Weil das Verwaltungsgericht Bern befand, «dass eine generalisierte Angststörung denselben sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen sei, wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. wie sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» hatte ich gefragt «Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat Burkhalter?» Denn Herr Burkhalter hatte im Rahmen der Diskussionen zur IV-Revision 6a im Dezember 2010 beteuert, dass er die klassischen psychischen Krankheitsbilder «für objektivierbar halte» und diese selbstverständlich nicht von der vorgesehenen Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern betroffen sein würden. Ich merkte damals an, dass es den Gerichten wohl einst herzlich egal sein würde, wie Herr Burkhalter persönlich den Gesetzestext auslegt, gelten würde schlussendlich einzig das was im Gesetz steht – und praktisch alle psychischen Krankheiten sind nun mal per Definition «pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage».
Und die Richter aus Bern sehen das mit der Objektivierbarkeit einer Angststörung (eine ganz klar diagnostizierbare «klassische» psychische Erkrankung) nun offenbar tatsächlich ganz anders als Herr Burkhalter.
Wie das Alles zu interpretieren ist, hat mir dann Herr Ritler, der Leiter der Invalidenversicherung, in einer Mail erklärt. Und ich hätte das wirklich gerne in wenigen Zeilen für meine Leserinnen und Leser zusammengefasst (siehe den rot eingefärbten Text weiter unten) nur: ich musste kapitulieren. Ich hab sehr sehr lange darüber nachgedacht, aber ich hab’s offenbar schlichtweg nicht verstanden.
(Hervorhebungen wie im Original)
Sehr geehrte Frau Baumann
Wir beziehen uns auf Ihr E-Mail vom 23. Mai 2011 an Herrn Crevoisier und äussern uns zu Ihren Fragen in Bezug auf die Schlussbestimmung der 6. IV-Revision wie folgt:
Wie Sie richtig schreiben, hat Bundesrat Burkhalter in der parlamentarischen Diskussion und zu Handen der Materialien ausdrücklich festgehalten, dass die Überprüfung von laufenden Renten im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a nur Beschwerdebilder umfasst, die von einem Arzt in objektiver Weise nicht erfasst werden können, d.h. Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind, wie somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrom, Neurasthenie, dissoziative Bewegungsstörung, Distorsion der HWS.
Ebenfalls ausdrücklich festgehalten hat er, dass im Rahmen der Schluss-bestimmung keine Überprüfung von Beschwerdebildern erfolgt, bei denen eine Diagnose gestützt auf klinische (psychiatrische) Untersuchungen klar gestellt werden kann, wie Depressionen, Schizophrenie, Psychosen wie Zwangsstörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen. Aus unserer Sicht sind auch die im Verwaltungsgerichtsentscheid des Kantons Bern genannten Angststörungen objektivierbar und stellen eindeutig diagnostizierbare Gesundheitsstörungen dar.
Diese Aussagen bestätigen wir und sie entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers, wie dies die Protokolle der Parlamentsdebatte deutlich zeigen. Wir versichern Ihnen, dass es nicht im Interesse des Bundesrates ist, psychisch behinderte Menschen von der IV auszuschliessen. An dieser Haltung ändert auch der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. März 2011 nichts.
In diesem Zusammenhang halten wir in genereller Art fest, dass von der Invalidenversicherung immer – und zwar unabhängig von der Art des Leidens – zu prüfen ist, ob eine Person trotz einem vorhandenen Leiden erwerbsfähig ist oder nicht und falls ja, in welchem Umfang. Dies ist in Artikel 8 Absatz 1 ATSG festgehalten:„Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit“. Diese versicherungs-rechtliche Prüfung findet in jedem Fall und unabhängig von einer Diagnose statt. Das ist nicht neu. Ebenfalls nicht neu ist, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung nicht massgebend ist. Dies entspricht einer mehrjährigen Bundesgerichtspraxis, die im Rahmen der 5. IV-Revision in Artikel 7 Absatz 2, zweiter Satz ATSG aufgenommen wurde: „Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsun-fähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.“
Im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a geht es nun darum, Beschwerdebilder, bei denen die Medizin an ihre Grenzen stösst und eine entsprechende Diagnose einzig gestützt auf subjektive Aussagen der Patienten beruht, unter den dargelegten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erneut zu überprüfen. Davon betroffen sind – wie bereits erwähnt – Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind.
