Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern · Update 2023: Das BSV mag offenbar Märchen [2/3]

Wie im letzten Artikel ausgeführt, veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen im Dezember 2022 den «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020» und hielt in der zugehörigen Medienmitteilung fest:

Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.

Detailliertere Codierung: kein Mehrwert für Versicherte und IV, Medienmitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherungen, 09.12.2022

Die «Beweisführung» mittels derer das BSV im Bericht zum Schluss kommt, dass Versicherte mit psychischen Erkrankungen unbedingt weiterhin mittels der aus den 60er Jahren stammenden Codierung erfasst werden müssen, mäandert zwischen «abenteuerlich», «Arbeitsverweigerung» und «absurd».

Im Dezember 2022 habe ich deshalb einige Fragen ans BSV gerichtet, worauf ich im Februar 2023 die Antworten erhalten habe. Im Folgenden der erste Teil dieser Fragen, die Antwort des BSV, sowie mein jeweiliger Kommentar dazu:

1. Hält es das BSV für angemessen, im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) die Bezeichnungen «Idiotie» und «Psychopathie» zu verwenden?

BSV: Der Begriff Idiotie ist in der Tat veraltet. Im Rahmen einer kommenden Überarbeitung prüfen wir die Angemessenheit der Begriffe. Diese Arbeiten mussten angesichts der prioritären Gesetzesrevision zurückgestellt werden.

Kommentar: Zum Zeitpunkt der Einreichung des Postulates «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» im Juni 2020 wurde der Begriff «Idiotie» in den damals gültigen «Codes zur Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS-C)» an zwei Stellen verwendet:

Im Kapitel über die psychischen Störungen («XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen») als Querverweis:
649  Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen), Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI

Und am Zielort des Verweises («XXI. Angeborene Leiden ausserhalb des Anhangs GgV):
502 Oligophrenie (Idiotie, Imbezillität, Debilität, siehe auch Ziff. 403).

Was ich zur Zeit der Fragestellung an das BSV im Dezember 2022 nicht realisierte: Seit der Einreichung des Postulates zur differenzierten Codierung im Jahr 2020 ist die «Idiotie» auf wundersame Weise aus dem Code 502 verschwunden und hat der «Intelligenzminderung» Platz gemacht. Im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) sieht der Code 502 nämlich so aus:

502 Angeborene Intelligenzminderung

Im Kapitel über die psychischen Krankheiten ist der Verweis auf die Idiotie» aber immer noch vorhanden. Der Forderung von Inclusion Handicap für zeitgemässe Begriffe für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde also an entsprechender Stelle offenbar ohne grossen Aufhebens Folge geleistet (womit sich das «Interesse» von Inclusion Handicap am Vorstoss dann auch erledigt hatte), während das ganze Psychokapitel nicht angefasst wird und buchstabengetreu in den 60er Jahren verhaftet bleiben muss. Und dies, egal, wie absurd das im Detail ist, wie der Kommentar zur nächsten Frage zeigt:

2. Welche medizinischen Diagnosen werden unter dem Begriff bzw. Code «Psychopathie» kategorisiert?

BSV: Definitionsgemäss wird unter einer Psychopathie eine schwere Form der antisozialen (od. dissozialen) Persönlichkeitsstörung im Sinne eines weitgehenden oder völligen Fehlens von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, verstanden. In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten.

Kommentar: Das hat der/die BSV-Mitarbeitende sehr schön aus Wikipedia abgeschrieben. Gibt ein Sternli! Aber hat es beim Abschreiben von «In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten» nicht zumindest ein bisschen geklingelt? Es ist zudem äusserst skurril, dass für eine einzelne ganz spezifische Form der Persönlichkeitsstörung die (veraltete und heute oft als Schimpfwort benutzte) Kategorie «Psychopathie» existiert, während alle anderen Persönlichkeitsstörungen irgendwo im grossen Nirvana der Sammelkategorien «646» (Psychogene oder milieureaktive Störungen) oder «649» (Übrige geistige und charakterliche Störungen) verschwinden.

3. Die psychischen Gebrechen werden mit neun der knapp 300 Gebrechenscodes erfasst. Eine detaillierte Codierung der psychischen Gebrechen böte laut Bericht keinen Mehrwert. Welchen Mehrwert bietet die detaillierte Erfassung der körperlichen Gebrechen mit den restlichen ungefähr 290 Gebrechenscodes?

BSV: Diese Codierung ist zu weiten Strecken historisch bedingt. In den letzten Jahren wurden auch die Codierungen bei körperlichen Gebrechen nicht erweitert. Seit die IV als Eingliederungsversicherung positioniert worden ist, haben die Diagnosen ihren Wert nur im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen. Wesentlich ist – wie im Postulatsbericht hervorgehoben – die Sicht auf das Potenzial der versicherten Personen.

Kommentar: Die Aufgabe einer IV-Statistik liegt nicht darin, das «Potential» der Leistungsbeziehenden abzubilden, sondern die Gründe für deren Leistungsbezug. Und diese lassen sich zwar nicht direkt, aber zumindest indirekt auf eine zugrundeliegende Erkrankung/Behinderung zurückführen.

Aktuell will die Öffentlichkeit vom BSV auch nicht wissen, «dass Long Covid-Betroffene ganz viel Potential haben», sie will wissen, wieviele Betroffene sich bei der IV anmelden mussten und wieviele davon schliesslich Leistungen erhalten. Als ich Anfang 2021 beim BSV nachfragte, sah man noch keine Notwendigkeit für Long Covid einen spezifischen Code einzuführen. Erst aufgrund des (ebenfalls von mir angeregten) parlamentarischen Vorstosses «Monitoring IV-Beziehende mit Long Covid» im März 2021 bequemte sich die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) schliesslich dazu, die entsprechenden Anmeldungen und Leistungszusprachen zumindest mittels einer Excel-Tabelle(!) zu erfassen. Ohne eindeutige Codierung ist die Nachverfolgbarkeit der Wege, den die Versicherten durch das IV-System nehmen, aber nicht gewährleistet. Der Witz ist: Codiert werden die Versicherten im IV-System natürlich trotzdem, einfach mit irgendeinem Code. Und dieser Code dürfte im Fall von Long Covid nicht selten der «irgendwas psychisches halt» Code 646 sein. Statistische Verzerrungen sind also vorprogrammiert.

Und was das «historisch bedingt» betrifft: Diese Argumentationslinie kennen wir vom BSV bereits von anderer Stelle. Interessant daran ist einfach, dass sich dieses «historisch bedingt» rein zufällig immer zum Nachteil von Versicherten mit psychischen Erkrankungen auswirkt (die mittlerweile immerhin 50% der IV-Beziehenden ausmachen). Und diese Nachteile lassen sich zudem leider leider niemals beheben, wie auch dieser Ausschnitt aus einem WOZ-Artikel vom letzten Herbst zeigt:

Die Blindenorganisationen erhalten pro Jahr 20 Millionen Franken, das Geld wird über den Dachverband SZBlind verteilt. Nur Pro Infirmis – die Dachorganisation, die alle Menschen mit Beeinträchtigungen vertritt – erhält mehr. Pro Mente Sana, der Dachverband, der sich spezifisch um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmert, erhält jedoch nur 2,7 Millionen Franken. Warum das so ist, lässt sich kaum ergründen. «Diese Verteilung ist auch historisch bedingt und kann deshalb nicht angepasst werden, weil die aktuellen Rechtsgrundlagen momentan keine entsprechende (andere) Verteilung vorsehen. Wie damals die genaue Zuteilung erfolgte, kann ich Ihnen nicht sagen», teilte der Verantwortliche beim Bundesamt für Sozialversicherungen der WOZ mit. Die Gelder sind enorm wichtig, aber es fragt sich, ob der Verteilschlüssel noch zeitgemäss ist.

Man ist geneigt zu fragen: Ist das eigentlich noch ein Bundesamt oder schon ein historisches Museum?

4. Was spricht dagegen, die neun bestehenden psychischen Gebrechenscodizes mit den zehn ICD Kategorien F0 – F9 (ohne deren Unterkategorien) zu ersetzen? Das wäre keine grosse Veränderung, aber die Zuteilung aufgrund der Hauptdiagnose nach ICD wäre einfach, zweckmässig und zumindest ein bisschen präziser.

BSV: Im Rahmen der Arbeiten am Postulatsbericht ist die Frage tatsächlich bereits abgeklärt worden. Wie oben beschrieben und im Postulatsbericht hervorgehoben, fokussieren die IV-Stellen auf das Potenzial der versicherten Personen. Die Diagnosen haben ihren Wert im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen der versicherungstechnischen Voraussetzungen. Sobald entschieden ist, dass eine versicherte Person Anrecht auf Leistungen der IV hat, konzentrieren sich die IV-Stellen auf das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person. Vor diesem Hintergrund haben wir darauf verzichtet, die Codierung auch auf einer höheren Aggregationsstufe anzupassen, da sie in der Folge keinen echten Mehrwert für die Arbeit der IVST bieten würde.

Kommentar: Auf der Webseite der IV-Stelle Bern ist unter «Ein guter Arztbericht enthält folgende Punkte» auch folgender Punkt aufgeführt:

Diagnose nach ICD 10, nachvollziehbar darlegen, auf welchen Befunden die Diagnose gründet

Die Diagnosen werden im IV-Verfahren also sowieso erhoben, warum diese Diagnosen(n) nicht direkt im System erfasst werden, sondern nach einem 60 Jahre alten Codierungs-System «umgedeutet» und unkenntlich gemacht werden, ist nicht nachvollziehbar. Das BSV kann noch so oft wiederholen, dass die IV-Stellen «auf das Potential fokussieren», das «Eintrittsticket» für IV-Leistungen bleibt trotzdem die Diagnose. Ohne Diagnose gibt es nämlich keine Leistungen. Was übrigens auch der Leiter der IV-Stelle Graubünden Thomas Pfiffner kürzlich in der Radiosendung Fokus mit dem Titel «Ist Long Covid ein Fall für die IV?» zugeben musste.

5. Im Bericht werden die RELY-Studien erwähnt, wonach die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Personen mit psychischen Einschränkungen mit Unsicherheiten behaftet sei. Ist dem BSV bekannt, welche Reliabilität Gutachter bei somatischen Einschränkungen erreichen?

BSV: Es liegen keine Forschungsarbeiten zu dieser Thematik vor, so dass das BSV über keine entsprechenden Daten verfügt.

Kommentar: Die RELY-Studien des Universitätsspitals Basel zeigten auf, dass verschiedene psychiatrische Gutachter·innen die Erwerbsfähigkeit bei denselben Fällen/Personen mit psychischen Erkrankungen teils sehr unterschiedliche einschätzten. Die Studien werden gerne herangezogen, um mehr oder weniger subtil aufzuzeigen, dass bei psychischen Erkrankungen weder die Betroffenen, noch die Gutachter·innen, noch die Diagnosen verlässlich, klar oder glaubwürdig sind. Oder wie hier vom BSV immer wieder betont wird: «Psychiatrische Diagnosen sind sowieso nicht aussagekräftig.»

Oft wird auch (beispielsweise von beweisfetischistischen Juristen) ex- oder implizit der Vergleich zu körperlichen Krankheiten gezogen, bei denen sich die Erwerbsfähigkeit angeblich völlig klar und quasi «automatisch» aus den Befunden (ergo der Diagnose) ergeben würde. Diese Behauptung wird aber interessanterweise nie mit entsprechenden Studien über die Reliabiliät von Gutachten bei körperlichen Erkrankungen untermauert. Es wird einfach behauptet, dass es so ist. Und selbst wenn die RELY-Studien auch die Begutachtung von körperlichen Krankheiten einbezogen hätten und dabei eine grössere Übereinstimmung zwischen den Gutachter·innen ausmachen hätten können als bei den psychischen Erkrankungen, hätte sich die Frage gestellt, ob die von den Gutachter·innen in Übereinstimmung attestierten Erwerbsfähigkeiten den «tatsächlichen» Erwerbsfähigkeiten entsprechen, oder ob sie nicht vielmehr jenen Grad der Erwerbs(un)fähigkeit abbilden, von dem Betroffene, Gutachter·innen und die Öffentlichkeit stillschweigend übereingekommen sind, dass sie im Fall der sichtbaren und offensichtlichen körperlichen Behinderung «angemessen» ist.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode (6) – Gutachter gut, Versicherte böse?

Liebe Leser·innen, ich hoffe, Sie haben sich gut erholt von der wilden Achterbahnfahrt durch die Schweizer Begutachtungs-, IV- und Gerichtspraxis zu ME/CFS. Im nun folgenden und letzten Artikel der Serie werden einige Resultate aus den beiden Studien präsentiert, die Bundesrat Berset nach der immer lauter werdenden Kritik am Gutachterwesen sowie der (mangelnden) Aufsichtstätigkeit des BSV 2019 in Auftrag gab. Als inoffizielles Resultat wurde dabei ersichtlich, dass der ganze IV-Apparat mit einer grossen Portion Selbstgerechtigkeit ausgestattet ist, die aufgrund der offiziellen Untersuchungsresultate schlicht nicht gerechtfertigt ist.

