Als ich für den Leitfaden «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» abklärte, welche kantonalen Eingliederungsangebote es gibt (damit sich Betroffene selbst darüber informieren können), stiess ich bei einigen Anbietern auf eine gewisse Verwunderung: Warum ich die denn im Leitfaden auflisten wollte – die Betroffenen könnten doch sowieso nicht auswählen, die würden ihnen (also der Institution) von der IV zugewiesen? Das ist nun schon eine kleine Weile her und unterdessen wurde die Webseite meinplatz.ch aufgeschaltet und listet für aktuell elf Kantone Angebote im Bereich «Wohnen», «Arbeiten» und «Tagesstruktur» auf. Auf der Seite ist zu lesen:
Ganz im Sinne der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) und Inklusion setzen sich die kantonalen Ämter zusammen mit INSOS Zürich dafür ein, dass Menschen mit Behinderung:
- freien Zugang zu Informationen haben
- eine Übersicht über die Vielfalt der Angebote erhalten
- selbstbestimmt ihr Leben gestalten können und eine Wahlfreiheit haben
Das klingt schon mal gut…
Unterschiedliche Erwartungen oder: Wer zahlt, befiehlt
Beim Durchlesen der ersten Aufgabe der aktuellen «Berufsprüfung für Job Coach/in Arbeitsintegration» wird allerdings klar, dass das mit der «Selbstbestimmung» noch nicht flächendeckend verwirklicht ist:
Der/die Kandidat/in beschreibt, wie er/sie ein Eingliederungsprojekt mit einem/einer Teilnehmer/in in Gang setzt. Er/sie beschreibt, wie er/sie den Auftrag klärt, um die Handlungsspielräume zu definieren, innerhalb derer das Projekt durchgeführt werden kann. Er/sie beschreibt die Erwartungen der Zuweisenden (IV-Berater/in, RAV, Sozialdienste) und wie er/sie diese Erwartungen erfüllt.
Vor lauter Gendern wurde ganz vergessen, dass der/die Kandidat/in vielleicht nicht nur nach den Erwartungen des Zuweisers, sondern auch nach denjenigen der Klientin fragen und erläutern sollte, wie diese erfüllt werden. Aber in einem System, wo Versicherte «zugewiesen» werden, gilt es natürlich vornehmlich die Erwartungen der Zuweiser zu erspüren und zu erfüllen. Schliesslich möchte man als Job Coach / Institution weiterhin Klient·innen zugewiesen bekommen. Die Erwartung der IV an eine «erfolgreiche» Eingliederung ist allerdings nicht, dass der/die Klient·in ein existenzsicherndes Einkommen erzielen kann, sondern vor allem, dass er oder sie danach keine IV-Rente bezieht:
Die Wirkung einer beruflichen Massnahme lässt sich daran messen, ob ein Bezüger danach eine Rente erhält oder nicht.
«Eingliedern statt ausschliessen – Gute berufliche Integration bei Invalidität lohnt sich», Avenir Suisse 2021, Seite 42.
Die Erwartung der Klient·innen hingegen ist natürlich eine andere: Eine Eingliederung ist erfolgreich, wenn sie längerfristig ein existenzischerndes Einkommen erzielen können. Und falls dies nicht möglich ist, eine IV-Rente zugesprochen wird. Der dritte (gar nicht so seltene) Fall: «Keine erfolgreiche Eingliederung und auch keine Rente» entspricht wohl kaum je den Erwartungen der Versicherten. Doch deren Erwartungen spielen bei der Eingliederung keine Rolle. Wo kämen wir denn da hin, wenn Versicherte darauf zählen könnten, dass sie nach dem Scheitern einer Eingliederungsmassnahme finanziell abgesichert sind? Die würden sich ja gar keine Mühe mehr geben! Die wollen doch alle gar nicht arbeiten, die wollen bloss eine Rente! So jedenfalls die Annahme, die viele rechts-bürgerliche Politiker·innen in den letzten Jahren immer vehementer vertraten und die als Grundstimmung in die IV-Gesetzgebung eingeflossen ist. Siehe auch: «Traumberuf IV-Rentner?»