In Bezug auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern können wir uns wie folgt äussern:
- Bei diesem Entscheid handelt es sich um die erstmalige Beurteilung eines Rentengesuchs. Das Gericht kommt darin zum Schluss, dass die generalisierte Angststörung und ihre Folgen in diesem konkreten Fall mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind (versicherungsrechtliche Überprüfung).
- Demgegenüber geht es bei den Schlussbestimmungen um die Überprüfung von laufenden Renten (während drei Jahren nach Inkrafttreten der Gesetzesrevision). Der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts ist darauf nicht anwendbar. Wir versichern Ihnen, dass der Wille des Gesetzgebers in die Umsetzungsarbeiten der Revision 6a einfliessen wird.
Wir hoffen, Ihnen mit diesen Ausführungen zu dienen und grüssen Sie freundlich
Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
Geschäftsfeld Invalidenversicherung
Ich hab dann nochmal nachgefragt:
Sehr geehrter Herr Ritler
Vielen Dank für Ihre Stellungnahme vom 1. Juni 2011. Da Herr Crevoisier den Wunsch geäussert hat, Ihre Antwort möge den Weg auf meinen Blog finden, möchte ich mich kurz versichern, ob ich alles richtig verstanden habe und für meine Leser (die zum überwiegenden Teil keine Juristen sind) das Ganze folgendermassen zusammenfassen kann:
1. Das BSV hält Angststörungen bei laufenden IV-Renten für objektivierbare Gesundheitsstörungen und zählt sie deshalb ausdrücklich nicht zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage. Aus diesem Grund werden bestehende Renten aufgrund von Angststörungen im Rahmen der Schlussbestimmung zur IV-Revision 6a nicht überprüft.
2. Das BSV hält Angststörungen bei erstmaligen Rentengesuchen für nicht objektivierbare Gesundheitsstörungen* und gibt deshalb weder Weisungen an die kantonalen IV-Stellen, dass die Försterkriterien für die versicherungsrechtliche Beurteilung bei Angststörungen nicht angewandt werden dürfen, noch würde es – sollte der Entscheid des Verwaltungsgerichtes Bern vom Bundesgericht gestützt werden – intervenieren.
3. Im Falle einer Bestätigung des Berner Urteils durch das Bundesgericht wäre dann auch Punkt 1 hinfällig, da es Sinn und Zweck der Schlussbestimmung ist, alte Renten nach dem selben Massstab wie Neurenten zu behandeln.
*Die von Ihnen vorgebrachte Darstellung, dass die Berner IV-Stelle wie das Verwaltungsgericht die Angststörung nur in diesem konkreten Fall für mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar halten, ist nicht schlüssig. Denn das Gericht argumentiert, dass in diesem konkreten Fall eine «Angststörung mit primär vegetativer Symptomatik» vorläge und es dementsprechend angezeigt sei, die Rechtssprechung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage zur Anwendung zu bringen.
Da schwere Angststörungen immer mit einer starken «vegetativen Symptomatik» einhergehen (die entgegen der Darstellung des Gerichtes niemals primär, sondern immer sekundär ist, da sie ja durch die primäre psychische Erkrankung erst ausgelöst wird – und demnach einerseits sehr wohl erklärbar ist und andererseits auch gar nicht organisch bedingt sein kann) handelt es sich hier nicht um einen Einzelfallentscheid, sondern um einen Grundsatzentscheid. Nach gängiger Rechtssprechung kann die selbe Diagnose nicht einmal als objektivierbar und ein andermal als nicht objektivierbar gelten.
Es ist irrelevant, ob in diesem konkreten Fall tatsächlich eine invalidisierende Angststörung vorliegt oder nicht, es geht darum, dass zur Überprüfung der Zumutbarkeit einer Willensanstrengung (wie bei den «nicht objektivierbaren Störungen») die Försterkriterien herangezogen wurden. Und dies mutet spätestens dann vollends absurd an, wenn die «zumutbare Willensanstrengung» aufgrund einer «fehlenden psychischen Komorbidität» bejaht wird. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine psychische Komorbidität bei einer nichtorganischen Schmerzerkrankung eine zumutbare Willensanstrengung verunmöglichen sollte, während im umgekehrten Fall, nämlich bei einer psychiatrischen Haupt(!)diagnose mit körperlichen Begleitsymptomen die generelle Vermutung besteht, dass sie mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sei – und davon nur dann ausnahmsweise abzusehen wäre, wenn eine weitere psychische Krankheit bestehen sollte. (Es besteht ja bereits eine klar diagnostizierte psychische Krankheit: Eine Angststörung nämlich).