Evaluation zeigt diverse Missstände auf

Die beiden im Herbst 2020 veröffentlichten Studien «Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)» und «Analyse der Aufsicht über die IV-Stellen (2020)» zeigten diverse Missstände im Bereich des Gutacherwesens wie auch der Aufsichstätigkeit des BSV auf. Exemplarisch dazu:

Verschiedentlich wird in den Gesprächen zudem darauf hingewiesen, dass die Vergabe als Thema nicht so zentral wäre, wenn die Qualität der Gutachten stimmen würde. So wird auch erwähnt, dass die Zufallsvergabe für alle Gutachten eher als Überbrückungssystem gesehen werden könnte, bis man die Qualität der Gutachten etwa auf einem gleichen Niveau hätte. Davon sei man aber weit entfernt. (…) Zudem wird angemerkt, dass eine Zufallsauswahl keine Qualitätsverbesserung bringe, sondern lediglich die Chance, auf eine/-n schlechte/-n Gutachter/-in zu stossen, gleich verteile.

Die Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)

Aus derselben Studie:

So stellte Niklaus Gyr (2010) im Rahmen einer Qualitätserhebungsstudie fest, dass 22 Prozent der analysierten Gutachten qualitativ ungenügend waren, wobei die wesentlichen Mängel nicht nur in der versicherungsmedizinischen Diskussion und in einer insuffizienten Begründung der Schlussfolgerungen lagen, sondern auch aus medizinisch-handwerklichen Fehlern wie einer unvollständigen Befunderhebung oder gar dem Fehlen von klinischen Untersuchungen bestanden.

Das St. Galler Versicherungsgericht behauptet ja aber:

Mit unsorgfältigen, tendenziösen oder „versichertenfeindlichen“ Gutachten würde eine MEDAS einer IV-Stelle einen Bärendienst erweisen, da ein solches Gutachten keine taugliche Beweisgrundlage darstellen würde und sich die IV-Stelle folglich gezwungen sähe, eine Begutachtung durch eine andere MEDAS in Auftrag zu geben.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Dazu nochmal aus der oben bereits zitierten Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung:

Unklare Rolle des BSV bezüglich Qualitätssicherung: Von verschiedener Seite wird mit Nachdruck betont, dass das momentane System bei schwerwiegenden Fällen versagt habe. Eine Hauptkritik, die bereits bei der Zulassung angesprochen wurde, ist das fehlende konsequente Durchgreifen des BSV bei massivem Fehlverhalten gewisser Gutachterstellen. Das Problem wird (auch versicherungsintern) so beschrieben, dass sich bei Qualitätsmängeln bei polydisziplinären Gutachten niemand richtig zuständig fühle. Nicht zuletzt seitens der IV-Stellen wird angemerkt, dass es keine Stelle gebe, wo man solche Mängel rapportieren könne.

Und:

Inhaltlich handle es sich bei der Vereinbarung zwischen BSV und Gutachterstellen primär um eine Art Absichtserklärung der Gutachterstellen, die geforderten Voraussetzungen zu garantieren. Der Vertrag sichere eine gewisse Qualität bezüglich Gutchtensstruktur, Weiterbildung, Struktur der Räumlichkeiten und bezüglich der Prozesse wie der Termineinhaltung. Die Vereinbarung biete jedoch keine adäquate Grundlage für eine systematische Qualitätssicherung in Bezug auf die Ergebnisqualität der Gutachten. Erwähnt wird verschiedentlich der Genfer Corela-Fall.* Dieser habe gezeigt, dass es selbst bei gefälschten Gutachten extrem lange gedauert habe, bis das BSV aktiv geworden sei. Diese Kritik wird auch versicherungsintern geäussert. Obwohl eine IV-Stelle selbst diese Gutachterstelle (Corela) bereits Jahre zuvor von ihrer Liste für mono- und bidisziplinäre Gutachten gestrichen habe, sei sie aufgrund der Zufallszuweisung im Rahmen der polydisziplinären Gutachten gezwungen gewesen, diese wieder zu «akzeptieren».

*Im Fall der Genfer Klinik Corela sah es das Bundesgericht als erwiesen an, dass der Leiter des Instituts eigenmächtig Gutachten angepasst und Diagnosen geändert hat – zuungunsten der Versicherten (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember 2017 (2C_32/2017)).

Insgesamt zeigt die Evaluation in vielerlei Hinsicht ein komplett anderes Bild des ganzen Systems als jenes flauschige Traumbild, welches das St. Galler Versicherungsgericht zeichnete. Frappierend ist hier nicht nur die grosse Differenz zwischen dem, was die Evaluation aufzeigt und dem, was das Gericht behauptete, sondern auch mit welcher Selbstsicherheit und Überheblichkeit das Gericht ein – offensichtlich – komplett falsches Bild der angeblichen «Realität» zeichnete. Der Begriff «Gaslighting» böte sich hier an.

Laissez-faire für Gutachter, strenge Gesetze und Sanktionen für Versicherte

Irritierend bei der Lektüre der Evaluation sind nicht nur vielseitigen Mängel im Gutachterwesen und die quasi völlig fehlende Aufsicht. Geradezu verstörend ist auch, mit welchem unendlichen Vertrauen bisher davon ausgegangen wurde, dass Gutachter, IV-Stellen und Gerichte ohne ernstzunehmende Kontrollmechanismen selbstverständlich seriös, unabhängig und unparteiisch ihren Aufgaben nachkommen würden. Im krassen Gegensatz dazu steht das hochgradige Misstrauen gegenüber den Versicherten, das sich in den letzten Jahren in einer immer harscheren Gesetzgebung manifestierte, welche alle Versicherten als potentielle Betrüger·innen behandelt. Dieses institutionalisierte Misstrauen wurde den Betroffenen auch noch als «Wohltat» verkauft, für die diese sogar dankbar sein müssten. So äusserste sich die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog in der Diskussion zur «Gesetzlichen Grundlage für die Überwachung von Versicherten» während der Frühjahrssession 2018 folgendermassen:

Kollegin Schenker, denken Sie nicht auch, dass Invalide sogar dankbar sind, wenn IV-Betrüger entdeckt werden?

Silvia Schenker (SP/BS) antwortete:

Ich habe mit sehr vielen Betroffenen gesprochen. Ich habe sehr viele Rückmeldungen erhalten. Ich kann Ihnen versichern: Bezügerinnen und Bezüger von Invalidenrenten sind nicht dankbar dafür, dass man ihnen Privatdetektive auf den Hals jagt.

Schenkers Einwand verhallte ungehört. Auch die Aargauer «Mitte»-Nationalrätin Ruth Humbel bekäftigtige nach der Verabschiedung des Observations-Gesetzes in der Luzerner Zeitung:

Gerade zum Schutz der Menschen, welche auf eine Rente angewiesen sind, braucht es Instrumente zur Aufdeckung von unrechtmässigem Leistungsbezug. Eine konsequente Ahndung von Missbrauch schützt vor Generalverdacht und Stigmatisierung. Wer Missbrauch schützt, tut Menschen mit Behinderungen sowie den IV/UV-Rentnern keinen Gefallen.

Merkwürdigerweise hörte man aus dem Mitte-Rechts-Lager nie ebenso entschiedene Forderungen für eine konsequente Kontrolle und Überwachung von IV-Gutachtern, weil *checks notes* «eine konsequente Ahndung von Missbrauch vor Generalverdacht und Stigmatisierung schütze.» Im Gegenteil: Sobald bei den Gutachtern auch nur minimale Massnahmen zur mehr Transparenz vorgesehen werden (z.B. die Veröffentlichung einer Liste der Gutachter und ihr jeweils mit der IV-Begutachtung erzieltes Einkommen) lamentiert ein Anwalt im Jusletter unter dem Titel «Der «gläserne Gutachter»? :

Vorliegend wird insbesondere bezweifelt, dass sich die öffentliche Liste im Allgemeinen und die Veröffentlichung der Gesamtvergütung im Besonderen mit einem rechtsgenügenden öffentlichen Interesse rechtfertigen lassen. Ganz im Gegenteil giessen diese ein Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber den Sachverständigen in rechtliche Form, ohne dass sich die veröffentlichten Informationen von den begutachteten Personen in irgendeiner Art und Weise rechtlich verwerten liessen.

Gregori Werder, Der «gläserne Gutachter»?, in: Jusletter 7. November 2022

Man möchte Herrn Werder gerne mal all die Gesetzestexte vorlegen, in denen dass Misstrauen gegenüber den Versicherten in rechtliche Form gegossen worden ist. Wie würde er sich wohl erst empören, wenn die Einstellung der Vergabe von Gutachteraufträgen bei blossem Verdacht auf unseriöse Gutachtertätigkeit ebenso rechtlich festgelegt worden wäre, wie in Art. 52a ATSG?

Art. 52a42 Vorsorgliche Einstellung von Leistungen

Der Versicherungsträger kann die Ausrichtung von Leistungen vorsorglich einstellen, wenn die versicherte Person die Meldepflicht nach Artikel 31 Absatz 1 verletzt hat, einer Lebens- oder Zivilstandskontrolle nicht fristgerecht nachgekommen ist oder der begründete Verdacht besteht, dass sie die Leistungen unrechtmässig erwirkt.

Doch während Versicherten die Leistungen sofort «vorsorglich» entzogen werden können, wenn auch nur der Verdacht auf unrechtmässigen Leistungsbezug besteht, können Gutachterfirmen, gegen die bereits mehrere Strafverfahren laufen, völlig unbehelligt weiterhin Gutachten erstellen. Die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber fragte deshalb in der Herbstsession 2022:

Die Klagen rund um die Firma PMEDA AG, die wenig fundierte IV-Gutachten erstellen und wider ärztlichen Zeugnissen Arbeitsfähigkeit attestieren soll, wollen nicht enden. Verschiedene Strafanzeigen sind hängig.
Worauf baut das Vertrauen des Bundesrates bzw. der IV, dass weiterhin Gutachten durch die PMEDA AG erstellt werden können und warum werden die Aufträge nicht wenigstens so lange sistiert, bis die Strafanzeigen behandelt sind?

Und der Bundesrat antwortete:

(…) Zwischenzeitlich ist eine Sistierung der Zuteilung der Aufträge nicht angezeigt, insbesondere da bei laufenden Strafverfahren die Unschuldsvermutung gilt.

Undenkbar auch, dass ein Gutachterinstitut bei offensichtlich unrichtigen oder gar gefälschten Gutachten die Kosten für zusätzliche Gutachten übernehmen müsste, analog Art. 45 ATSG:

Art. 45 Kosten der Abklärung
Hat eine versicherte Person wissentlich mit unwahren Angaben oder in anderer rechtswidriger Weise eine Versicherungsleistung erwirkt oder zu erwirken versucht, so kann ihr der Versicherungsträger die Mehrkosten auferlegen, die ihm durch den Beizug von Spezialistinnen und Spezialisten, die zur Bekämpfung des unrechtmässigen Leistungsbezugs mit der Durchführung der Observationen beauftragt wurden, entstanden sind

Als unumstösslicher Grundsatz im IV-Apparat scheint zu gelten: Sogar bei absolut offensichtlichem Fehlverhalten hat und ist der Gutachter immer im Recht und beim kleinsten auch nur eventuell möglichen Fehlverhalten ist die versicherte Person immer im Unrecht und gerne auch mal präventiv zu massregeln.

Wird jetzt alles besser?

Im Rahmen der Weiterentwicklung zur IV (In Kraft seit Anfang 2022) wurden verschiedene Massnahmen eingeleitet, die den Kritikpunkten rund um die Begutachtung begegnen sollten. Unter anderem wurde das Zufallsprinzip, das bisher nur bei polydisziplininären Gutachten zu Anwendung kam, auf bidisziplininäre Gutachten ausgeweitet. Das Bundesamt für Sozialversicherungen schreibt:

Die Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert – zusammen mit den weiteren Vorgaben nach BGE 137 V 210 (E. 2.4 237) – generelle, aus den Rahmenbedingungen des Gutachterwesens fliessende Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen.

Neuerungen bei medizinischen Begutachtungen in den Sozialversicherungen, CHSS, Juni 2022

Wenn man das ganz genau liest, kann man erkennen, dass das St. Galler Versicherungsgericht gar nicht so falsch liegt, wenn es festhält:

Das Zufallsprinzip leistet nämlich entgegen anderslautender Behauptungen keinen Beitrag zur Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Sachverständigen (…)».

Denn das BSV schreibt im oben verlinkten Artikel NICHT, dass durch das Zufallsprinzip die Unabhängigkeit gewährleistet werde, sondern nur, dass es Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen «neutralsiere». Also geht um offenbar viel eher um eine Art Kosmetik mit Beruhigungseffekt, denn eine tatsächliche Verbesserung.

Ob die anderen Massnahmen – beispielsweise die Schaffung einer «Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung» mehr als blosse Kosmetik darstellen, wird sich noch zeigen müssen. Es ist allerdings fraglich, ob sich ein so schwerfälliges, marodes und gleichzeitig zutiefst von seiner eigenen Unfehlbarkeit überzeugtes System sich wirklich grundlegend von innen erneuern kann.

Apropos «Unfehlbarkeit»

Noch ein kurzer Nachtrag zum letzten Artikel über den kafkaesken Umgang des IV-Apparates mit ME/CFS-Betroffenen: Der deutsche Psychiater, Neurologe und Gutachter Wolfgang Hausotter, der unzählige Standardwerke zur Begutachtung verfasst hat (die übrigens gerne von beweisfetischistischen Jurist·innen zitiert werden), schrieb anno 2015 in einem äusserst tendenziösen Artikel «zur Begutachtung des chronischen Erschöpfungssyndroms»:

Merkwürdig ist das Verhalten der Selbsthilfegruppen, die unbeirrbar an einem somatischen Konzept festhalten (…). Das vehemente Festhalten an einer körperlichen Genese trotz wiederholter Versicherungen, dass keine organische Ursache existiert, entspricht wiederum den definitorischen Kriterien einer somatoformen Störung.