Subjektorientiertes Coaching und neue Arbeitsformen
Entgegen der Vorstellung von vielen Politiker·innen wollen die meisten Menschen arbeiten. Denn «Arbeiten» ermöglicht es, sich mit seinen Fähigkeiten einzubringen, soziale Kontakte zu pflegen, finanzielle Selbstbestimmung usw. usf. Ein Status als IV-Bezüger·in ist hingegen nicht sonderlich attraktiv. Was die Damen und Herren Gesetzgebenden nämlich oft vergessen ist; wer mit der IV in Kontakt tritt treten muss, hat erhebliche gesundheitliche Probleme. Und schwere gesundheitliche Probleme zu haben, ist alles andere als «attraktiv». Mit einer psychischen Erkrankung leben zu müssen, ist oft sehr mühsam, anstrengend und frustrierend. Trotz und mit einer schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, ist äusserst schwierig. Entgegen gängigen Vorstellungen ist es nicht damit getan, dass Betroffene einfach gut «trainiert» und dann bis zur Pensionierung in irgendeine «Nische» versorgt werden (können). Zumindest dann nicht, wenn es um es sich um eine Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt handelt. Denn der ist äusserst dynamisch: Aufgaben, Anforderungen, Teams und Vorgesetzte können heutzutage schnell wechseln, was bei Mitarbeitenden, die psychisch nicht so stabil, flexibel und belastbar sind, dazu führen kann, dass sie an einem Arbeitsplatz, an dem sie vorher gut «funktionieren» konnten, eben plötzlich nicht mehr funktionieren.
Die Aufgabe von «Integrationsspezalisten» aller Art besteht also nicht (alleine) darin, einen «passenden» Arbeitsplatz für ihre Klient·innen zu finden, vielmehr sollten sie Betroffene ganz grundsätzlich befähigen, trotz/mit psychischer Erkrankung im ersten Arbeitsmarkt bestehen zu können. Auch wenn in Eingliederungsbusiness gerne betont wird, dass man auf die «Stärken» der Klientin·innen fokussiere, besteht für die Betroffenen eine ganz zentrale Frage darin, wie sie im Arbeitsumfeld mit ihren krankheitsbedingten Schwierigkeiten und «Defiziten» umgehen sollen. Deshalb ist es wichtig, folgende Dinge zu klären:
- Welche Fähigkeiten können trainiert werden – und welche nicht?
- Welche Problematiken lassen sich evtl. durch Therapie/Medikamente verbessern?
- Welche Defizite können durch geeignete Arbeitsplatzanpassungen ausgeglichen werden?
- Und welche Einschränkungen müssen sowohl von der betroffenen Person als auch vom Arbeitgeber einfach akzeptiert werden?
Dass jemand mit einer psychischen Erkrankung lernt, seine Fähigkeiten wie auch die Defizite selbst realistisch einzuschätzen und diese auch klar kommunizieren kann, ist bei einer Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt sehr wichtig. Arbeitgeber wollen wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn Betroffene krankheitsbedingte Anpassungen am Arbeitsplatz benötigen, muss der Arbeitgeber deren Sinn und Zweck nachvollziehen können. Denn bei psychisch beeinträchtigten Personen besteht immer noch oft das Vorurteil, dass sie einfach faul/bequem seien und wenn sie sich etwas mehr anstrengen würden, bräuchten sie auch keine Extrawurst. Doch bei den Anpassungen geht es nicht um eine «Extrawurst», sondern darum, dass Betroffene möglichst gut arbeiten können. Wenn sich jemand z.B. krankheitsbedingt nur eine beschränkte Zeit lang konzentrieren kann, lässt sich das nicht nicht mit «mehr Anstrengung» lösen, sondern indem die Arbeitsaufgaben entsprechend der Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf angepasst werden.
Um das Vorurteil zu entkräften, dass Anpassungen von Betroffenen nur aus «Bequemlichkeit» eingefordert werden, kann es hilfreich sein, wenn ein Job Coach oder die behandelnde Therapeutin in einem Gespräch mit der Arbeitgeber genau darlegt, warum gewisse Anpassungen krankheitsbedingt sinnvoll sind. Doch nicht alle Betroffenen mögen von einer Job-Nanny sichtbar begleitet werden. Wer längerfristig mit/trotz psychischer Beeinträchtigung in einem anspruchsvollen beruflichen Umfeld im ersten Arbeitsmarkt bestehen möchte, muss befähigt werden, seine Bedürfnisse im Arbeitsalltag selbst wahrnehmen, kommunizieren und durchsetzen zu können. Dabei müssen selbstverständlich auch die Bedürfnisse des Arbeitgebers anerkannt werden. Gewisse Anpassungen sind betriebsbedingt schlicht nicht möglich. Die Pandemie halt allerdings gezeigt, dass beispielsweise die Arbeit im Homeoffice gar nicht so unmöglich ist, wie gewisse Arbeitgeber vorher gerne behaupteten. Hier bieten sich Chancen für Menschen, die krankheitsbedingt nicht immer im Büro arbeiten können.
