Herr Ritler erklärt, was das Wort von Bundesrat Burkhalter wert ist

Weil das Verwaltungsgericht Bern befand, «dass eine generalisierte Angststörung denselben sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen sei, wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. wie sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» hatte ich gefragt «Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat Burkhalter Denn Herr Burkhalter hatte im Rahmen der Diskussionen zur IV-Revision 6a im Dezember 2010 beteuert, dass er die klassischen psychischen Krankheitsbilder «für objektivierbar halte» und diese selbstverständlich nicht von der vorgesehenen Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern betroffen sein würden. Ich merkte damals an, dass es den Gerichten wohl einst herzlich egal sein würde, wie Herr Burkhalter persönlich den Gesetzestext auslegt, gelten würde schlussendlich einzig das was im Gesetz steht – und praktisch alle psychischen Krankheiten sind nun mal per Definition «pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage».

Und die Richter aus Bern sehen das mit der Objektivierbarkeit einer Angststörung (eine ganz klar diagnostizierbare «klassische» psychische Erkrankung) nun offenbar tatsächlich ganz anders als Herr Burkhalter.

Wie das Alles zu interpretieren ist, hat mir dann Herr Ritler, der Leiter der Invalidenversicherung, in einer Mail erklärt. Und ich hätte das wirklich gerne in wenigen Zeilen für meine Leserinnen und Leser zusammengefasst (siehe den rot eingefärbten Text weiter unten) nur: ich musste kapitulieren. Ich hab sehr sehr lange darüber nachgedacht, aber ich hab’s offenbar schlichtweg nicht verstanden.

(Hervorhebungen wie im Original)

Sehr geehrte Frau Baumann

Wir beziehen uns auf Ihr E-Mail vom 23. Mai 2011 an Herrn Crevoisier und äussern uns zu Ihren Fragen in Bezug auf die Schlussbestimmung der 6. IV-Revision wie folgt:

Wie Sie richtig schreiben, hat Bundesrat Burkhalter in der parlamentarischen Diskussion und zu Handen der Materialien ausdrücklich festgehalten, dass die Überprüfung von laufenden Renten im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a nur Beschwerdebilder umfasst, die von einem Arzt in objektiver Weise nicht erfasst werden können, d.h. Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind, wie somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrom, Neurasthenie, dissoziative Bewegungsstörung, Distorsion der HWS.

Ebenfalls ausdrücklich festgehalten hat er, dass im Rahmen der Schluss-bestimmung keine Überprüfung von Beschwerdebildern erfolgt, bei denen eine Diagnose gestützt auf klinische (psychiatrische) Untersuchungen klar gestellt werden kann, wie Depressionen, Schizophrenie, Psychosen wie Zwangsstörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen. Aus unserer Sicht sind auch die im Verwaltungsgerichtsentscheid des Kantons Bern genannten Angststörungen objektivierbar und stellen eindeutig diagnostizierbare Gesundheitsstörungen dar.

Diese Aussagen bestätigen wir und sie entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers, wie dies die Protokolle der Parlamentsdebatte deutlich zeigen. Wir versichern Ihnen, dass es nicht im Interesse des Bundesrates ist, psychisch behinderte Menschen von der IV auszuschliessen. An dieser Haltung ändert auch der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. März 2011 nichts.

In diesem Zusammenhang halten wir in genereller Art fest, dass von der Invalidenversicherung immer – und zwar unabhängig von der Art des Leidens – zu prüfen ist, ob eine Person trotz einem vorhandenen Leiden erwerbsfähig ist oder nicht und falls ja, in welchem Umfang. Dies ist in Artikel 8 Absatz 1 ATSG festgehalten:„Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit“. Diese versicherungs-rechtliche Prüfung findet in jedem Fall und unabhängig von einer Diagnose statt. Das ist nicht neu. Ebenfalls nicht neu ist, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung nicht massgebend ist. Dies entspricht einer mehrjährigen Bundesgerichtspraxis, die im Rahmen der 5. IV-Revision in Artikel 7 Absatz 2, zweiter Satz ATSG aufgenommen wurde: „Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsun-fähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.“

Im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a geht es nun darum, Beschwerdebilder, bei denen die Medizin an ihre Grenzen stösst und eine entsprechende Diagnose einzig gestützt auf subjektive Aussagen der Patienten beruht, unter den dargelegten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erneut zu überprüfen. Davon betroffen sind – wie bereits erwähnt – Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind.