Man ist geneigt, Herrn Hausotter den Zirkelschluss in Bronze zu verleihen.

In einem kürzlich veröffentlichen Fachartikel kommt Hausotter (wenn auch spürbar widerwillig) nun aber zu folgendem Fazit:

Das seit Jahrzehnten bekannte und umstrittene Chronic Fatigue Syndrome (…) hat seit zwei Jahren im Rahmen der COVID-19-Erkrankung außerordentliche Parallelen im Long- und Post-COVID-Syndrom gefunden. Frühere Diskussionen über eine mögliche Virusgenese sind dadurch wieder aktuell geworden, sodass die Annahme einer rein seelischen Störung nicht mehr überzeugt (…)

Das Ganze wäre eine amüsante Anekdote, die man mit einem saloppen «Auch Gutachter können sich mal irren» beschliessen könnte, wenn Hausotter nicht über Jahrzehnte hinweg durch seine unzähligen Publikationen quasi unverrückbare Grundsteine gelegt hätte, auf denen der schweizerische IV-Apparat sein lustiges Ringelreihen tanzt. Beispielsweise auch die vielfach von Gerichten zitierten Glaubenssätze über «grundsätzlich» voreingenommene behandelnde Ärzt·innen und die ebenso «grundsätzlich» über alle Zweifel erhabene Objektivität der Gutachter:

Zur Rolle des Gutachters ist auszuführen, daß auch der angestellte, hauptamtliche Gutachter im Verwaltungsverfahren (…) nicht weisungsgebunden und nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist. Von ihm sind keine Gefälligkeitsgutachten zu erwarten, weder für seinen Auftraggeber noch für den Probanden.

Wolfgang Hausotter, Ärztliche Gutachten: Eine elementare ärztliche Aufgabe, Deutsches Ärzteblatt, 1999

Wenn Gutachter Hausotter also sich selbst und seinen Berufskolleg·innen uneingeschränkte «Objektivität» attestiert, ist diese Selbstzuschreibung natürlich nicht von der eigenen Subjektivität («eigenes Gewissen») beeinflusst, weil Gutachter kraft ihrer «naturgegeben Objektivität» auch ihr eigene gutachterliche Tätigkeit völlig objektiv als «objektiv» beurteilen können. Die behandelnden Ärzt·innen hingegen, die verfügen einfach nicht über diese magische gutachterliche Fähigkeit, sich selbst ganz objektiv als «objektiv» zu deklarieren und gelten deshalb als unumstösslich in ihrer Subjektivität verhaftet.

Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden. Mir ist schon wieder ein bisschen trümmlig.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode – Special Edition: ME/CFS und Long Covid (2)

Liebe Leser·innen, ich nehme Sie nun mit auf eine wilde Achterbahnfahrt durch die Schweizer Begutachtungs-, IV- und Gerichtspraxis zu ME/CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom / Myalgische Enzephalomyelitis). Schnallen Sie sich an und halten Sie für den Notfall eine Tüte bereit. Nicht, dass mir nachher Klagen kommen, ich hätte Sie nicht gewarnt.

Diejenigen, die mit dem Krankheitsbild ME/CFS nicht vertraut sind, finden im Artikel «Post-COVID-Syndrom mit Fatigue und Belastungsintoleranz: Myalgische Enzephalomyelitis bzw. Chronisches Fatigue-Syndrom» (Aus: Die Innere Medizin, 2022) vorab eine gute Übersicht. Die Autorin Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen ist kommissarische Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie der Charité Berlin und wurde kürzlich für ihre Verdienste im Bereich der Forschung und Therapie von ME/CFS vom deutschen Bundespräsidenten mit dem Verdienstkreuz ausgezeichnet.

Falls Sie es überlesen haben: Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen ist Immunologin. Keine Psychiaterin.


1. 1. PMEDA: «Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiert ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung»


Als erstes ein Fall (IV 2019/26) aus dem St. Galler Versicherungsgericht:

[Die Versicherte] gab an, sie habe täglich Phasen grösster Leistungseinschränkungen. Sie sei mental und körperlich total entkräftet, geschwächt, benommen und lähmend erschöpft. Zusätzlich leide sie an einem Grippegefühl, Herzbeschwerden, einem Schwindel, einer Übelkeit, kognitiven Dysfunktionen, einer Konzentrationsschwäche und einer veränderten Wahrnehmung. Der Zustand verschlechtere sich nach jeglicher körperlicher und geistiger Aktivität.

Aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme hatte die Versicherte sich schon vor dem IV-Verfahren umfangreichen medizinischen Abklärungen unterzogen, bei denen der Verdacht auf ein «Chronic Fatigue Symptom» geäussert wurde. Auffallend sei eine starke Erschöpfung nach körperlicher Anstrengung. Die Versicherte wurde auch im Auftrag des Krankentaggeldver­sicherers durch die PMEDA polydisziplinär (neurologisch, psychiatrisch und neuropsychologisch) abgeklärt, welche zu folgendem Schluss kam:

Für die beklagten Beschwerden habe sich namentlich auf kognitiver Ebene kein Korrelat gefunden. Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiere ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung und ohne eine biologisch verstandene morphologische Basis. Auch habe sich bei der Versicherten keine Grunderkrankung herausarbeiten lassen, auf deren Basis es zu einer raschen körperlichen und kognitiven Erschöpfung kommen könnte.

Weiter:

Der RAD-Arzt Dr. I._ notierte am 28. Januar 2016 (IV-act. 84), der von der Versicherten beklagte Gesundheitsschaden habe im Rahmen der Begutachtung durch die PMEDA nicht erhoben werden können. Eine Verdachtsdiagnose (wie von der Abteilung für Psychosomatik des X._ geäussert) reiche nicht aus, um einen Leistungsanspruch zu begründen. Gutachterlich gestellte Diagnosen genössen in der Regel den Vorzug vor jenen der Behandler.

Basierend auf der Begründung des RAD bzw. der PMEDA wies die IV Stelle das Rentenbegehren ab. Die Versicherte erhob dagegen Beschwerde und bei der IV beriet man sich:

Ein Strategiegespräch zwischen dem RAD-Arzt, einem Rechtsdienstmitarbeitenden und einer Sachbearbeiterin der IV-Stelle vom 3. Juli 2017 ergab (IV-act. 119), dass die medizinische Aktenlage im Lichte der geänderten Rechtsprechung zu den syndromalen Leiden keine überzeugende Beurteilung zulasse. In psychiatrischer Hinsicht fehle es an einer sich an den Indikatoren orientierenden Beurteilung. Eine polydisziplinäre Begutachtung sei erforderlich.


1. 2. Neurologischer Gutachter SMAB: «Verdacht auf ein Chronic Fatigue Syndrom kann unter der neurologischen Kodierung ICD-10 G93.3 nicht nachvollzogen werden»


Obwohl die Versicherte im Verlauf des insgesamt sieben Jahre dauernden Verfahrens sowohl von Gutachtern als auch privat sprichwörtlich auf Herz und Nieren geprüft wird und infolgedessen die privat zugezogene Ärzte regelmässig die Diagnose ME/CFS stellen, können die von der IV beauftragten Gutachter «beim besten Willen» einfach keinen relevanten «objektivierbaren» Gesundheitsschaden feststellen. Beispielhaft hierfür die Aussage des neurologischen Gutachters, der die Versicherte im Rahmen des polydisziplinären Gutachtens bei der SMAB untersuchte:

Der im Bericht des Z._ vom 7. Juni 2012 angegebene Verdacht auf ein Chronic Fatigue Syndrom könne unter der neurologischen Kodierung ICD-10 G93.3 nicht nachvollzogen werden, da unter G93 „sonstige Erkrankungen des Gehirns“ allenfalls ein sekundäres CFS zu verschlüsseln wäre; eine Gehirnerkrankung liege bei der Versicherten jedoch nicht vor.

Liebe Leserschaft, was Sie hier sehen, ist Verweigerung des Schweizer IV-Apparats die offizielle Codierung der WHO von ME/CFS anzuerkennen. Von Fachkentnissen über die Krankheit selbst ganz zu schweigen.


1. 3. Psychiatrischer Gutachter SMAB: «Für die versicherungsmedizinische Beurteilung ist es nicht relevant, ob man zur Diagnose eines CFS oder einer subsyndromalen Neurasthenie gelangt»


Weil ME/CFS laut eidgenössischer Rechtsprechung eine «psychische» Erkrankung ist, sieht sich der psychiatrische SMAB-Gutachter hingegen durchaus befähigt, ME/CFS zu diagostizieren. Zumindest so ein bisschen:

Die geschilderte Symptomatik sei aus psychiatrischer Optik nur milde ausgeprägt, differentialdiagnostisch sei ein chronisches Müdigkeitssyndrom CFS (ICD-10 G93.3) gegenüber einer inkompletten subsyndromalen Neurasthenie-Symptomatik (ICD-10 F48.0) zu differenzieren. Für die versicherungsmedizinische Beurteilung sei es aber nicht relevant, ob man zur Diagnose eines CFS oder einer subsyndromalen Neurasthenie gelange.

Angesichts der Tatsache, dass in diesem Fall wirklich jede nur erdenkliche Diagnose (ausser eben ME/CFS) akribisch anhand von medizinischen Kriterien geprüft und dann ausgeschlossen wurde, schliesslich schlampig festzuhalten, es sei ja dann eigentlich auch egal, ob man nun die richtige Diagnose stelle oder nicht, mutet grotesk an. Wenig überraschend attestiert der Psychiater der Versicherten insgesamt eine hervorragende psychische Gesundheit mit ganz vielen psychischen «Ressourcen» (das ist insofern verquer, weil das Problem der Versicherten ja nicht fehlende psychische, sondern fehlende körperliche Ressourcen sind). Dass die Diagnose ME/CFS überhaupt genannt wird, dürfte wohl vor allem der Tatsache geschuldet sein, dass in einem Gerichtsverfahren den Jurist·innen (welche medizinische Laien sind) keine allzu grosse Diskrepanz mit der Diagnose der von der Versicherten privat konsultierten Ärzt·innen präsentiert werden soll. Ganz nach dem Motto: Schaut mal, wir haben ME/CFS ja «ernst genommen», aber wir konnten halt einfach keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit feststellen.


1. 4. St. Galler Versicherungsgericht: «Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die Beschwerdeführerin vollständig arbeitsfähig ist.»


Das Kalkül seitens der Gutachter geht natürlich auf. Das Gericht hält fest:

Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Einwände der Beschwerdeführerin Zweifel am Gutachten zu wecken vermögen. (…) [Der psychiatrische Sachverständige] hat ein Chronic Fatigue Syndrom diagnostiziert, allerdings ohne diesem Syndrom eine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit zuzumessen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Untersuchungen und die Diagnosestellungen durch die Gutachter nicht umfassend gewesen wären. (…)

Die Berichte von Dr. K._ sind nicht geeignet, Zweifel am Gutachten zu wecken. Dr. K._ hat sich bei der Erhebung der Befunde nämlich vorwiegend auf die Schilderungen der Beschwerdeführerin gestützt. Er hat also, obwohl er kein behandelnder Arzt ist, keine objektive Betrachtungsweise eingenommen, sondern sich bei der Beurteilung von Art und Ausmass einer Gesundheitsbeeinträchtigung massgeblich auf die subjektiven Angaben der Beschwerdeführerin gestützt.

(…) Die Beschwerdeführerin hat schliesslich vorgebracht, es sei durchaus Erfahrungstatsache, dass Gutachter wegen einer fehlenden Objektivierungsmöglichkeit den Schweregrad (wohl: einer Gesundheitsstörung) zulasten des zu Begutachtenden völlig unterschätzten. Lasse sich der Schweregrad diagnostisch nicht bestimmen, zeige sich die Schwere der Störung in ihrer rechtlichen Relevanz erst bei deren funktionellen Auswirkungen. Die Beschwerdeführerin hat dabei verkannt, dass von den Gutachtern nicht nur bei der Diagnosestellung, sondern auch bei der Beurteilung des verbliebenen funktionellen Leistungsvermögens ein objektiver Massstab angesetzt worden ist.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die von der Beschwerdeführerin ein­gereichten Berichte von Dres. J._ und K. keine Zweifel am Gutachten der SMAB AG L.__ zu wecken vermögen. Die Einschätzung der Sachverständigen, dass die Beschwerdeführerin in der erlernten Tätigkeit als Hochbauzeichnerin vollständig arbeitsfähig sei, überzeugt. Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die Beschwerdeführerin vollständig arbeitsfähig ist.

IV 2019/26

Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass die Besetzung des St. Galler Versicherungsgerichts bei diesem Fall die gleiche war, die im trümmligen Urteil IV 2020/209 festgehalten hatte:

Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich.


1. 5. Abklärung der Erwerbsfähigkeit ohne Einbezug der effektiven Erwerbsfähigkeit?


Nun kann man natürlich durchaus der Meinung sein, im obigen Fall der ME/CFS-Patientin sei alles (juristisch) korrekt gelaufen und/oder sie sei tatsächlich nicht in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt, beziehungsweise könne das halt nicht beweisen. Bemerkenswert ist dabei jedoch Folgendes: Zu Beginn des IV-Verfahrens war die Versicherte noch zu 60% angestellt, hatte aber bereits erhebliche gesundheitliche Probleme und konnte auch kein höheres Pensum leisten, weshalb sie sich der IV anmeldete. Im Verlauf des Verfahrens wurde ihr gekündigt. Ob dies aus gesundheitlichen Gründen geschah, ist aus dem Urteil nicht ersichtlich. Es stellt sich die Frage, weshalb der Arbeitgeber, bei dem die Versicherte bereits mehrere Jahre vor dem Ausbruch ihrer Erkrankung tätig war, nicht dazu befragt worden war, wie sich die Erkrankung konkret auf ihre berufliche Funktionsfähigkeit auswirkt.