Homeoffice: Ja, aber…
Sogar das Bundesgericht hat im Urteil 9C_15/2020 festgehalten:
Die IV-Stelle weist zu Recht darauf hin, dass der (theoretisch) ausgeglichene Arbeitsmarkt, der hier massgeblich ist (vgl. E. 6.1), – gerade – im kaufmännischen Bereich diverse Arbeitsstellen vor sieht, welche grossmehrheitlich auch von zu Hause aus ausgeführt werden können, da sie nicht an einen bestimmten Arbeitsort gebunden sind. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit der attestierten 80%igen Arbeitsfähigkeit ist demzufolge zu bejahen.
Im Urteil 9C_426/2020 hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung allerdings folgendermassen präzisiert:
Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen besteht die medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit von 50 % für kaufmännische Tätigkeiten in Heimarbeit und ohne Zeit- und Leistungsdruck. Wie das Bundesgericht unlängst entschieden hat, weist der hier massgebliche (theoretische) ausgeglichene Arbeitsmarkt diverse Arbeitsstellen für kaufmännische Angestellte auf, welche grossmehrheitlich von zu Hause aus ausgeführt werden können (vgl. Urteil 9C_15/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 6.2.3). Auf dieses Urteil ist jedoch nicht weiter einzugehen, ist die Beschwerdeführerin vorliegend doch auf jeden Fall nicht in der Lage, auch nur sporadisch den Betrieb ihres Arbeitgebers auszusuchen. Damit ist es ihr auch kaum möglich, an einem Vorstellungsgespräch teilzunehmen, womit das Finden einer neuen Stelle stark erschwert wird. Da ihr zudem gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen eine Mobilität auch im näheren Radius zu ihrer Wohnung unzumutbar ist, könnte für das Bringen und Holen von Arbeitsunterlagen auch nicht ohne Weiteres auf die Dienste der Post oder anderer Kurierdienste zurückgegriffen werden. Im Weiteren wäre sie selbst bei einer Tätigkeit zu Hause auf einen sehr wohlwollenden Arbeitgeber angewiesen und es dürfte in dieser Tätigkeit keinerlei Leistungsdruck bestehen. Insgesamt erscheint damit das Entgegenkommen, welches ihr von einem Arbeitgeber entgegengebracht werden müsste, als so erheblich, dass das Finden einer entsprechenden Stelle im jetzigen Zeitpunkt (vgl. allerdings im Hinblick auf spätere Beurteilungen auch die Schadenminderungspflicht gemäss Art. 7 IVG) zum Vornherein als unrealistisch erscheint.
Man möchte lieber nicht wissen, was mit der Rechtsprechung passiert, wenn die Bunderichter·innen erfahren, dass Arbeitsunterlagen heutzutage hauptächlich per E-Mail verschickt und Bewerbunggespräche über Zoom durchgeführt werden können. Denn eine ausschliessliche Tätigkeit im Homeoffice ist noch aus anderen Gründen nicht immer umsetzbar. Die meisten Betriebe funktionieren (zumindest wenn nicht gerade Pandemie ist) nicht ausschliesslich virtuell. Es gibt reale Sitzungen, Schulungen u.s.w. und in Pausengesprächen werden informelle Informationen ausgestauscht, die Mitarbeitende nicht mitbekommen, die nur im Homeoffice arbeiten. Dieses Nichteeingebundensein kann bei gewissen psychischen Krankheitsbildern (und übrigens auch für manche soweit «gesunde» Menschen) problematisch sein. Bei anderen Betroffenen hingegen eröffnen sich durch eine (teilweise) Tätigkeit im Homeoffice erst berufliche Möglichkeiten, die sie sonst krankheitsbedingt nicht hätten. Bei dieser Personengruppe muss gefragt werden, ob es wirklich sinnvoll ist, sie in Eingliederungsprogramme zu stecken, bei denen vor allem die tägliche Präsenzpflicht eingeübt und erweitert werden soll, obwohl dies krankheitsbedingt wenig erfolversprechend ist. Oder ob es nicht zielführender wäre, ihnen in einem Coaching die Skills beizubringen, die sie benötigen, um trotz/mit psychischer Beeinträchtigung im Homeoffice arbeiten zu können.
Individuelle Unterstützung innerhalb starrer Strukturen?