In Bezug auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern können wir uns wie folgt äussern:

  • Bei diesem Entscheid handelt es sich um die erstmalige Beurteilung eines Rentengesuchs. Das Gericht kommt darin zum Schluss, dass die generalisierte Angststörung und ihre Folgen in diesem konkreten Fall mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind (versicherungsrechtliche Überprüfung).
  • Demgegenüber geht es bei den Schlussbestimmungen um die Überprüfung von laufenden Renten (während drei Jahren nach Inkrafttreten der Gesetzesrevision). Der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts ist darauf nicht anwendbar. Wir versichern Ihnen, dass der Wille des Gesetzgebers in die Umsetzungsarbeiten der Revision 6a einfliessen wird.

Wir hoffen, Ihnen mit diesen Ausführungen zu dienen und grüssen Sie freundlich

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
Geschäftsfeld Invalidenversicherung

Ich hab dann nochmal nachgefragt:

Sehr geehrter Herr Ritler

Vielen Dank für Ihre Stellungnahme vom 1. Juni 2011. Da Herr Crevoisier den Wunsch geäussert hat, Ihre Antwort möge den Weg auf meinen Blog finden, möchte ich mich kurz versichern, ob ich alles richtig verstanden habe und für meine Leser (die zum überwiegenden Teil keine Juristen sind) das Ganze folgendermassen zusammenfassen kann:

1. Das BSV hält Angststörungen bei laufenden IV-Renten für objektivierbare Gesundheitsstörungen und zählt sie deshalb ausdrücklich nicht zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage. Aus diesem Grund werden bestehende Renten aufgrund von Angststörungen im Rahmen der Schlussbestimmung zur IV-Revision 6a nicht überprüft.

2. Das BSV hält Angststörungen bei erstmaligen Rentengesuchen für nicht objektivierbare Gesundheitsstörungen* und gibt deshalb weder Weisungen an die kantonalen IV-Stellen, dass die Försterkriterien für die versicherungsrechtliche Beurteilung bei Angststörungen nicht angewandt werden dürfen, noch würde es – sollte der Entscheid des Verwaltungsgerichtes Bern vom Bundesgericht gestützt werden – intervenieren.

3. Im Falle einer Bestätigung des Berner Urteils durch das Bundesgericht wäre dann auch Punkt 1 hinfällig, da es Sinn und Zweck der Schlussbestimmung ist, alte Renten nach dem selben Massstab wie Neurenten zu behandeln.

*Die von Ihnen vorgebrachte Darstellung, dass die Berner IV-Stelle wie das Verwaltungsgericht die Angststörung nur in diesem konkreten Fall für mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar halten, ist nicht schlüssig. Denn das Gericht argumentiert, dass in diesem konkreten Fall eine «Angststörung mit primär vegetativer Symptomatik» vorläge und es dementsprechend angezeigt sei, die Rechtssprechung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage zur Anwendung zu bringen.

Da schwere Angststörungen immer mit einer starken «vegetativen Symptomatik» einhergehen (die entgegen der Darstellung des Gerichtes niemals primär, sondern immer sekundär ist, da sie ja durch die primäre psychische Erkrankung erst ausgelöst wird – und demnach einerseits sehr wohl erklärbar ist und andererseits auch gar nicht organisch bedingt sein kann) handelt es sich hier nicht um einen Einzelfallentscheid, sondern um einen Grundsatzentscheid. Nach gängiger Rechtssprechung kann die selbe Diagnose nicht einmal als objektivierbar und ein andermal als nicht objektivierbar gelten.