Im Fall eines anderen Versicherten (Mann! Schweizer! Grenzwächter!) mit einer Fibromyalgie (gilt offenbar nur als bei Frauen als «Hysterie») befand das Bundesgericht BGE im Urteil 9C_148/2012 nämlich, dass die Aussagen des Arbeitgebers sowie des behandelnden Herr Professors (ein behandelnder Arzt ist plötzlich glaubwürdig, huh?) geeignet seien, Zweifel an der von der MEDAS attestierten 100%igen Arbeitsfähigkeit zu wecken:

2.3.1 Aus Stellungnahmen des Arbeitgebers ergibt sich, dass die fachärztlich beschriebene eingeschränkte Belastungstoleranz allein auf den gesundheitlichen Zustand – und nicht auch auf unversicherte Faktoren – zurückzuführen ist. Zwei Schreiben der Eidg. Zollverwaltung (an die IV-Stelle vom 24. Februar 2010 sowie an das kantonale Gericht vom 15. November 2010) ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer klar willens ist, sein Leistungsvermögen erwerblich zu verwerten. Die Oberzolldirektion berichtete, während zweier Arbeitsversuche an verschiedenen Stellen habe sich gezeigt, dass von dem „sehr engagierten und motivierten Mitarbeiter“ eine Leistung von maximal 60 Prozent erwartet werden könne (…)
Steht eine medizinische Einschätzung der Leistungsfähigkeit in offensichtlicher und erheblicher Diskrepanz zu einer Leistung, wie sie während einer ausführlichen beruflichen Abklärung bei einwandfreiem Arbeitsverhalten/-einsatz des Versicherten effektiv realisiert und gemäss Einschätzung der Berufsfachleute objektiv realisierbar ist, vermag dies ernsthafte Zweifel an den ärztlichen Annahmen zu begründen.

9C_148/201

Merkwürdig, wie sowas möglich ist, wenn man nur will. Allerdings scheint es irgendwie vom Wetter, oder dem, was es in der Mensa des Bundesgerichtes zum Mittagessen gab, abzuhängen, wie die Richter·innen entscheiden. Denn im Fall einer Versicherten mit einer diagnostizierten Multiplen Sklerose(!) ist ihre Fatigue halt nur «subjektiv», sowie der Bericht der Eingliedederungsinstitution nichts wert, weil «die Einschätzung der Integrationsfachleute weitgehend auf Aussagen der Beschwerdeführerin beruhten» und überhaupt hat das ABI recht (BGE 9C_718/2019).

Tschuldigung, kleine Abschweifung. Zurück zum Thema:


2. Kantonsgericht Luzern: «Abklärungen haben im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen»


Welche Probleme die ignorante Sturheit des IV-Apparats ME/CFS partout als eine «psychische» Störung sehen zu wollen, bereitet, zeigt sich auch im BGE 8C_272/2019:

Das kantonale Gericht hat erwogen, gestützt auf die aktuelle medizinische Aktenlage könne nicht abschliessend über die Arbeitsfähigkeit der Versicherten befunden werden. Dabei hat es die Vorinstanz abgelehnt, dem Entscheid in psychiatrischer Hinsicht das Gutachten der medaffairs, Basel, vom 13. Juni 2017 zu Grunde zu legen. Dass auf die dort attestierte vollständige Arbeitsunfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten nicht abgestellt werden kann, wird auch von der beschwerdeführenden IV-Stelle nicht bestritten. In der Tat ist es nicht nachvollziehbar, wenn einerseits eine psychische Störung mit Krankheitswert bejaht, gleichzeitig aber auf die Unmöglichkeit einer abschliessenden Diagnostik hingewiesen wird. Damit mag zwar, wie die IV-Stelle geltend macht, im jetzigen Zeitpunkt bezüglich der Frage eines invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden ein Zustand der Beweislosigkeit vorliegen; die Vorinstanz hat aber implizit festgestellt, dass weiterhin eine reale Chance besteht, durch weitere Abklärungsmassnahmen einen Sachverhalt zu ermitteln, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen.

Das Vorinstanz begegnete der Unmöglichkeit die «psychische Störung» zu diagnostizieren mit folgendem Vorschlag:

Das kantonale Gericht hat festgelegt, die von ihm angeordneten Abklärungen hätten im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zu erfolgen.

Es ist offenbar noch nicht bis zum Luzerner Gericht durchgedrungen, dass man ausser Schwerverbrechern heute in der Schweiz niemanden mehr jahrelang in eine psychiatrische Klinik steckt. Zudem verfiele das für’s Budget verantwortliche Gremium bei der zuständigen Krankenkasse bei den Worten «mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung» wohl kollektiv in Schnappatmung.

Das Bundesgericht sieht an sich kein Problem darin, Menschen zwecks Therapie mehrere Jahre in die Psychiatrie zu stecken. Aber als Abklärungsmethode findet man es dann doch etwas zu langwieirig:

Vorliegend mag eine mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung angezeigt sein, um den Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern; weshalb der Sachverhalt allerdings nur durch eine solche geklärt werden könnte, wird vom kantonalen Gericht nicht näher begründet. Insbesondere ist nicht ersichtlich, weshalb nicht bereits durch das Einholen eines Gerichtsgutachtens ein Sachverhalt ermittelt werden könnte, welcher zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen. (…) Demnach hat das kantonale Gericht gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz und damit gegen Bundesrecht verstossen, als es nicht ein Gerichtsgutachten, sondern eine Abklärung im Rahmen einer mehrjährigen stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung anordnete. Entsprechend ist die Beschwerde der IV-Stelle in dem Sinne teilweise gutzuheissen, dass die Sache unter Aufhebung des kantonalen Entscheides an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit diese nach Einholen eines Gerichtsgutachten über den Leistungsanspruch der Versicherten neu entscheide.

8C_272/2019

Aufgrund von Informationen aus vertrauenswürdiger Quelle kann ich hier noch Folgendes anmerken: Bei der erneuten Begutachtung wurden mehrere Diagnosen gestellt, darunter auch ME/CFS. Der ME/CFS-Diagnose wurde allerdings (Überraschung!) keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit zugemessen.


3. Schadenminderungs- und Mitwirkungspflicht um jeden Preis – bis hin zur Körperverletzung


Wie oben gezeigt, findet das Bundesgericht, dass eine «mehrjährige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung» durchaus angezeigt sein könne, um den Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern. Immerhin sind im Gesetz diverse Schadenminderungs- und Mitwirkungspflichten für die Versicherten verankert. Beispielsweise im Artikel 7, IVG:

Art. 7 Pflichten der versicherten Person
Die versicherte Person muss alles ihr Zumutbare unternehmen, um die Dauer und das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG64) zu verringern und den Eintritt einer Invalidität (Art. 8 ATSG) zu verhindern.

Wie sich ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klink bei ME/CFS-Betroffenen auswirken kann, konnte man vergangenen Frühling in der Sendung «Reporter» sehen, in der zwei junge Betroffene mit schwerem ME/CFS portraitiert wurden: Dejan Lauber war in einer psychosomatischen Klinik zur «Behandlung», wo man ihn zu körperlicher Aktivität zwang. Er kam deutlich kränker aus der Klinik, als er hineinging und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen:

Die Szene, in der Laubers Vater erzählt, wie man seinen Sohn zum Laufen zwang, bricht einem das Herz:

Was Bericht nicht erwähnt wird, (aber Dejan Lauber mir persönlich gesagt hat): Es war die IV, die ihm diesen Klinikaufenthalt «nahegelegt» hat.

Eigentlich steht im IVG auch dies:

Art. 7a Zumutbare Massnahmen
Als zumutbar gilt jede Massnahme, die der Eingliederung der versicherten Person dient; ausgenommen sind Massnahmen, die ihrem Gesundheitszustand nicht angemessen sind.

Der Gesetzesartikel wird aber in der Schweizer Versicherungslandschaft offenbar nonchalant ignoriert. Dass sich ihr Gesundheitszustand durch (übertriebene) Aktivierung massiv verschlechtert, erleben nämlich auch Long Covid-Betroffene wie Andrina Fischer. Der Beobachter berichtet:

Acht Wochen soll sie sich Anfang 2022 in den Bergen erholen. Doch Reha heisst nicht Ruhe. Die Krankenkasse definiert eine gewisse Anzahl Stunden, die Fischer besuchen muss. Bewegung, Atmung, Entspannung, Gruppentherapie. Die Rückschläge lassen nicht lange auf sich warten. Immer wieder wird die 53-Jährige aktiviert und angespornt. «Probieren Sie es doch. Das tut Ihnen sicher gut», heisst es.
Andrina Fischers Zustand verschlechtert sich so stark, dass sie nach der Long-Covid-Reha ins Spital muss. Im Rollstuhl, weil sie kaum noch gehen kann. Diagnose: ME/CFS.

Quelle: Beobachter, 27. Oktober 2022

4. Verwaltungsgericht Bern: «Sodann ist mit der Reise vom Wohnort der Beschwerdeführerin nach (…) keine übermässige bzw. unzumutbare körperliche Belastung verbunden»


Dass man die für ME/CFS typische Belastungsintoleranz (PEM = Post-Exertional Malaise) an vielen Orten in der Schweiz schlicht nicht versteht, zeigt auch der nächste Entscheid, diesmal vom Verwaltungsgericht Bern:

3.2 Die Beschwerdeführerin bringt jedoch vor, eine Begutachtung in … sei ihr aufgrund der ihres Erachtens langen Anreise aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar (…)
3.2.2 Dr. med. G.__ hielt im Bericht vom 5. Mai 2020 (act. II 175 S. 3 f.) fest, die Beschwerdeführerin leide unter der chronischen Krankheit ME/CFS. Dies bedeute, dass jegliche Belastung die körperlichen Beschwerden über eine längere Zeit verstärken könne. Aufgrund ihrer Krankheit sei sie auf einen Rollstuhl mit elektrischem Antrieb angewiesen. Sie könne sich nicht länger als 15 Minuten in einer aufrechten Position halten. Jegliche Transporte zu Terminen verursache eine Verschlimmerung der chronischen Krankheit.

Das Gericht ignorierte die Ausführungen des behandelnden Arztes und schloss sich in seinem Urteil dem RAD an, der befunden hatte, es gebe keinen medizinischen Grund, die Begutachtung in einer anderen (näheren) Gutachterstelle durchführen zu lassen:

Sodann ist mit der Reise vom Wohnort der Beschwerdeführerin (…) nach … (Sitz der MEDAS E.) keine übermässige bzw. unzumutbare körperliche Belastung verbunden, so dass für einen Wechsel der Gutachterstelle in medizinischer
Hinsicht kein Anlass besteht. Daran ändern auch die von der Beschwerdeführerin geschilderten und von Dr. med. G. in seinen (im Wesentlichen auf den Angaben der Beschwerdeführerin beruhenden) Berichten wiedergegebenen Beschwerden nichts.

200 20 454 IV

5. ABI: «Erfinderische Mediziner und subjektive Beschwerden, die immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehen werden.»


Auch beim grössten Begutachtungsinstitut der Schweiz, das die meisten Gutachteraufträge durch die IV erhält, verfügt man zum Krankheitsbild ME/CFS über eine eher beschränkte «Expertise»:

In einer Stellungnahme spricht der leitende Gutachter von erfinderischen Medizinern und subjektiven Beschwerden, die «immer wieder neu mit für Laien sehr schwerwiegend tönenden Namen» versehen werden. Gerade die «besonders gefährlich tönende Myalgische Enzephalomyelitis» sei ein sehr ungeeigneter Begriff. Treffender sei die «dem Psychiater zugeordnete Neurasthenie» (Nervenschwäche).

«IV verharmlost schwere Krankheit», Beobachter, 11. Februar 2021

Beim im «Beobachter» portraitierten ME/CFS-Betroffenen handelt es sich um Rudolf Blatter, der früher als Personenschützer des Bundesrates gearbeitet hatte. Dass Blatter sich zu wehren wusste und dabei auch die mediale Öffentlichkeit suchte (und bekam) hat möglicherweise auch dazu beigetragen, dass die IV ein zweites Gutachten erstellen liess. Während das erste vom ABI erstellte Gutachten Blatter noch eine psychiatrische «Nervenschwäche» und eine 90%-ige Arbeitsfähigkeit attestierte, kam das zweite Gutachten von der Rehaklinik Bellikon zum Schluss, dass Blatter aufgrund vom ME/CFS zu 87% arbeitsunfähig sei. Die IV-Stelle Bern sprach ihm infolgedessen eine ganze Rente zu. Blatter blieb damit erspart, was viele ME/CFS-Betroffene sich finanziell und kräftemässig nicht leisten können und in den meisten Fällen auch nicht von Erfolg gekrönt ist: Der langwierige Weg vor Gericht.


6. Florian Steinbacher: «Wer Anspruch auf eine Leistung hat, der bekommt die Leistung auch.»


Rudolf Blatters (damals noch nicht entschiedener) Fall wurde auch in der Rundschau-Sendung vom 30. März 2022 zum Thema «Long Covid» vorgestellt. Blatter appellierte an die Politik und sagte, wie die IV-Verfahren bei solchen Krankheitsbildern sind: Unwürdig.