Es ist natürlich unrealistisch, wenn davon ausgegangen wird, dass heutzutage jede/r von zu Hause aus z.B. als Programmierer arbeiten oder sich gar als Influencerin oder mit einem Webshop selbständig machen und damit ein existenzsicherndes Einkommen generieren kann. Für die meisten Menschen mit einer schwerwiegenden Erkrankung/Behinderung ist das nicht möglich. Einzelnen Betroffenen mit entprechenden Fähigkeiten und einem guten Krankheitsmangement bietet die Digtialisierung allerdings tatsächlich gewisse berufliche Möglichkeiten, die sie im traditionellen Arbeitsmarkt aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung schlicht nicht haben. Solche Menschen sind in einem System, wo einzugliedernde Personen von der IV einer Institution «zugewiesen werden» aber schlicht nicht vorgesehen. Entsprechend gibt es auch keine Unterstützungsangebote, die ihnen Krankheits- und Selbstmanagement oder andere in ihrer spezifischen Situation wichtige Skills vermitteln. Denn das bestehende Unterstützungsystem geht nicht von den Bedürfnissen der Betroffenen, sondern von den Angeboten und Bedürfnissen der Institutionen aus.
Auf der Seite der Pro Infirmis ist folgendes zu lesen:
In der Schweiz zeichnet sich ein dringend notwendiger Paradigmenwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ab. Dabei bezahlen die Behörden Betreuungsgelder nicht an Institutionen (Objekte), sondern direkt an Betroffene (Subjekte).
Leider handelt es sich dabei nicht um den Themenbereich Eingliederung/Arbeit, sondern es geht um das Thema Wohnen. Dazu Beda Meier, Direktor des Sozialunternehmens Valida in St. Gallen:
(…) Aktuell werden quer durch die Schweiz die kantonalen Behindertengesetze über arbeitet. Bei all diesen Revisionen geht es aber vor allem um den Wohnbereich. Mittels neuer Finanzierungsmodelle sollen Menschen mit Unterstützungsbedarf frei entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen möchten. Das ist zweifellos eine wichtige Forderung. Die Frage von Chancen und Rechten im Bereich Arbeit und Tagesstrukturen wird in der Schweiz aber im Moment nicht diskutiert.
Was fordern Sie konkret?
Es gibt heute für alle Dienstleistungen an der Nahtstelle zwischen dem offenen und dem ergänzenden Arbeitsmarkt keine Finanzierungen. Die Kantone sehen sich einzig zuständig für den sogenannt stationären Bereich. Wir erhalten also nur Gelder für unsere Plätze in den Werkstätten, aber keine Finanzierung, um teilleistungsfähige Mitarbeitende in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten und sie selbst sowie das Arbeitsumfeld dort zu unterstützen. Auf Bundesebene finanziert die IV einige ambulante Dienstleistungen, aber noch zu wenig.Sie kritisieren die strikte Aufteilung in stationäre und ambulante Dienstleistungen?
Wir müssen wegkommen von der Vorstellung stationär versus ambulant. Finanziert werden müssen massgeschneiderte Dienstleistungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die einen Beitrag leisten zur Chancengleichheit. An der Nahtstelle zwischen ergänzendem und erstem Arbeitsmarkt beispielsweise müssten Dienstleistungen finanziert werden, welche eine gute Durchlässigkeit unterstützen.So wie die Finanzierung jetzt läuft, können Sozialunternehmen eigentlich gar kein Interesse daran haben, ihre Mitarbeitenden in den offenen Arbeitsmarkt zu begleiten?
Interview in Artiset, Ausgabe 04/05 | 2022
Das ist richtig. Wenn einer unserer Mitarbeitenden den Übertritt schafft, verlieren wir Geld. Und dennoch setzen wir alles daran, Mitarbeitende beim Übertritt zu unterstützen, obwohl wir, wie gesagt, dafür keine Finanzierung erhalten. Aufgrund dieser Situation sind wir gefordert, jedes Jahr deutlich schwarze Zahlen zu schreiben und Reserven aufzubauen, damit wir Vakanzen überbrücken können.
Das Verzwickte daran ist: Ein Sozialunternehmen schreibt hauptsächlich schwarze Zahlen, indem es den beeinträchtigten Mitarbeitenden möglichst tiefe Löhne zahlt und gleichzeitig versucht, die leistungsstärksten Mitarbeitenden im Betrieb zu halten und sie eben gerade nicht in den ersten Arbeitsmarkt begleitet. Kurz: So wie das System momentan ausgestaltet ist, können die Interessen der Betroffenen gar keine relevante Rolle spielen. Damit sich dies ändert, ist auch im Bereich der Eingliederung ein Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung dringend angezeigt.