Es ist irrelevant, ob in diesem konkreten Fall tatsächlich eine invalidisierende Angststörung vorliegt oder nicht, es geht darum, dass zur Überprüfung der Zumutbarkeit einer Willensanstrengung (wie bei den «nicht objektivierbaren Störungen») die Försterkriterien herangezogen wurden. Und dies mutet spätestens dann vollends absurd an, wenn die «zumutbare Willensanstrengung» aufgrund einer «fehlenden psychischen Komorbidität» bejaht wird. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine psychische Komorbidität bei einer nichtorganischen Schmerzerkrankung eine zumutbare Willensanstrengung verunmöglichen sollte, während im umgekehrten Fall, nämlich bei einer psychiatrischen Haupt(!)diagnose mit körperlichen Begleitsymptomen die generelle Vermutung besteht, dass sie mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sei – und davon nur dann ausnahmsweise abzusehen wäre, wenn eine weitere psychische Krankheit bestehen sollte. (Es besteht ja bereits eine klar diagnostizierte psychische Krankheit: Eine Angststörung nämlich).

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Für eine kurze Rückmeldung zu den eingangs aufgeführten drei Punkten wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wie bereits erwähnt, möchte ich den Sachverhalt auch den Nicht-Juristen unter meinen Bloglesern verständlich und nachvollziehbar darlegen können.

Mit freundlichen Grüssen
Marie Baumann

Herr Ritler antwortete:

Guten Tag Frau Baumann

Wir haben Ihre Mail inhaltlich geprüft.
Ich bitte Sie, unseren Text vom 1. Juni 2011 für Ihren Blog zu verwenden. Auch wenn unsere Antwort und Aussagen technisch erscheinen mögen, so entspricht der Inhalt dem Sachverhalt.

Freundliche Grüsse

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung

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Ich habe deshalb vor einer Zusammenfassung kapituliert und mich entschieden, den ganzen Briefwechsel zu publizieren.
Ich möchte dazu aber noch kurz eine Aussage von Ralf Kocher, dem Leiter des Rechtsdienst der IV anfügen, welche er in einem Gespräch mit Rechtsanwalt Massimo Aliotta gemacht hatte: «(…) Das Hauptproblem sind nicht die Mitwirkungsrechte, sondern das grosse Misstrauen gegenüber der IV-Verwaltung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Anwälte potentiellen Klienten suggerieren, sie bräuchten von Anfang an einen Rechtsvertreter, sonst seien sie chancenlos.»

Also… wenn man als juristischer Laie schon beim Verstehen einer E-Mail des Leiters der Invalidenversicherung ziemlich chancenlos ist, steigert das das Vertrauen in die ganze Institution nicht unbedingt… Wenn der IV und ihren Mitarbeitenden tatsächlich etwas daran gelegen wäre, das Vertrauen in die Institution IV zu stärken, dann wäre eine transparente Informationspolitik das A und O. Die Kollegen vom EJPD haben da mal was Schönes zum Thema «offene Informationspolitik» formuliert – ob das EJPD diesen hehren Grundsätzen auch nachkommt, entzieht sich meiner Kenntnis, aber es klingt zumindest gut:

»Eine offene Informationspolitik ist nicht nur ein notwendiges Element der Meinungsbildung, sondern auch ein Instrument für Transparenz und Vertrauensbildung im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozess. Öffentlichkeitsarbeit dient nicht nur der Informationsvermittlung; sie prägt auch wesentlich das Bild mit, das sich das Publikum von Regierung und Verwaltung macht. Öffentlichkeitsarbeit ist deshalb als eine das gesamte Rechtsetzungsverfahren begleitende Daueraufgabe zu betrachten (also bereits während des Vorverfahrens) und nicht als „Anhängsel“, dessen man sich nach getaner Rechtsetzungsarbeit annimmt.»