Der Kritik der Betroffenen, dass die IV mit dem Krankheitsbild zu wenig vertraut sei, meinte der Präsident der IV-Stellen-Konferenz Florian Steinbacher in der selben Sendung: Falls man sich von der IV unfair behandelt fühle, könne man sich ja mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren:

Laut der Statistik des BSV erhielten von den knapp 1800 Personen, die sich 2021 aufgrund von «Long Covid» bei der IV anmeldeten 62% keinerlei Leistungen. Diejenigen, die Leistungen erhielten, bekamen meist eine Eingliederungsmassnahme zugesprochen. Nur 3% der Angemeldeten sprach die IV eine Rente zu. Das BSV schreibt:

Der hohe Anteil Anmeldungen, die nicht in eine Leistungszusprache münden und der hohe Anteil der Eingliederungsmassnahmen (gegenüber den Rentenzusprachen) unter den Leistungszusprachen weisen darauf hin, dass die Erwerbsfähigkeit der von Long-Covid betroffenen IV-Versicherten sich in sehr vielen Fällen dank guter medizinischer Betreuung und gegebenenfalls mit Unterstützung der IV bei der Eingliederung deutlich verbessert oder wiederhergestellt werden kann – womit keine Rente notwendig ist.

Meint das BSV mit «guter medizinischer Betreuung» die Rehaufenthalte, aus denen die Betroffenen im Rollstuhl rauskommen? Und die Erwerbsfähigkeit wird «wiederhergestellt» durch die hochkompetenten IV-Gutachter, die einfach «nichts» finden können, was eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit «begründen» würde?

Dazu nochmal Florian Steinbacher:

Florian Steinbacher (49), Präsident der Konferenz der kantonalen IV-Stellen, kann die Kritik der Long-Covid-Betroffenen nicht nachvollziehen. Der Vorwurf, sie würden zurückgewiesen, sei «Unsinn», sagt er. «Wer Anspruch auf eine Leistung hat, der bekommt die Leistung auch.»

Quelle: Blick, 15.3.2022

Ich übersetze die Aussage von Jurist Steinbacher mal für die mit der IV-Perfidie nicht ganz so vertrauten Leser·innen: Wer keine Leistung bekommt, hat halt eben einfach keinen «Anspruch» darauf. Denn für den Anspruch auf eine IV-Rente müssen IV-Gutachter ja erstmal eine Diagnose stellen, sowie nachvollziehbar darlegen, inwiefern die Erkrankung die Erwerbsfähigkeit des bzw. der Antragstellenden erheblich einschränkt. Findet der Gutachter «nichts», hat die Person «keinen Anspruch». Ist sie mit damit nicht einverstanden, kann sie sich aber laut Steinbacher (siehe weiter oben) «mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren». Abgesehen, davon, dass sowohl eine anwaltliche Vertretung nicht gratis und auch das Verfahren an sich kostenpflichtig ist, stützen sich die Gerichte in der stark überwiegenden Mehrheit der Fälle auf die «Expertise» der von Natur aus kompetenten und objektiven Gutachter ab und begegnen Einwänden der Versicherten (wie wir im ersten Beispiel sahen) gerne mal folgendermassen:

Die Beschwerdeführerin hat dabei verkannt, dass von den Gutachtern nicht nur bei der Diagnosestellung, sondern auch bei der Beurteilung des verbliebenen funktionellen Leistungsvermögens ein objektiver Massstab angesetzt worden ist. (…) Damit ist mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegt, dass die/der Beschwerdeführer/in vollständig arbeitsfähig ist.

IV 2019/26

Die Betroffenen können natürlich schon versuchen sich zu wehren, die Wahrscheinlichkeit ist einfach sehr hoch, dass das illustre Ringelreihen aus IV-Gutachtern, IV-Stellen, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und den Gerichten in seiner bizarren Stringenz eine weitere kafkaeske Pirouette dreht.

Übrigens: Florian Steinbacher, aktuell noch Leiter der IV-Stelle für Versicherte im Ausland, wird neuer Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen und Leiter des Geschäftsfelds Invalidenversicherung. Sprich: Steinbacher ist ab dem 1. Dezember 2022 der neue IV-Chef.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode – Special Edition: ME/CFS und Long Covid (1)

Wie im letzten Artikel aufgezeigt, hat das St. Galler Versicherungsgericht bei seiner stringenten Beweisführung («Gutachterinstitute, IV-Stellen und das BSV können nicht befangen sein, denn dann wäre ja das ganze System befangen und dafür gibt es keine Anhaltspunkte») die Rolle der Rechtsprechung komplett aussen vor gelassen. Der langjährige Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer hat in einem Interview kurz vor seiner Pensionierung Ende 2020 jedoch dargelegt, dass das Bundesgericht sich bei seinen Entscheiden nicht ausschliesslich der Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung, sondern offenbar auch der finanziellen Schieflage der IV verpflichtet gefühlt hat:

Meyer ist überzeugt: Indem das Bundesgericht verhindert habe, dass die IV finanziell aus dem Ruder laufe, habe es dazu beigetragen, einen wichtigen Pfeiler des Sozialstaats langfristig zu sichern.

Die Methode, mit der das Bundesgericht zwischen 2004 und 2014 immer weitere Krankheitsbilder von IV-Leistungen ausschloss, war so simpel wie effektiv: Kraft ihres Amtes erklärten die Bundesrichter·innen die betreffenden Krankheiten einfach als «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar.» Eine medizinisch-wissenschaftliche Evidenz (Grüsse an Herrn Gerber an dieser Stelle) gab es für diese steile These zwar nie, aber da die Beweislast im Sozialversicherungsrecht bei den Versicherten liegt, lag es an ihnen, das Gegenteil beweisen.

Nun, wie beweist man als einzelne/r Versicherte/r einer IV-Stelle, dass man entgegen der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtes seine Erkrankung auch beim besten Willen nicht überwinden kann? Tja, schwierig. Schlecht für die Versicherten, aber gut für die Finanzen der IV.

Der lange Schatten der Überwindbarkeitspraxis

Alt-Bundesrichter Meyer war auch persönlich an einem Urteil beteiligt, das den Grundstein dazu legte, dass Menschen, die heute infolge einer Covid-Erkrankung an langdauernden und schweren Erschöpfungszuständen (Fatigue bzw. ME/CFS) leiden, kaum eine Chance auf eine IV-Rente haben. Meyer und seine Kollegen befanden nämlich 2008 im Urteil I 70/07

Neurasthenie und Chronic Fatigue Syndrome (chronisches Müdigkeitssyndrom) sind eindeutig den somatoformen Störungen zuzurechnen und gehören in den gleichen Syndromenkomplex wie Konversionsstörungen, Somatisierungsstörung, Schmerzstörung, Hypochondrie u.a.m.

Sekundiert wurden sie dabei vom BSV, dass in seiner Stellungnahme schrieb:

4.2 Das BSV analysiert die medizinischen Unterlagen dahingehend, dass für die fortgesetzte Müdigkeitsproblematik nach Ende 2002 keine organische Ursache ausgemacht werden könne. Die Verursachung der diagnostizierten Neurasthenie durch die Epstein-Barr-Virus-Infektion sei höchst unwahrscheinlich.

Nachdem die Herrn Bundesrichter sowie das Bundesamt für Sozialversicherungen (Aufsichtsfunktion, ja?) das häufig von einer Virusinfektion ausgelöste Chronic Fatigue Syndrom (Korrekt: ME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome) Kraft ihres Amtes in dieselbe Kategorie wie «Hypochondrie» eingeordnet hatten, wurde den davon Betroffenen seitens der IV jahrelang beschieden, dass ihre Beschwerden psychisch eingebildet und deshalb «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar wären».

Auch als 2015 die Überwindbarkeitsvermutung vom Bundesgericht aufgegeben und die Indikatoren-Rechtsprechung eingeführt wurde, besserte sich die versicherungsrechtliche Situation von ME/CFS-Betroffenen nicht wirklich. Aufgrund des Bundesgerichtsentscheides von 2008 gilt das von der WHO als neurologische Erkrankung (ICD-Code G93.3) klassifizierte Krankheitsbild bei der Schweizer IV nach wie vor als «psychiatrische Erkrankung».

Was sich nicht eindeutig beweisen lässt, ist für die IV «psychisch»

ME/CFS-Betroffene, die aufgrund ihrer schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen um IV-Leistungen ersuchen, finden sich standardmässig in einem geradezu kafkaesken Albtraum wieder. Denn weil es für ME/CFS (welches auch als Folge einer Covid-Erkrankung auftreten kann) noch keine eindeutigen Biomarker gibt (es gibt allerdings diverse Hinweise, dass gewisse Werte bei ME/CFS verändert sei können, bspw. spezifische Entzündungswerte), stellt sich die Schweizer Invalidenversicherung auf den Standpunkt, dass es sich um eine «psychische» Erkrankung handelt. Denn alles, was sich nicht eindeutig mit entsprechenden Laborwerten oder bildgebenden Verfahren beweisen lässt, ist für die IV «psychisch». Ausserdem hatten ja die Herren Bundesrichter anno 2008 schon gesagt, dass ME/CFS in die selbe Kategorie gehöre wie «Hypochondrie». Dass Frauen deutlich öfter von ME/CFS (und auch Long Covid) betroffen sind als Männer, stärkt die Hypochondrie-These noch. Frauen sind aufgrund ihres sich von Männern unterscheidenden Immunsystems allerdings ganz generell deutlich häufiger von entzündlichen Autoimmunerkrankungen (wie beispielsweise Multiple Sklerose) betroffen, aber wenn die Herren Bundesrichter in ihrer unendlichen Weisheit sagten, es sei «psychisch», dann ist es natürlich psychisch.

Aber… die Indikatoren?

Die Indikatoren wurden (angeblich) geschaffen, damit bei Versicherten mit psychosomatischen Krankheitsbildern die konkreten Funktionseinschränkungen genauer bestimmt werden können. Effektiv werden die Indikatoren aber eher als eine Art Simulantentest benutzt, der mittlerweile bei allem psychischen Erkrankungen zum Einsatz kommt («Der Depressive geht mit dem Hund spazieren? Tja, so krank kann der wohl dann nicht sein»). Bei Versicherten mit ME/CFS, die im Alltag stark eingeschränkt, ja teil sogar bettlägerig sind, könnten die Indikatoren wichtige Hinweise liefern, dass sie, nun ja, tatsächlich sehr eingeschränkt sind. Die Krux ist nun aber die, dass das Indikatorenverfahren von der IV erst eingeleitet wird, wenn eine fachärztlich festgestellte psychiatrische Diagnose von genügender «Schwere» vorliegt. Wie soll nun ein/e Psychiater·in eine psychische Krankheit (F-Diagnose) diagnostizieren, wenn gar keine psychische Krankheit vorliegt? Nun; er oder sie wird wohl keine psychische Krankheit diagnostizieren. Sprich, die Person ist psychisch «gesund». Körperlich gilt die Person ebenfalls als «gesund», denn sie kann ja keine eindeutigen Laborbefunde vorlegen. Aus Sicht der IV ist die Person damit «rundum gesund» und der Fall wird abgeschlossen.

Sie sehen das Problem, ja? Nun, bei der IV und im Bundesamt für Sozialversicherungen sieht man es nicht. Oder will es partout nicht sehen.

Wie absurd sich die IV-Verfahren bei ME/CFS deshalb mitunter gestalten, werde ich im nächsten Beitrag anhand einiger realer Beispiele aufzeigen.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode (3) – Die Rolle der Rechtsprechung

Wie in den vorangegangenen Artikeln gezeigt, behauptet das St. Galler Versicherungsgericht im Urteil IV 2020/209, dass Gutachterinstitute, IV-Stellen und das BSV nicht befangen sein könnten, denn dann wäre ja das ganze System befangen und dafür gäbe es keine Anhaltspunkte. Was das Gericht in seiner Beweisführung komplett betriebsblind ausblendet, ist die eigene Rolle in diesem lustigen Ringelreihen, nämlich die der Rechtsprechung. Als ob die Unbefangenheit der Richter·innen dermassen selbstverständlich wäre, dass eine mögliche Befangenheit nicht mal erwähnt wird. Und als ob die Rechtsprechung nicht eine überaus stark formende Rolle im IV-System spielen würde.

Das letzte Wort hat das Bundesgericht

Die IV-Stellen und das Bundesamt für Sozialversicherungen berufen sich in Sachen Invalidenversicherung und speziell bei der Beurteilung der Qualität von Gutachten seit vielen Jahren immer wieder auf die Rechtsprechung bzw. Bundesgerichtsurteile. So gelten beispielsweise seit dem entsprechenden (und mehrmals bestätigten) Bundesgerichtsentscheid behandelnde Ärzt·innen grundsätzlich als voreingenommen und von der IV bezahlte Gutachter (siehe oben) grundsätzlich als «unbefangen» und «korrekt». Weil… nun, das Bundesgericht hat das gesagt, darum ist das so.

Pro forma wird natürlich betont, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Aufsichtsfunktion habe und diese auch wahrnehme. So beispielsweise auch in dieser bundesrätlichen Antwort auf die parlamentarische Anfrage aus der Wintersession 2019: «Schreiben sich die IV-Gutachter beliebig oft selber ab und kassieren dafür?»

Das blosse Kopieren aus früheren Gutachten könnte von der IV nicht akzeptiert werden. Ein solcher Fall ist dem Bundesamt für Sozialversicherungen nicht bekannt. Dieses Vorgehen hätte in jedem Fall den vorsorglichen Ausschluss von der Vergabe weiterer Gutachten zur Folge.

