erst aus der Arbeitswelt herausfallen, bzw. wie finden sie überhaupt den Einstieg (wieder)?

Das ist ein fundamental andere Sichtweise auf die ganze Problematik. Sie beinhaltet nämlich die Anerkennung, dass psychische Krankheiten tatsächlich in nicht unerheblichem Ausmass in der Bevölkerung vorhanden sind und sich in der Arbeitswelt sehr behindernd auswirken können. Ich zweifle ehrlich gesagt ein kleines bisschen daran, ob «Die Schweiz» wirklich schon an dem Punkt angekommen ist, endlich mal diesen Richtungswechsel zu vollziehen. Das würde nämlich bedeuten, dass eine ganze Menge Akteure ihr bisheriges Verhalten ändern müssten und die ganze Eingliederungsverantwortung (Stichwort Mitwirkungspflicht) nicht mehr einseitig den Betroffenen übertragen würde.

Nach einer eingehenden Bestandesaufnahme der aktuellen Situation und der beteiligten Akteure kreist die OECD sechs Problemfelder ein und formuliert entsprechende Strategieempfehlungen für die politischen Entscheidungsträger in der Schweiz:

1. Arbeitgeber sind für den Umgang mit psychisch erkrankten Arbeitnehmern nicht optimal gerüstet. In Sachen Krankheitsmonitoring und Vorgehensweisen bestehen grosse Unterschiede.

  • Den Arbeitgebern adäquate Instrumente und Unterstützung zur Verfügung stellen, damit psychische Risiken am Arbeitsplatz angegangen werden können.
  • Arbeitsplatz-Output überwachen (z. B. Personalfluktuation und krankheitsbedingte Abwesenheiten) anstatt den Input (z. B. Arbeitsbedingungen).
  • Finanzielle Anreize für Arbeitgeber stärken durch vermehrte Einführung von erfahrungsbasierten Versicherungsprämien.
  • Die Ankerkennung von psychischen Krankheiten als Berufskrankheiten in Erwägung ziehen.

2. Die Invalidenversicherung zieht die Arbeitgeber immer noch zu wenig mit ein und bietet zu geringe Anreize für die Arbeitnehmer.

  • Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass mehr Arbeitgeber sich bei psychischen Problemen der Angestellten an die Invalidenversicherung wenden.
  • Arbeitsplatzbezogene Frühinterventionsmassnahmen auf reguläre Arbeitsplätze aus  dehnen und Frühinterventionen vermehrt auf psychisch Erkrankte anwenden.
  • Multidisziplinäre medizinisch-berufliche Abklärungen öfter berücksichtigen und die Qualität der medizinischen Abklärungen und Rentenneubeurteilungen im Allgemeinen verbessern.
  • Arbeit lohnenswert machen für alle, die weiterarbeiten oder ihr Pensum erhöhen, auch durch sinnvollen Einsatz von Teilrenten und der Beseitigung von Schwellen im IV-Rentensystem.

3. Regionale Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und Sozialdienste bieten Personen mit psychischen Störungen begrenzt Unterstützung.

  • Psychische Probleme bei Klienten identifizieren und diese rasch und mit der nötigen Fachkenntnis angehen.
  • Leistungsumfang der RAV erweitern, um Ausrichtung auf Klienten mit psychischen Erkrankungen, kranke Arbeitslose und Ausgesteuerte zu ermöglichen.
  • Kapazitäten der Sozialhilfe dahingehend stärken, dass mit psychischen Problematiken umgegangen werden kann, auch durch neue regionale bzw. kantonale Dienste für kleine Gemeinden.

[Anmerkung der Bloggerin: Aufgrund der kürzlich erschienenen BSV-Studie über die Profile von neuen IV-Rentenbeziehenden, die ergab, dass fast die Hälfte vorher Sozialhilfe oder Arbeitslosengelder bezogen, schreibt der Arbeitgeberverband am 21. Januar 2014 unter demt Titel: «Früherkennung und Reintegration: Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe sind gefordert»: «Die Untersuchung wirft die Frage auf, ob sich Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe nicht zu wenig auf die Früherkennung von psychisch belasteten Menschen und deren Arbeitsmarktfähigkeit ausrichten.(…) Die Studie spielt den Ball einerseits dem Bundesrat (Arbeitslosenversicherung), andererseits den Städten und Gemeinden (Sozialhilfe) zu. Auf die Schlüsse, die Bundesrat und Sozialhilfe-Behörden ziehen, darf man gespannt sein.»

An dieser Stelle heisst es für den Arbeitgeberverband: Zurück zu den Punkten eins und zwei der OECD-Empfehlungen und den weitergereichten Schwarzen Peter mal schön wieder einpacken. VOR Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeldbezug haben die Leute nämlich in der Regel einen Job – solange der ihnen nicht aufgrund ihrer Erkankung gekündigt wird. Das mit der Früherkennung und Prävention darf sich der Arbeitgeberverband also mal schön selbst gross auf die Fahne schreiben.]

4. Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) wird den aktuellen Problemen nicht gerecht

  • Finanzielle Anreize zur Zusammenarbeit der Hauptpartner der IIZ (RAV, Sozialhilfe, IV) verstärken und angleichen.
  • Gesundheitswesen zum gleichwertigen IIZ-Partner machen, um systematische Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Diensten zu ermöglichen und bessere Vernetzung zwischen IIZ Caseteams und Arbeitgebern aufbauen.
  • Zusammenarbeit der Dienste ergänzen durch Integration von Dienstleistungen innerhalb der involvierten Institutionen.

5. Das psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem könnte durch eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen bessere Ergebnisse liefern.

  • Vermehrt erwerbstätigkeitsbezogene Module in der Grundausbildung von Ärzten miteinbeziehen.
  • Einführung von arbeitsbezogenen Richtlinien zur Behandlung von psychischen Problemen und verstärkte Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern.
  • Verlagerung von stationärer auf vermehrte ambulante Behandlung und Tageskliniken und verstärkte Ausrichtung auf arbeitsbezogene Probleme.
  • Reduktion der Unterversorgung mittels verbesserter Zusammenarbeit und definierten Überweisungswegen zwischen der Allgemeinmedizin und der Psychiatrie und bessere Abgeltung der psychologischen Psychotherapeuten.

6. Die Ressourcen im Schulsystem werden zu wenig wirkungsvoll eingesetzt, um Schulabbrüche und häufige Wechsel in die IV anzugehen.

  • Den Schulen sollen Informationen darüber bereitgestellt werden, welche Angebote sie zur Verfügung stellen sollten und wie diese am besten zu nutzen wären um psychische Gesundheitsprobleme von Schüler/innen zu verhindern oder sie anzugehen.
  • Senken der vorzeitigen Schulabgänge auf Sekundarstufe II und der Lehrabbrüche durch systematisches Erfassen von Abbrüchen und verbesserte Zusammenarbeit mit RAV, IV  Stelle und den psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitsdiensten.
  • Übergänge in IV verhindern durch bessere Arbeitsanreize für gefährdete Jugendliche.

Die offizielle Medienmitteilung der OECD stellt das ganze unter dem Titel «Schweiz muss psychische Probleme in der Erwerbsbevölkerung angehen» kompakter und flüssiger lesbar dar, aber ich hatte den Artikel schon vor Erscheinen der Medienmitteilung geschrieben und bin zu faul das jetzt nochmal zu ändern. Ausserdem werden die meisten Zeitungen ja die Kurzform der Medienmitteilung publizieren – wie beispielsweise die Handelszeitung (erstaunlich flink) unter dem Titel «Jeder dritte Arbeitslose leidet an psychischer Störung».

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Solche Empfehlungen haben natürlich immer auch etwas idealistisches (ist ja auch ok), besonders schön zeigt sich die Ideal vs. Realitäts-Schere angesichts der aktuellen Geschehnisse:

OECD zum Thema wie man bei der IV mit den Betroffenen umgehen sollte: «Dann sollten Leitlinien zu einer Reihe von Punkten ausgearbeitet werden, z.B. wie ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut wird(…)»

Aktuelle Kommunikation der Schweizer IV: «Ihr kommt alle an den Lügendetektor, ihr Simulanten!»

Bei der «Vertrauensfördernden Kommunikation» gibt’s offenbar noch Entwicklungspotential… Wie in vielen anderen Bereichen auch. Mehr dazu im OECD-Bericht «Psychische Gesundheit und Beschäftigung».

Der Länderbericht zur Schweiz ist Teil des OECD Mental Health and Work Project.

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Nachtrag 23. Januar 2014, 18.50 – Während man bei Pro Mente Sana oder dem Netzwerk für Psychische Gesundheit*offenbar noch über dem OECD-Bericht meditiert (Preview der Studie war bereits einige Tage im Vorraus für Pressseleute/Interessierte erhältlich) Kräutertee trinkt und darüber nachdenkt, ob man sich dazu vielleicht in ca. zwei bis drei Monaten mal auf der eigenen Website äussern könnte, nutzt der Arbeitgeberverband den OECD-Bericht unter dem Titel Unbestrittene Massnahmen der IV-Revision 6b jetzt umsetzen! bereits als Schützenhilfe: «Der Schweizerische Arbeitgeberverband will die mehrheitsfähigen Massnahmen der gescheiterten IV-Revision 6b schnellstmöglich umsetzen. Sukkurs erhält er nun auch von der OECD. Laut der Organisation sah 6b wichtige Massnahmen für den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit und die Integration psychisch handicapierter Menschen vor. Viele Arbeitgeber engagieren sich diesbezüglich bereits – alleine können sie die zunehmenden Herausforderungen aber nicht meistern. Die erforderlichen Massnahmen müssen daher rasch umgesetzt werden, zumal sie unstrittig und bereits ausgearbeitet sind.(…)»

Ich werde die Bedächtigkeit der Schweizer Behindertenorganisationen nie verstehen.

*Nachtrag 24. Januar 2014, 18.00: Immerhin, das Netzwerk für Psychische Gesundheit verlinkt nun Medienmitteilung und Studie. Aber… Stellungsnahme? Wo denken wir hin!?