Bei der Kommunikation zur Betrugsbekämpfung bekommt es die Invaliden-versicherung ja offenbar auch problemlos hin, das Ganze so simpel zu halten, dass es sogar der «einfache Mann von der Strasse» versteht.

Aber Menschen mit psychischen Erkrankungen genau mittels jener Argumentation von IV-Leistungen auszuschliessen, von welcher Bundesrat Burkhalter noch wenige Monate zuvor behauptet hatte, dass man sie garantiert NICHT auf klar diagnostizierbare psychische Erkrankungen anwenden würde – das ist in der Tat dem «einfachen Mann auf der Strasse» nur sehr schwer verständlich zu machen und kann auch kaum so verpackt werden, dass es als vertrauensbildende Massnahme durchgehen würde. Ich habe also durchaus Verständis für die Schwierigkeiten der Verantwortlichen bei der Invalidenversicherung dies logisch nachvollziehbar zu kommunizieren: Weil es nämlich (zumindest für mich) auch nach dem x-ten mal Durchdenken schlichtweg nicht logisch nachvollziehbar ist. Oder ich steh einfach wirklich ganz furchtbar auf der Leitung.

Burkhalter: Bei der IV sparen, um die AHV zu finanzieren

Wer am Freitag Abend das Echo der Zeit von DRS 1 hörte, traute seinen Ohren kaum, da wurde davon gesprochen, dass – wenn Burkhalters Berechnungen für die IV aufgehen und alle Sanierungsmassnahmen funktionieren – die Invalidenversicherung im Jahr 2025 eine Milliarde Franken im Plus wäre. Und Bundesrat Burkhalter hätte auch schon Verwendung für dieses Geld, er sagte wortwörtlich folgendes: «Das wäre wahrscheinlich eine Hilfe für die AHV, wir haben dann mit der IV nicht mehr ein Problem, sondern vielleicht eine Lösung»(Echo der Zeit 1. Teil). Laut Echo der Zeit (2. Teil) denkt Bundesrat Burkhalter laut darüber nach, in vierzehn, fünfzehn Jahren die Lohnabzüge für die IV zu senken und sie um das Gleiche bei der AHV zu erhöhen.

Die Herren in Bern haben ja wiedermal echt Humor. Am Samstag Morgen erklärte nämlich der Direktor des BSV, Yves Rossier, in den News von Radio DRS warum die rigorosen Sparmassnahmen absolut notwendig wären (im Beitrag ab 6.28). Moderator: «Ein umstrittenes Thema ist auch die Reduktion der Kinderrenten, hier übt zum Beispiel auch die CVP Kritik. Entstehen da jetzt nicht zusätzliche Härtefälle?»

Rossier: «Es ist immer schwierig, wenn eine laufende Leistung gekürzt wird, es ist aber aber sicher mit 15 Milliarden Schulden und mit einer Milliarde Defizit, Sie können nicht die IV sanieren nur durch Eingliederung. Eingliederung kann einen grossen Teil dazu beitragen, Eingliederung ist richtiger, menschlicher und lohnt sich auch mittelfristig. Aber das reicht nicht, das finanzielle Loch ist zu gross, es braucht auch Sparmassnahmen, die eben wie sie geschildert haben die laufenden heutigen Leistungen betreffen. Nun, es sind harte Entscheide, das stimmt, aber wenn man ohnehin wegen dieser finanziellen Situation sparen muss – ich würde sagen, das ist der Ort wo man sparen kann und wo es am wenigsten wehtut.»

Genau, bei den Behinderten tut Sparen am wenigsten weh. (Praktischerweise wehrten sich nicht mal deren Organisationen gegen die Sparmassnahmen der IV-Revision 6a, also kann man da ungehindert weitersparen) Und bei der AHV will niemand sparen, weil jeder denkt, er wird zwar mal alt, aber sicher nicht behindert. Also sparen wir bei den Behinderten, damit wir die AHV einst finanzieren können.