Entgegen der Aussage des BSV, dass ihm kein solcher Fall bekannt sei, haben mehrere Behindertenorganisationen bereits 2010 in einem Positionspapier auf die offenbar schon damals verbreitete Verwendung von Textbausteinen in Gutachten hingewiesen und diese Praxis kritisiert.

Das Bundesgericht hatte allerdings 2017 in einem Urteil dargelegt:

Auch aus dem Vorbringen, die Gutachterin verwende mitunter unzutreffende Textbausteine (so habe sie die Versicherte als kräftig bezeichnet, obwohl diese „eine kleine und alles andere als kräftige Frau“ sei), ergibt sich nicht, dass sie die medizinische Lage der hier am Recht stehenden Versicherten unsachlich beurteilt hätte.

BGE 9C_233/2017

Die versicherte Person, der vom Bundesgericht beschieden wurde, dass die Verwendung von Textbausteinen keinen Zweifel am Gutachten an sich rechtfertige, kann sich aus der ausgedruckten Antwort des Bundesrates («Kopieren aus früheren Gutachten könnte von der IV nicht akzeptiert werden») etwas Hübsches bauen. Einen Papierflieger zum Beispiel. Und aus der Argumentation des St. Galler Gerichts («Mit unsorgfältigen, tendenziösen oder „versichertenfeindlichen“ Gutachten würde eine MEDAS einer IV-Stelle einen Bärendienst erweisen, da ein solches Gutachten keine taugliche Beweisgrundlage darstellen würde und sich die IV-Stelle folglich gezwungen sähe, eine Begutachtung durch eine andere MEDAS in Auftrag zu geben.») gleich noch einen zweiten.

Justitia mit Sparauftrag

IV-Stellen, die von sich aus denken: «Hui, dieses Gutachten ist jetzt doch etwas unsorgfältig, tendenziös oder versichertenfeindlich geraten, das müssen wir noch ein Weiteres einholen» dürften dünn gesät sein. Denn die zentrale Frage, die sich die Jurist·innen bei der Beurteilung von Gutachten auf jeder IV-Stelle stellen, ist eine ganz andere: Werden/würden wir vor (Bundes)Gericht damit durchkommen?

Diese Frage wäre dann eine gute Leitlinie, wenn Justitia tatsächlich neutral wäre und sich nichts anderem als der hehren Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet fühle wurde. Dass dies im Falle einer hochverschuldeten Sozialversicherung nicht der Fall ist, machte der abtretende langjährige Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (SP) in einem Blick-Interview Ende 2020 deutlich:

Meyer ist überzeugt: Indem das Bundesgericht verhindert habe, dass die IV finanziell aus dem Ruder laufe, habe es dazu beigetragen, einen wichtigen Pfeiler des Sozialstaats langfristig zu sichern.

Äh hallo, darf ich mal kurz eine kleine Zwischenfrage stellen? Das St. Galler Gericht argumentierte ja folgendermassen:

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Wenn das Bundesamt für Sozialversicherungen, wie im letzten Artikel aufgezeigt, den IV-Stellen Sparvorgaben macht und das Bundesgericht, das als letzte Instanz die IV-Entscheide auf ihre Rechtmässigkeit überprüft, gar nicht an der objektiven Rechtsanwendung interessiert ist, sondern daran, dass «die IV finanziell nicht aus dem Ruder läuft»….

… würde es dann nicht Sinn ergeben, wenn ein solches System Gutachten von Gutachterinstituten, die diesen Spargedanken subtil unterstützen, wohlwollend durch alle Instanzen «Neutralität», «Objektivität» und «unzweifelhafte Qualität» attestieren würden?

Tschuldigung, ich wollt ja nur mal kurz fragen.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode (2)

Im letzten Artikel habe ich das Urteil IV 2020/209 des St. Galler Versicherungsgerichtes vorgestellt. Die Argumentationslinie des Gerichtes geht folgendermassen: Begutachtungsinstitute wie das ABI können gar nicht befangen sein, denn dann müssten ja auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert sein. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre. Tatsächlich sei aber «eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich».

Nicht «an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert»? Äh, Moment…

Ende 2019 machte der Tagesanzeiger publik, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen jährlich für jede kantonale IV-Stelle ein Sparziel festlegt:

Auf einer Tabelle ist für jeden der 26 Kantone ein Leistungsziel für das kommende Jahr vorgegeben. ­Dieses lautete etwa für 2018 für die meisten IV-Stellen: «halten oder senken» der Neurentenquote, «halten oder senken» der Gesamtrentenzahl sowie «halten oder senken» der Kosten pro Versicherten.
(…)
Die Sparziele scheinen auch einen unguten Wettbewerb unter den IV-Stellen zu fördern. Laut Aussagen einer früheren Mitarbeiterin der IV-Stelle Luzern legte deren Direktor besonders grossen Wert darauf, «gegenüber anderen kantonalen IV-Stellen besonders gut dazustehen». Die langjährige Mitarbeiterin liess sich dieses Jahr vorzeitig pensionieren, weil sie den internen Spardruck nicht mehr aushielt.

Wir erinnern uns, Luzerner IV-Direktor war damals Donald Locher, der sich in den Medien Anfang 2014 schweizweit als innovativer Pionier der sogenannten «Hirnstrommessungen» feiern liess. Durch diese Methode könne nämlich laut Locher eindeutig nachgewiesen werden, dass die Mehrheit der IV-Antragstellenden mit einer psychischen Erkrankung ihre Beschwerden übertrieben darstellen würde. Die NZZ schrieb am 5.1.2014:

Die IV-Stelle in Luzern zieht bei der Beurteilung strittiger IV-Gesuche neuropsychologische Tests an Patienten zu Hilfe. Eine Mehrheit der Patienten gaukelte eine übertriebene psychologische Erkrankung vor.

Diese «innovative» Methode zur Rentenverhinderung wurde dann allerdings einige Jahre später vom BSV wegen «Unseriosität» in aller Stille beerdigt. Doch Locher hatte noch andere Tricks auf Lager, um im Wettbewerb der IV-Stellen um möglichst fantasievolle Rentenvermeidigungsstrategien ganz vorne mitzumischen: Die IV-Stelle Luzern konnte eine überdurchschnittliche Anzahl von Rentenaufhebungen aufgrund der Schlussbestimmung der IV-Revision 6a erreichen, indem sie die gesetzliche Grundlage nicht nur sehr eigenwillig, sondern wie das Bundesgericht im BGE 8C_324/2013 feststellte, effektiv widerrechtlich auslegte.

Wie lautete die Argumentationslinie des St. Galler Gerichtes gleich nochmal?

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Wenn nun also die Aufsichtsbehörde es nicht nur toleriert, dass die IV-Stellen an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert sind, sondern den IV-Stellen die Sparziele gleich selbst vorgibt, und die IV-Stellen diesen Sparzielen dann mit «innovativen Methoden» nachkommen, erfüllt das laut dem St. Galler Gericht natürlich nicht den Tatbestand der «Befangenheit». Gut ja, da hat das Gericht natürlich einen Punkt. «Befangenheit» ist nicht der korrekte Ausdruck: «Das ganze System ist durch und durch marode» wäre ein passendere Beschreibung.

Und was macht die Politik?

Im Frühling 2020 fand im Ständerat eine Diskussion zur Interpellation «System der Quotenziele des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Konflikt mit dem Rechtsanspruch und dem Untersuchungsgrundsatz?» statt. Bundesrat Berset begegnete dem Befremden verschiedener (nicht nur linker) Parlamentarier·innen über die Praxis des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit folgenden drei Punkten:

  • Er weist die Parlamentarier·innen an, sie sollen nicht so überrascht tun, denn diese Praxis sei immer transparent gewesen («On ne peut donc pas faire comme si l’on ne savait pas que cela existait.») und verweist auf Artikel 64a IVG: «Das BSV übt die administrative Aufsicht über die IV-Stellen einschliesslich der regionalen ärztlichen Dienste aus. Es gibt insbesondere Kriterien vor, um die Wirksamkeit, Qualität und Einheitlichkeit der Erfüllung der Aufgaben nach den Artikeln 57 und 59 Absatz 2 zu gewährleisten, und überprüft die Einhaltung dieser Kriterien.»
  • Berset erinnerte das Parlament auch daran, dass die IV 15 Milliarden Schulden hatte (aktuell immer noch 10 Mia. übrigens), und dass man ja unbedingt sparen wollte («Je vous rappelle que tout ce qui a été réalisé était la conséquence de décisions du Parlement prises dans un climat dans lequel il fallait à tout prix réduire les dépenses de l’assurance-invalidité.»)
  • Als dritten Punkt fügte Berset an, dass er bereits zwei Studien im Auftrag gegeben hätte. Diese sollten sowohl die Gutachterpraxis als auch die Aufsichtstätigkeit des BSV über die IV-Stellen untersuchen.

Die Resultate dieser unterdessen veröffentlichten Studien werde ich zu einem späteren Zeitpunkt kommentieren.

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode

Das St. Galler Versicherungsgericht hat vor ein paar Monaten im Rahmen des Urteils IV 2020/209 ein Glanzstück einer stringenten Beweisführung vorgelegt, welches ich speziell den Jurist·innen unter meinen Leser·innen nicht vorenthalten möchte. Für eine bessere Lesbarkeit habe ich den Text in Absätze unterteilt und Hervorhebungen vorgenommen.

Die Beschwerdeführerin hat die Auftragserteilung an die ABI GmbH akzeptiert. Ihre Eingaben an die Beschwerdegegnerin und an das Ver­sicherungsgericht enthalten zwar verschiedene pauschale Einwendungen gegen die ABI GmbH, aber diese Vorbringen zielen nicht darauf ab, eine Befangenheit der Sachverständigen der ABI GmbH im vorliegenden konkreten Einzelfall zu belegen, sondern sie sollen offenbar nur dazu dienen, generelle Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Gutachtens der ABI GmbH zu wecken.

Die Kernbegründung lautet, die ABI GmbH sei befangen, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig sei. Das genügt allerdings nicht für den Nachweis einer (generellen) Befangenheit der ABI GmbH. Die IV-Stellen sind verpflichtet, das geltende Recht objektiv und unparteiisch anzuwenden, weshalb sie von Gesetzes wegen daran interessiert sein müssen, möglichst objektive und überzeugend begründete Gutachten zu erhalten. Will eine MEDAS möglichst viele Aufträge von den IV-Stellen erhalten, muss sie also sorgfältige Gutachten erstellen, was augenscheinlich nicht nur im Interesse der IV-Stellen, sondern auch im Interesse der Versicherten ist. Mit unsorgfältigen, tendenziösen oder „versichertenfeindlichen“ Gutachten würde eine MEDAS einer IV-Stelle einen Bärendienst erweisen, da ein solches Gutachten keine taugliche Beweisgrundlage darstellen würde und sich die IV-Stelle folglich gezwungen sähe, eine Begutachtung durch eine andere MEDAS in Auftrag zu geben.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich, weshalb der Vorwurf, die ABI GmbH sei befangen, weil sie so viele Aufträge von den IV-Stellen erhalte, haltlos ist.

Die Behauptung der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin, der Zufallsmechanismus über die Plattform „SuisseMED@P“ werde unterlaufen, ist ebenso haltlos. Das Zufallsprinzip leistet nämlich entgegen anderslautender Behauptungen keinen Beitrag zur Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Sachverständigen, weil die IV-Stellen nicht befangen sind und weil folglich auch die wirtschaftliche Abhängigkeit einer MEDAS von den IV-Stellen keine Befangenheit der Sachverständigen begründen kann.

Selbst wenn die IV-Stellen befangen wären, würde der Zufallsmechanismus keine Abhilfe leisten, da die begrenzte Zahl von MEDAS, die eine Tarifvereinbarung mit dem Bundesamt für Sozialversicherung geschlossen haben, ihre Gutachten in jedem Fall für eine befangene IV-Stelle erstellen würden, ob ihnen der Auftrag nun „zufällig“ oder gezielt zugeteilt würde. Zusammenfassend besteht keine Veranlassung, den beiden Gutachten der ABI GmbH ungeachtet ihres Inhaltes den Beweiswert abzusprechen.

IV 2020/209 bestätigt durch BGE 9C_40/2022

Ich weiss nicht, wie es Ihnen nach dieser trümligen Argumentation geht, aber meiner bescheidenen Meinung nach hat das Versicherungsgericht St. Gallen mit dieser famosen Leistung eindeutig den goldenen Zirkelschluss verdient.

Ich lasse diese juristische Glanzleistung jetzt erst mal auf die Leserschaft wirken, bevor ich dazu später einige Ausführungen anfüge.

«Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.» – Wirklich nicht?