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Für eine kurze Rückmeldung zu den eingangs aufgeführten drei Punkten wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wie bereits erwähnt, möchte ich den Sachverhalt auch den Nicht-Juristen unter meinen Bloglesern verständlich und nachvollziehbar darlegen können.
Mit freundlichen Grüssen
Marie Baumann
Herr Ritler antwortete:
Guten Tag Frau Baumann
Wir haben Ihre Mail inhaltlich geprüft.
Ich bitte Sie, unseren Text vom 1. Juni 2011 für Ihren Blog zu verwenden. Auch wenn unsere Antwort und Aussagen technisch erscheinen mögen, so entspricht der Inhalt dem Sachverhalt.
Freundliche Grüsse
Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung
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Ich habe deshalb vor einer Zusammenfassung kapituliert und mich entschieden, den ganzen Briefwechsel zu publizieren.
Ich möchte dazu aber noch kurz eine Aussage von Ralf Kocher, dem Leiter des Rechtsdienst der IV anfügen, welche er in einem Gespräch mit Rechtsanwalt Massimo Aliotta gemacht hatte: «(…) Das Hauptproblem sind nicht die Mitwirkungsrechte, sondern das grosse Misstrauen gegenüber der IV-Verwaltung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Anwälte potentiellen Klienten suggerieren, sie bräuchten von Anfang an einen Rechtsvertreter, sonst seien sie chancenlos.»
Also… wenn man als juristischer Laie schon beim Verstehen einer E-Mail des Leiters der Invalidenversicherung ziemlich chancenlos ist, steigert das das Vertrauen in die ganze Institution nicht unbedingt… Wenn der IV und ihren Mitarbeitenden tatsächlich etwas daran gelegen wäre, das Vertrauen in die Institution IV zu stärken, dann wäre eine transparente Informationspolitik das A und O. Die Kollegen vom EJPD haben da mal was Schönes zum Thema «offene Informationspolitik» formuliert – ob das EJPD diesen hehren Grundsätzen auch nachkommt, entzieht sich meiner Kenntnis, aber es klingt zumindest gut:
»Eine offene Informationspolitik ist nicht nur ein notwendiges Element der Meinungsbildung, sondern auch ein Instrument für Transparenz und Vertrauensbildung im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozess. Öffentlichkeitsarbeit dient nicht nur der Informationsvermittlung; sie prägt auch wesentlich das Bild mit, das sich das Publikum von Regierung und Verwaltung macht. Öffentlichkeitsarbeit ist deshalb als eine das gesamte Rechtsetzungsverfahren begleitende Daueraufgabe zu betrachten (also bereits während des Vorverfahrens) und nicht als „Anhängsel“, dessen man sich nach getaner Rechtsetzungsarbeit annimmt.»
Bei der Kommunikation zur Betrugsbekämpfung bekommt es die Invaliden-versicherung ja offenbar auch problemlos hin, das Ganze so simpel zu halten, dass es sogar der «einfache Mann von der Strasse» versteht.
Aber Menschen mit psychischen Erkrankungen genau mittels jener Argumentation von IV-Leistungen auszuschliessen, von welcher Bundesrat Burkhalter noch wenige Monate zuvor behauptet hatte, dass man sie garantiert NICHT auf klar diagnostizierbare psychische Erkrankungen anwenden würde – das ist in der Tat dem «einfachen Mann auf der Strasse» nur sehr schwer verständlich zu machen und kann auch kaum so verpackt werden, dass es als vertrauensbildende Massnahme durchgehen würde. Ich habe also durchaus Verständis für die Schwierigkeiten der Verantwortlichen bei der Invalidenversicherung dies logisch nachvollziehbar zu kommunizieren: Weil es nämlich (zumindest für mich) auch nach dem x-ten mal Durchdenken schlichtweg nicht logisch nachvollziehbar ist. Oder ich steh einfach wirklich ganz furchtbar auf der Leitung.