IV-Revision 6b: PR-mässig durchorchestriert

Heute kurz nach Mittag war bei Newsnetz unter dem Titel «Bundesrat krebst bei IV-Revision zurück» unter anderem zu lesen: «Die Korrekturen seien keine Reaktion auf die Kritik in der Vernehmlassung, sondern auf die Entwicklungen bei der Invalidenversicherung, sagte Burkhalter. Die bisherigen Revisionen zeigten Wirkung».

«Charmant wie immer der Herr Burkhalter» dachte man sich, er hätte auch sagen können: «Die Vernehmlassungsantworten der Behindertenverbände zur IV-Revision haben wir gar nicht gelesen, die interessieren uns nämlich sowieso nicht». Kurz darauf beim nochmaligen Anklicken zwecks Erstellung dieses Artikels stand da auf einmal: «Burkhalter, der noch letzten Februar das ursprüngliche Sparziel von 800 Mio CHF verteidigt hatte, wich Fragen aus, inwieweit die Regierung mit ihren Anpassungen der Kritik Rechnung trug.»

Ooops….? Kann ja nicht sein. Bisschen später nochmal gucken und dann steht da mittlerweile tatsächlich: «Bei der nächsten Etappe der 6. IV-Revision trägt der Bundesrat der Kritik von Behindertenverbänden und Parteien Rechnung.»

Innerhalb von knapp 2 Stunden mal schnell einen Imagewechsel vom ignoranten und arroganten zum totaaal (naja) behindertenfreundlichen Bundesrat? Da hat die PR-Abteilung des EDI wohl ganze Arbeit geleistet. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die IV-Revision 6b sei insgesamt auch eine Art PR-Meisterstück. Erstmal werden total überissene Sparmassnahmen angekündigt (die von genügend Wirtschaftsverbänden und Parteien fröhlich händeklatschend begrüsst werden) und dann merkt man (welch ein Zufall), dass man sich ja doch etwas «humaner» geben kann. Wobei «human» hier sehr relativ ist – denn natürlich sind die vorgesehenen Sparmassnahmen immer noch komplett überrissen, aber man kann dann natürlich den Behindertenorganisa-tionen aufs Butterbrot streichen, man wäre ihnen schliesslich grosszügig entgegengekommen und es wäre dann schon sehr undankbar von ihnen, wenn sie trotzdem das Referendum zu ergreifen würden.

Die Pro Infirmis lässt sich von solchen Spielchen nicht beeindrucken und äussert sich folgendermassen auf ihrer Website:

  • Die Sanierung der IV einzig durch dauernden Leistungsabbau bei heutigen Anspruchsberechtigten ist inakzeptabel.
  • Keine Kriterien für Nachhaltigkeit der (angeblich) zusätzlich geglückten Eingliederungen: eine reine Behauptung!
  • Nach wie vor keinerlei Verpflichtungen für Arbeitgeber: die Eingliederungsziele sind völlig unrealistisch
  • Stufenloses Rentensystem wird begrüsst, doch ist die Verwertung der Restarbeitsfähigkeit fraglich bis fragwürdig.
  • Die Höhe des Sanierungsbedarfs ist fraglich
  • Der Mechanismus Schuldenbremse (ähnlich wie ALV) ist grundsätzlich zu begrüssen.
  • Die Behindertenorganisationen sind nicht grundsätzlich gegen alle Sparmassnahmen, doch nur im Verbund mit (befristeten?) Zusatzeinnahmen.
  • Der Rückgang der Neurenten ist nicht auf zusätzliche Eingliederungen zurückzuführen, sondern auf eine höchst restriktive Praxis (v.a. bei der medizinischen Beurteilung).

FAZIT: Diese Vorlage muss an den Bundesrat zurückgewiesen werden. Falls dies nicht gelingt, wird ein Referendum gegen diese für den Sozialstaat Schweiz – im negativen Sinne – einzigartige Vorlage leider unumgänglich sein.