Wie im letzten Artikel nachgezeichnet, hat die Artikelserie über das IV-Gutachterwesen im Blick zu diversen parlamentarischen Vorstössen geführt. Zwar enthüllte der Blick kaum etwas, was nicht schon seit Jahren bekannt gewesen wäre und auch entsprechende Vorstösse von Parlamentarier*innen gab es früher schon. Diese führten jedoch kaum je zu entscheidenden Verbesserungen. Bundesrat Berset hat nun allerdings auch eine Untersuchung gegen die Aufsichtstätigkeit des BSV veranlasst. Einige parlamentarische Antworten von Berset lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob sich tatsächlich etwas ändern wird. Denn dazu müsste erst einmal (an)erkannt werden, dass auf allen Ebenen Probleme bestehen, die nicht nur oberflächlicher Natur sind, sondern das System komplett durchdringen. Dass Bundesrat Berset das (noch) nicht verstanden hat, zeigt beispielsweise seine Antwort in der Fragestunde vom 16.12.19 auf die Frage von CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt «Schreiben sich die IV-Gutachter beliebig oft selber ab und kassieren dafür?»:

Eine Begutachtung einer versicherten Person ist eine sehr individuelle Angelegenheit, da die Untersuchung und die entsprechende Beurteilung nur einzelfallbezogen vorgenommen werden kann. (…) Das blosse Kopieren aus früheren Gutachten könnte von der IV nicht akzeptiert werden. Ein solcher Fall ist dem Bundesamt für Sozialversicherungen nicht bekannt. Dieses Vorgehen hätte in jedem Fall den vorsorglichen Ausschluss von der Vergabe weiterer Gutachten zur Folge.

Dazu ist folgendes zu bemerken: Bereits 2010 verfassten mehrere Behindertenorganisationen ein Positionspapier, in dem sie Problemfelder im Gutachterwesen aufzeigten und zugleich Lösungsvorschläge formulierten. So wurde u.a. folgendes vorgeschlagen:

Eine unabhängige Fachkommission aus Fachärzten und Juristen beurteilt stichprobeweise einzelne Gutachten und teilt ihre Ergebnisse einerseits der IV-Stelle resp. dem RAD sowie andererseits dem Gutachter resp. der Gutachterstelle mit. (…)

Die Prüfung muss schliesslich aber auch die Gutachten miteinander vergleichen und beispielsweise darauf achten, ob gewisse Gutachter immer wieder die gleichen Textbausteine verwenden, zu gleichen Diagnosen gelangen und Standardaussagen zur Arbeitsfähigkeit machen.

Es ist mehr als fragwürdig, wenn das BSV behauptet, dass ihm angeblich «kein entsprechender Fall» bekannt sei, obwohl die Behindertenorganisationen bereits 2010 explizit die «Textbausteine» erwähnen. Und dass dieses Vorgehen «in jedem Fall den vorsorglichen Ausschluss von der Vergabe weiterer Gutachten zur Folge hätte» stimmt auch nicht, vielmehr ist es so, dass das Bundesgericht in der Verwendung von Textbausteinen aus offensichtlich fremden Gutachten überhaupt kein Problem sieht:

Auch aus dem Vorbringen, die Gutachterin verwende mitunter unzutreffende Textbausteine (so habe sie die Versicherte als kräftig bezeichnet, obwohl diese „eine kleine und alles andere als kräftige Frau“ sei), ergibt sich nicht, dass sie die medizinische Lage der hier am Recht stehenden Versicherten unsachlich beurteilt hätte.

BGE 9C_233/2017

Ebenso befremdlich ist die (natürlich vom BSV verfasste) Antwort des Bundesrates vom 14.8.2019 auf ein Postulat von (mittlerweile Alt-) Nationalrätin Silvia Schenker, die eine Ombudsstelle für die Invalidenversicherung forderte. Der Bundesrat hält eine Ombudsstelle für unnötig und begründet dies u.a. folgendermassen:

Zweckdienlich sind in dieser Hinsicht auch die Forschungsberichte «Evaluation Assistenzbeitrag 2012 bis 2016» und «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten. Erfolgsfaktoren, Verlauf und Zufriedenheit»ersichertenperspektive». Die Berichte stützen sich auf Erhebungen bei Bezügerinnen und Bezügern von IV-Leistungen und zeigen, dass das Vertrauen der Versicherten in die IV hoch ist.

Dass generelle Vertrauen der Versicherten in die IV mit Studien zu belegen, in denen ausschliesslich Versicherte befragt wurden, die eine Leistung (Assistenzbeitrag oder Eingliederungsmassnahmen) zugesprochen erhielten (Zirkelschluss much?), ist wohl in etwa gleich aussagekräftig, wie wenn der Blick am Ende eines Artikels über zweifelhafte Gutachter fragt: «Haben Sie noch Vertrauen in die IV?»

Bildquelle: Blick

Vielleicht kann man ja die Resultate aus den BSV-Studien und der Blickumfrage in einen Topf werfen, dass ganze kräftig einkochen und dann aus dem Bodensatz lesen, wie es tatsächlich um das Vertrauen in die IV steht?

Allerdings… da gab es doch vor einiger Zeit durchaus mal eine Diskussion über die angeknackste Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Bürger*innen, die mittels verschärfter Kontrollen ganz dringend wiederhergestellt werden muss. Dazu aus einem parlamentarischen Votum des Berner BDP-Nationalrats Heinz Siegenthaler:

Der Staat hat die Aufgabe, seine Massnahmen und Handlungen vor Missbrauch zu schützen, dies auch im Bereich der Sozialversicherungen. Diese geniessen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Ohne Kontrollen und Überwachung entsteht aber ein Unbehagen. Der Generalverdacht, der hier oftmals erwähnt wurde, entsteht eben genau dann, wenn glaubwürdige Kontrollen fehlen. (…) Durch diese Missbrauchsfälle, die meist in den Medien noch prominent dargestellt werden, leidet die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. (…) Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Gutachtern. Sie werden dadurch vor unterschwelligen Vorwürfen geschützt (…).

Ich habe im Zitat eine kleine kosmetische Korrektur vorgenommen, natürlich hat Nationalrat Siegenthaler NICHT gesagt «Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Gutachtern.», er hat gesagt: «Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Versicherten». Das Zitat stammt aus der parlamentarischen Debatte über die Observation von Versicherten in der Frühjahrsdebatte 2018.

Diese Argumentationslinie von Siegenthaler haben Mitte-Rechts-Politiker*innen sowohl in den parlamentatrischen Debatten als auch und im Abstimmungskampf um die Versicherungsdetektive in unzähligen Varianten durchdekliniert. Die Observationen wurden in geradezu orwellscher Art als grosse Wohltat für Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit angepriesen. Zuweilen klang es, als ob die Betroffenen sogar froh und dankbar sein müssten, wenn sie selbst überwacht werden, denn (nur) so sei schliesslich der eindeutige Beweis erstellt, dass sie keine Betrüger seien. Erstaunlich nur, dass niemand vorgeschlagen hatte, dass diejenigen, bei denen die Überwachung zeigte, dass sie tatsächlich behindert sind, sich doch ein Echtheitszertifikat ans Revers heften sollten (ein hübscher gelber Stern vielleicht?).

Wer meint, das sei jetzt aber doch ein bisschen gar weit hergeholt: In seiner Dissertation «Psychosomatische Leiden und IV-Rentenanspruch» (Zürcher Studien zum öffentlichen Recht 257, 2018) plädiert der Jurist (und ehemalige BSV-Mitarbeiter) Kaspar Gerber dafür, dass bei psychosomatischen Leiden Detektivüberwachungen nicht nur bei einem konkreten Missbrauchsverdacht, sondern als «reguläre Abklärungsinstrumente» eingesetzt werden sollten. Gerbers «500 Shades of Missbrauchsfantasien» entlocken einem beim Lesen auch sonst ein permanentes «WTF?!» und lassen keinen Zweifel daran, welcher Partei der Autor angehört. Man kann nur hoffen, dass Gerber mit seinem Objektivierbarkeitsfetisch nie Bundesrichter werden wird.

Gerbers Parteikollegin Alexia Heine (Heine ist übrigens die Lebenspartnerin von Alexander Segert, dem Chefwerber der SVP) zeigt als Bundesrichterin jedenfalls exemplarisch, wie man die SVP-Parteidoktrin unter dem Deckmantel «rein juristischer Überlegungen» ins oberste Gericht trägt. Heine schrieb in einem Aufsatz zum indikatorenorientierten Abklärungsverfahren:

Die erneute Hoffnung, nun sämtliche psychischen Leiden einfacher einer Rente zuzuführen, soll nun nicht geschürt werden. Vielmehr gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass ein Erwerbsschaden nur dann rentenrelevant sein kann, wenn er nicht vermeidbar ist. (…) Der Mensch ist gesund, was bei gesamthafter Betrachtung nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild unserer Gesellschaft.

Alexia Heine/Beatrice Polla: Das Bundesgericht im Spannungsverhältnis von Medizin und Recht. Das strukturierte Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 und seine Auswirkungen. JaSo 2018, DIKE Verlag (2018), S. 133–146.

Die SP-Nationalrätin Brigitte Crottaz fragte deshalb kürzlich in der Fragestunde:

Ist eine Bundesrichterin, die solche Aussagen macht, in der Lage, unvoreingenommen über Menschen mit gesundheitlichen Problemen zu richten?

Das Bundesgericht (das natürlich nicht der eigenen Richterin auf die Füsse tritt): antwortete am 16.12. 2019 in der gleichen Art wie weiter oben gezeigt auch schon Bundesrat Berset bzw. das Bundesamt für Sozialversicherungen: «Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.» Oder ausgedeuscht:

Die Aussage, dass die versicherte Person als grundsätzlich gesund anzusehen ist und sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, beschreibt nichts anderes als die Situation, von der die IV-Stellen oder die Richter vor Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens auszugehen haben: dass vor ihnen nämlich eine grundsätzlich gesunde Person steht, deren gegebenenfalls invalidisierende Erwerbsunfähigkeit im Folgenden zu beweisen sein wird.

Der Chefarzt der Medas Zentralschweiz, Jörg Jeger, sieht das ganze etwas kritischer. Im Jusletter vom 8. Oktober 2018 belegte er mit diversen Datenquellen, dass die richterliche Annahme, «dass der Mensch gesund sei» so pauschal weder auf die Schweizer Bevölkerung zutrifft und noch viel weniger auf die spezifische Gruppe derjenigen, die um Leistungen der Invalidenversicherung ersuchen. Jeger warnt in seinem Fazit eindringlich davor, die Rechtsprechung erneut auf eine richterliche Annahme ohne jegliche Evidenz abzustellen:

[Rz 37] Mit den eingangs zitierten Sätzen begeben sich die beiden Autorinnen ins Kerngebiet der Medizin, nämlich die Unterscheidung zwischen «gesunden» und «kranken» Menschen. Eigentlich erwartet der interessierte Leser, dass sie dies aufgrund einer ausreichend begründeten Begriffsklärung und einer fundiert recherchierten empirischen Datenlage tun. Danach sucht man im Aufsatz vergeblich. Es bleibt beim Schlagwort. Die Tatsache, dass die Gesundheitsvermutung bereits Eingang in ein Leiturteil (BGE 144 V 50) gefunden hat, macht sie auch nicht wahrer, aber gefährlicher.

[Rz 38] Die Annahme der Rechtsprechung, es sei bei der Abklärung der Rentenberechtigung von «Validität» auszugehen, betrifft beweisrechtliche Grundsätze, nicht empirisches Datenmaterial zum Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung. Aus diesem beweisrechtlichen Grundsatz abzuleiten, «der Mensch ist gesund, was bei gesamthafter Betrachtung nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild unserer Gesellschaft», ist ebenso falsch wie unzulässig. Bedenklich ist, wenn Rechtsanwender mit dieser richterlichen Vorannahme an die Bearbeitung eines Einzelfalles herangehen. Die Wahrscheinlichkeit von falsch-negativen Entscheiden ist gross. Das hat auch viel mit Psychologie zu tun, ist doch erwiesen, dass der Mensch danach trachtet, seine persönlichen Vorannahmen und Überzeugungen bestätigen zu lassen.

[Rz 39] Schon einmal hat das Bundesgericht behauptet, es stütze sich bei seiner Rechtsprechung in BGE 130 V 352 (Schmerzrechtsprechung, «Überwindbarkeitspraxis») auf die «medizinische Empirie». Nachdem dargelegt wurde, dass die empirische Datenlage für diese Annahme dünn ist, änderte das Bundesgericht nach 10-jähriger Praxis seine Rechtsprechung mit BGE 141 V 281. Es ist daher aus medizinischer Sicht schwer verständlich, dass nun wieder neue, sachlich unbegründete Vorannahmen Eingang in die richterlichen Entscheide finden. (…) Die Erfahrungen mit der «Überwindbarkeitspraxis» aus den Jahren 2004 bis 2015 sollten zu denken geben.

Es liegt eine gewisse Ironie drin, dass gerade jene Jurist*innen und Bundesrichter*innen, welche sich in ihren Abhandlungen/Urteilen geradezu fanatisch an der (Nicht)Beweisbarkeit von Krankheitsbildern abarbeiten, sich selbst bei ihrer «Beweisführung» immer wieder auf unbewiesene Schlagworte, Vermutungen, Hörensagen oder sonst irgendwie «Gefühltes», abstützen. Ein System, das vom obersten Gericht mithilfe juristischer Taschenspielertricks immer wieder auf dermassen tönerne Füsse gestellt wird, kann als Ganzes gar nicht fair funktionieren.

Der Mediziner Jörg Jeger hat zu seinen oben zitierten Überlegungen übrigens auch einen Vortrag gehalten und die ganze Situation in den Vortragsfolien mit einem wunderschön subtilen Foto illustriert:

Meine Ausführungen werden ein kleines bisschen länger (und ausschweifender) als geplant… Fortsetzung folgt.

IV-Gutachten: Geht da – endlich – was?

Im November publizierte der Blick eine Artikelserie über IV-Gutachten und IV-Gutachter:

Heinz B. ist schwerst depressiv – Berner IV-Gutachter Dr. K. erklärt ihn trotzdem für voll arbeitsfähig

Ihre Gutachten sind gefürchtet: IV fliegt deutsche Ärzte ein

Berner Chefarzt kritisiert Gutachter: «Die IV-Stellen sind nicht neutral!»