Kleine Bemerkung meinerseits am Rande: Perfides Spiel liebes BSV übrigens auch, dass ihr die Kinderrenten in allen neuen Unterlagen nun «Elternrenten» nennt. Das war auch so eine grandiose Idee eurer PR-Menschen, nicht wahr? Mit irgend einer lustigen Begründung von der Art, dass dann Kürzungen leichter durchzusetzen wären, weil beim Wort «Kinderrenten» der Mitleidsfaktor zu gross wäre, aber bei «Elternrenten» die Leute denken, dass das ja wohl sowieso eine Frechheit wäre, dass Behinderte auch noch Renten für’s Elternsein bekommen, schliesslich bekommen Gesunde auch keine Elternrenten (und überhaupt: warum müssen Behinderte überhaupt Kinder bekommen.).

Eine ganz perfide Nummer ist das. Und ich bin mir sicher, in der Vorlage sind noch eine ganze Menge solcher hübsch verpackter Ostereier versteckt.

Die kann man beim BSV suchen gehen.

Schlussbestimmung IV-Revision 6a

Was sich der bürgerlich-rechts dominierte Nationalrat unter der Leitung von Bunderat Burkhalter heute geleistet hat, ist eine absolute Ungeheuerlichkeit.

Der Rat hat eine Schlussbestimmung für die 6. IV-Revision verabschiedet, deren Wortlaut de facto 90’000 Menschen mit Psychischen Erkrankungen potentiell von Versicherungsleistungen der IV ausschliesst.

Wie ist sowas möglich? Um es kurz zu machen: Herr Burkhalter hat mehrfach wiederholt («J’aimerais vous redire une cinquième fois…») dass die Schluss-bestimmung eigentlich gar nicht so gemeint sei, wie sie formuliert ist und Menschen mit schweren psychischen Störungen selbstverständlich nicht ihre Renten verlieren würden.

Fakt ist aber, dass der heute verabschiedete Gesetzestext genau dafür die Grundlage bietet. Ein Gesetz wird nämlich so angewendet, wie es formuliert ist und nicht, wie man es (angeblich) gemeint hat.

Betroffene werden keinerlei Chancen haben, sich gegen die ungerechtfertigte Aufhebung von einst rechtmässig (!) zugesprochenen IV-Renten zu wehren, denn sie können sich dabei auf keinerlei Gesetz beziehen, nur auf BR Burkhalters heutige Beteuerungen, dass der Gesetzestext «gar nicht so gemeint sei» – Was das einst einmal vor Gericht wert sein wird, können Sie sich selbst denken.

Interessant auch, wie diese Bestimmung überhaupt in die IVG-Vorlage gelangt ist: in den ursprünglichen Vernehmlassungsunterlagen war eine andere Formulierung vorgesehen, die sich nur auf Schmerzstörungen unklaren Ursprungs bezog. Still und heimlich fügte die Verwaltung (das BSV!) während der Beratung in der SGK des Nationalrates folgende Bestimmung hinzu:

«Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft.»

Von Pro Mente Sana bei Psychiatern und Juristen in Auftrag gegebene Gutachten ergaben, dass «sämtliche Psychiatrische Diagnosen unter diese Bestimmungen fallen würden, denn: «Gemäss heutigem wissenschaftlichem Stand gelten sowohl die Ursachen (Ätiologie) wie die Entstehung (Pathogenese) von psychischen Störungen als unklar. Die überwiegende Mehrheit der psychischen Störungen lässt sich nicht auf eine nachweisbare organische Grundlage zurückführen»

Aber das Parlament folgte BR Burkhalter, der beteuerte, dass das gar nicht so gemeint sei… Etwas in einem Gesetz zu verankern mit dem Hinweis, dass man das gar nicht so meine, ist schon etwas fragwürdig. Aber bei der Invaliden-versicherung kann man sich sowas ganz offensichtlich problemlos erlauben. Toni Bortoluzzi äusserte sich während der Debatte im Übrigen dahingehend (nicht ohne zu vergessen das Wort «Scheininvalide» zu erwähnen) dass «die Überprüfung der Renten der Glaubwürdigkeit der Sozialversicherung diene».

Vielleicht sollten sich angesichts solcher Aktionen Bundesrat und Parlament mal ernsthaft über ihre eigene Glaubwürdigkeit Gedanken machen.

Nachtrag 18. Dezember 2010: Auch die Vereinigung der Fachanwälte SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht äussert sich sehr kritisch zu dieser Schlussbestimmung.

Antworten von BR Burkhalter zum IV-Betrug (1)

Neulich habe ich hier einige Fragen zur IV-Betrugsbekämpfung aufgeworfen, Herr NR Schelbert (Grüne, Luzern) hat sie aufgenommen und BR Burkhalter hat dazu heute Antworten gegeben. Oder so etwas Ähnliches wie Antworten. Möglicherweise liegt es aber auch einfach an meinen miserablen Französisch-kentnissen, dass ich die zentralen Punkte nicht aus Herrn Burkhalters blumigen Antworten herausfiltern kann. Ich habe mich mal an einer rudimentären Übersetzung versucht.

1. Wie viele Dossiers von Versicherten wurden insgesamt im Jahr 2009 überprüft? Anzahl bestehende Renten? Anzahl der Rentenanträge?

Eine Kontrolle wird durchgeführt, wenn die Gewährung einer Rente untersucht wird  – oder bei einer Rentenrevision. Im Jahr 2009 wurden 51’000 Renten-anträge und 57 000 Rentenrevisionen bearbeitet.
Unter diesen Dossiers existieren Fälle, bei denen ein Betrug ausgeschlossen werden kann und eine Kontrolle überflüssig wäre, beispielsweise bei einer angeborenen Behinderung.

Im Jahr 2009 wurden insgesamt 3190 Verdachtsfälle von Betrugs-bekämpfungsspezialisten untersucht. In 80% der Fälle ging es um Rentenrevisionen, in 20% der Fälle um Rentengesuche.

A la première question, nous répondons de la manière suivante: un contrôle est effectué lorsque l’octroi d’une rente est examiné ou que celle-ci est révisée. En 2009, les offices AI ont rendu 51 000 premières décisions de rentes et effectué 57 000 révisions de rentes. Parmi ces dossiers, il existe des cas où la fraude peut être d’emblée exclue – par exemple lorsqu’une personne présente une infirmité congénitale – et où un contrôle s’avère superflu. En tout, 3190 cas ont été traités par les spécialistes de lutte contre la fraude en 2009; 80 pour cent des personnes touchaient des révisions de rentes tandis que, pour 20 pour cent d’entre elles, on en restait à la première décision.

2. Wie viele der Betrugsfälle betreffen bestehende Renten? Wie viele Rentenanträge?

(au vu du processus appliqué pour le contrôle des dossiers…) müssten eine Mehrheit der Betrugsfälle unter den bestehenden Renten aufgedeckt/festgestellt werden. In der Tat wird bei den Rentenrevisionen ein besonderes Augenmerk auf einen möglichen Betrug gerichtet.
Allerdings gibt die Statistik keine Auskunft, in welchem Rahmen der Betrug entdeckt wurde, ob bei der Neuanmeldung oder bei bereits existierenden Renten.

A la deuxième question, nous apportons la réponse suivante: au vu du processus appliqué pour le contrôle des dossiers, une majorité des cas de fraude devraient être décelés parmi les rentes existantes. En effet, un accent particulier est mis sur la question de la fraude lors des révisions de rente. Toutefois, la statistique tenue en la matière ne permet pas de distinguer dans quel cadre la fraude a été décelée: demande de nouvelles prestations ou rentes existantes?

3. Weshalb wurden bei 240 Betrugsfällen nur in 20 Fällen unrechtmässig bezogene Leistungen zurückgefordert?

Die Rückforderung von bereits ausbezahlten Leistungen macht oft wenig Sinn, angesichts der finanziellen Situation des Versicherten und der geringen Wahrscheinlichkeit, dass er etwas vom Gesamtbetrag zurückerstatten könnte.
Ausserdem ist es oft unmöglich zu beweisen, dass der Versicherte böswillig und absichtlich gehandelt hat, wie es der Artikel 25 des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsgesetz vorsieht.
Und schliesslich wird in der IV-Revision – die zur Zeit in der Beratung (Consultation = Vernehmlassung?) oder besser gesagt in der Auswertung der besagten Vernehmlassung steht – il est prévu de faire passer d’un à trois ans le délai de prescription applicable au droit de demander la restitution des prestations. (Was….?)

A la troisième question, nous répondons comme suit: en cas de fraude, il est mis fin au versement des prestations, et la restitution des prestations déjà versées peut être exigée. L’exigence d’une telle restitution des prestations ne fait souvent que très peu de sens, étant donné la situation financière de l’assuré et la faible probabilité que celui-ci puisse restituer une partie du montant. En outre, il est souvent impossible de prouver que l’assuré était de mauvaise foi et avait agi de manière intentionnelle, comme le prévoit l’article 25 de la loi fédérale sur la partie générale du droit des assurances sociales. Enfin, dans le cadre du deuxième volet de la 6e révision de l’AI – la révision 6b, qui est actuellement en phase de consultation, ou plus exactement de jugement des résultats de ladite consultation -, il est prévu de faire passer d’un à trois ans le délai de prescription applicable au droit de demander la restitution des prestations.

Der zweite Teil der Antworten ist hier: Antworten von BR Burkhalter zum IV-Betrug (2)

Bundesrat Burkhalter stoppt diffamierende Plakatkampagne der IV

Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) stoppt die umstrittene Plakat-kampagne mit Sprüchen wie «Behinderte sind dauernd krank». Bundesrat Didier Burkhalter hat beschlossen, auf die geplante Weiterführung im Frühling 2010 zu verzichten.

Aufgrund massiver Prosteste von verschiedenen Behindertenorganisationen wird die Kampagne per Ende November beendet. Mit der Kampagne sollte eine Diskussion um die Reintegration von Behinderten angeregt werden. Laut Sprecher des BSV «wurde dieses Ziel leider nicht erreicht». Rund 800’000 Franken hat die ganze Kampagne gekostet.

Artikel im Tagesanzeiger

Übrigens: Grossartige Radiosendung von DRS 2 vom 18. Novenber 2009 zur kontraproduktiven Wirkung dieser Plakatkampagne aus wahrnehmungs-psychologischer Sicht.

Nachtrag: Am 08.11.2009 war im 20 Minuten noch folgendes zu lesen: Der verantwortliche IV-Chef Alard du Bois-Reymond meint: «Ich würde es nochmal gleich machen.» Und Kaspar Loeb, CEO der verantwortlichen Werbeagentur Saatchi&Saatchi, ist «sehr zufrieden» mit der Wirkung der Kampagne: «Zum ersten Mal findet über diese Vorurteile eine richtige Debatte statt.»

1. Gut, ist Alard du Bois-Reymond nicht mehr lange IV-Chef (er kann ja die Kampagne an seinem neuen Arbeitsort – dem Bundesamt für Migration – nahtlos weiterführen).

2. Kaspar Loeb, CEO der verantwortlichen Werbeagentur Saatchi&Saatchi soll doch mal kurz aufzeigen, wo genau diese «richtige Debatte über die Vorurteile» stattgefunden hat. Burkhalters Departementssprecher Jean-Marc Crevoisier jedenfalls sagte gestern, eine Diskussion um die Reintegration von Behinderten hätte nicht stattgefunden und das Ziel der Kampagne wurde nicht erreicht. Leider werden Werber nicht für den Erfolg ihrer Kampagnen bezahlt. Sondern dafür, was sie naturgemäss als Werber am besten können; nämlich falsche Versprechungen zu machen.