IV streicht schwer kranker Franziska S. (53) Gelder – Noelle (17) muss Lehrlingslohn für die Pflege ihrer Mutter opfern

Gutachter werden vergoldet – Dank IV: Ärzte scheffeln Millionen

Er liess schwerkranke Franziska S. 237 Tage warten – Das ist der Bummel-Gutachter

Die IV und ihr Handicap – Ein invalides System

Bundesamt unter der Lupe – Berset lässt IV-Praxis überprüfen

Nach Gerichtsurteil: Bund muss IV-Arzt stoppen

Im letzten aufgeführten Artikel zitiert der Blick aus einem kürzlich ergangenen Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts: Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologische Aus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundä­res Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primär aufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Das ist ein bisschen lustig, weil eben dieser Henning Mast 2017 in einem unfassbar schwurbeligen und überheblichen Artikel in der schweizerischen Ärztezeitung geschrieben hatte: «Das vermeintlich komplexe versicherungsmedizinische Spezialwissen reduziert sich bei näherer Betrachtung auf eine überschaubare Grösse und ist einfach zu erlernen. Jeder erfahrene Kliniker kann ohne grosse Mühe ein guter Gutachter sein.»

Wie dieses «ohne Mühe ein guter Gutachter sein» konkret aussieht, hatte der Kassensturz bereits 2018 aufgezeigt: Ein Psychiater von Masts Gutachterfirma PMEDA hatte innerhalb von nur 36 Minuten ein – äusserst mangelhaftes – Gutachten erstellt. Nachgewiesen werden konnten sowohl die kurze Dauer als auch die inhaltlichen Fehler nur, weil der begutachtete Mann das Gespräch heimlich auf einen Tonträger aufgenommen hatte.

. . . . .

Zwar enthüllte der Blick in seiner Artikelserie vom November insgesamt kaum etwas, was so oder so ähnlich nicht schon seit Jahren bekannt gewesen wäre, aber er schaffte es mit seiner intensiven Berichterstattung, dass endlich eine breitere Öffentlichkeit begriff: Hier läuft wirklich – wirklich – etwas schief. Diverse Politiker*innen haben dann in der Wintersession entsprechende parlamentarische Eingaben eingereicht:

Fehlentwicklungen im IV-Gutachterwesen korrigieren (Flavia Wasserfallen, SP)

Polydisziplinäre IV-Gutachten: Kriterien für die Anerkennung von Gutachten (Lilian Studer, EVP)

Hoch problematische IV-Gutachten (Katharina Prelicz-Huber, Grüne)

IV-Gutachten: Ist Zufallsauswahl die Lösung? (Christian Lohr, CVP)

Klärung des Vorgehens «Überprüfung von Gutachten» (Lilian Studer, EVP)

Wie passen Wunderheilungsglaube und polydisziplinäre IV-Gutachtertätigkeit zusammen? (Kathrin Bertschy, GLP)

IV-Expertisen. Werden genauere Informationen nur entsprechend dem gewünschten Ergebnis angefordert? (Benjamin Roduit, CVP)

Schreiben sich die IV-Gutachter beliebig oft selber ab und kassieren dafür? (Stefan Müller-Altermatt, CVP)

Quotenzielsystem des Bundesamtes für Sozialversicherung: Konflikt mit Rechtsanspruch und Untersuchungsgrundsatz? (Maya Graf, Grüne)

Kann man gleichzeitig zu krank für Eingliederung und trotzdem zu hundert Prozent arbeitsfähig sein? (Nadine Masshardt, SP)

Wie gelingt eine tatsächliche Arbeitsintegration von Menschen mit einem langdauernden Gesundheitsschaden durch die Invalidenversicherung? (Yvonne Feri, SP)

Bemerkenswert ist nicht nur die Fülle der Vorstösse, sondern auch die politische Bandbreite der Urheber*innen. Und auch das Fehlen von FDP- und SVP-Vertreter*innen. Diesen scheint es offenbar schlicht egal zu sein, mit welch fragwürdigen Methoden die Invalidenversicherung die Neurentenquote innerhalb der letzten 15 Jahre halbieren konnte. Das zeigte sich auch nochmal deutlich am 10.12.2019, als alle Nationalrät*innen der FDP und fast alle der SVP gegen Tonaufnahmen von Gutachtergesprächen stimmten (Die entsprechende Bestimmung kam trotzdem durch). Das Motto von FDP und SVP heisst also nach wie vor: Hauptsache sparen, egal wie. Aber das ist ja nichts Neues. Allerdings sind auch parlamentarische Vorstösse zum IV-Gutachtenwesen und der Praxis der IV-Stellen nichts Neues. Es gab sie seit Jahren immer wieder. Bisher entfalteten diese Vorstösse jedoch eher wenig Wirkung.

Was hingegen neu ist: Der Dachverband der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap, wird ab Anfang 2020 eine Meldestelle für IV-Opfer einrichten.

Und Bundesrat Alain Berset hat eine interne Untersuchung über die Aufsichtstätigkeit des BSV veranlasst. Im Tages Anzeiger vom 21.12.2019 (ABO) stehen zu den Hintergründen dieser Untersuchung ein paar interessante Details:

Bisher nicht bekannt war, dass das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) jährlich für jede kantonale IV-Stelle ein Sparziel festlegt. (…) Konkret bedeutet dies, dass die kantonalen IV-Stellen gemessen an der Bevölkerung ihres Kantons im Jahr 2018 nicht mehr Renten gewähren sollen als im Vorjahr. (…) So soll die IV-Stelle Aargau 2019 die Neurentenquote konstant halten, obwohl sie noch Pendenzen abbauen muss. Dies geht aus der schriftlichen Antwort der Aargauer Regierung auf eine parlamentarische Anfrage hervor: «Das BSV gibt Ziele vor (…). Für das Jahr 2019 lauten diese beispielsweise: Neurentenquote trotz Pendenzenabbau unter dem schweizerischen Durchschnitt halten, bei konstanter Ablehnungsquote.»

Bereits 2013 schrieb ich einen Artikel darüber, wie sich die Rechtsabteilungen der IV-Stellen einen Wettstreit zu liefern scheinen, wer es schafft, mit der abenteuerlichsten Begründung bestimmte Krankheitsbilder von IV-Leistungen auszuschliessen. Damals galt noch die Päusbonog-Rechtsprechung, die unter mysteriösen Umständen auf immer weitere Krankheitsbilder ausgedehnt wurde. Und ausgerechnet die IV-Stelle Aargau (die IV-Stelle mit der – siehe oben – unterdurchschnittlichen Rentenquote) zeigte sich dabei immer wieder ganz besonders kreativ bei der Einschätzung, welche Krankheitsbilder neuerdings «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar» sein sollten.

Interessant auch dies hier aus dem Tages Anzeiger:

Die Sparziele scheinen auch einen unguten Wettbewerb unter den IV-Stellen zu fördern. Laut Aussagen einer früheren Mitarbeiterin der IV-Stelle Luzern legte deren Direktor besonders grossen Wert darauf, «gegenüber anderen kantonalen IV-Stellen besonders gut dazustehen». Die langjährige Mitarbeiterin liess sich dieses Jahr vorzeitig pensionieren, weil sie den internen Spardruck nicht mehr aushielt.

2014 schrieb ich darüber, wie sich der damalige Direktor der IV-Stelle Luzern, Donald Locher, in der Öffentlichkeit mit viel zu hohen IV-Betrugszahlen und fragwürdigen Methoden (Hirnstrommessungen, remember?) als Oberboss inszenierte. Kleines zusätzliches Detail aus dem damaligen Artikel: «Die IV-Stelle Luzern wurde vom Bundesgericht zurückgepfiffen, weil sie bei der Aufhebung der Renten nach Schlussbestimmung der IV-Revision 6a eine ganz eigene Auslegung (…) anwandte und somit eine im schweizweiten Vergleich sehr hohe Zahl von 180 Rentenaufhebungen vorweisen konnte.» 2016 zeichnete ich dann auch nach, wie die schweizweite Inszenierung des Luzerner IV-Direktors als grossartiger Pionier bei den Hirnstrommessungen in sich zusammenfiel.

Zurück zum aktuellen Artikel im Tages Anzeiger:

Laut CVP-Nationalrätin Ruth Humbel müsste sich die IV vor allem Ziele zur Integration der Versicherten in den Arbeitsmarkt geben. «Es sollte unter den IV-Stellen einen Wettbewerb geben, welche IV-Stelle die Versicherten am besten in den Arbeitsmarkt integriert. Quoten zur Zahl der neuen Renten sind ein zu wenig differenziertes Ziel.»

Dass ausgerechnet die Aargauer Nationalrätin Ruth Humbel findet, der Schwerpunkt einer IV-Stelle sollte auf der Integration liegen und Quoten seien «ein zu wenig differenziertes Ziel» entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Bereits 2011 hatte ich darüber geschrieben, dass im Jahresbericht 2010 der SVA Aargau vor allem die Jagd auf IV-Betrüger und die tiefe Rentenquote im Vordergrund standen, während die Eingliederung eher ein Randthema war. Stolz schrieb die IV-Stelle damals: «Der Auditbericht (des BSV) attestiert der IV-Stelle eine grosse Leistung (…) Die Neurentenquote ist tief, wesentlich besser als der schweizerische Durchschnitt». Die Aargauer Zeitung übernahm diese Gewichtung und schrieb unter dem Titel «Der Kanton Aargau ging gegen 24 IV-Bezüger vor» ausschliesslich über IV-Betrüger, die Einsparungen durch Rentenreduktionen und: «Die Ablehnungsquote betrug 54,6 Prozent – fünf Jahr zuvor hatte sie bei 38,7 Prozent gelegen.» Aber… Eingliederungen? Kein Thema.

Ich könnte endlos aus meinem Blog-Archiv der letzten zehn Jahre zitieren. All das, was der Blick nun durch seine Artikelserie so prominent ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt hat, konnte man seit Langem sehen. Wenn man es denn hätte sehen wollen.

Was es nun braucht, sind weder Alibiübungen noch oberflächliche Kosmetik, sondern grundlegende Änderungen auf verschiedenen Ebenen. Wie diese aussehen sollten, werde ich in einem weiteren Artikel aufzeigen (folgt in den nächsten Tagen).

Zweierlei Mass

Im Oktober 2015 berichtete ich im Artikel «Besorgte Bürger» – und was sie nicht sehen» über «Andrea». Die 55-jährige Brigitte Obrist (wie Andrea wirklich heisst) leidet unter einer schweren Form von Cluster-Kopfschmerz und bezieht deshalb seit 18 Jahren eine IV-Rente. Aufgrund von mehreren anonymen Denunziationsschreiben, die ihr unterstellen, gar nicht «wirklich» krank zu sein (denn schliesslich könne sie sich in den Social Media äussern und sei sogar einmal in der Sendung «Club» des Schweizer Fernsehens aufgetreten) veranlasste die IV-Stelle Aargau eine medizinische Abklärung. Aufgrund dieser Abklärung halbierte die IV Obrists Rente im letzten Herbst auf 50%. Im Gutachten finden sich auch Passagen, die fast wörtlich dem Schreiben der Denunzianten entnommen sind, diese werden allerdings nicht als Zitate anonymer Denunzianten, sondern als «medizinische Tatsachen» wiedergegeben:

Die Versicherte hat eine sehr gute Fähigkeit, die Social Media zu verfolgen und sich darin in vielfältiger Weise zu äussern.

Watson.ch berichtete über den Fall von Brigitte Obrist und schreibt:

Nachdem Obrist von den [anonymen] Mitteilungen erfahren hatte, habe sie begonnen, sich selbst zu zensieren. «Ich traute mich nicht mehr, im Internet zu surfen. Ich fühlte mich beobachtet, wenn ich meinen Briefkasten leerte. Ich ging nicht auf den Markt im Nachbarsdorf, weil man mir dann hätte anhängen können, dass ich ja noch normal gehen kann».

Obwohl Obrist eine körperliche Krankheit hat, schienen Gutachter und die IV-Stelle Aargau die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit zumindest teilweise auf «Indikatoren» abzustellen, wie sie bei den (ehemaligen) Päusbonogs (pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage) angewandt werden. Dies überrascht nicht besonders, da die IV-Stelle Aargau geradezu bekannt berüchtigt dafür ist, somatische Krankheiten wie Päusbonogs zu beurteilen, mit dem Ziel, einen möglichst tiefen IV-Grad zu errechnen. Die IV-Stelle Aargau hatte dies unter anderem mit CrF (Cancer-related Fatigue) versucht, blitzte damit aber 2013 vor Bundesgericht ab. Einige Monate nach der Kürzung von Obrists IV-Rente argumentierte die IV-Stelle Aargau in einem anderen Fall mit Cluster-Kopfschmerz vor Bundesgericht:

Unabhängig davon, ob es sich beim Cluster-Kopfschmerz um eine nachweislich organische Pathologie oder um ein unklares Beschwerdebild handle, bedürfe es im Hinblick auf die Folgenabschätzung eines konsistenten Nachweises mittels sorgfältiger Plausibilitätsprüfung (…)

Das Bundesgericht sah das allerdings anders:

5.3. Nach dem Gesagten handelt es sich beim Cluster-Kopfschmerz gemäss aktuellem Erkenntnisstand um ein organisch bedingtes Leiden. Laut geltender Rechtsprechung fällt es daher nicht in den Anwendungsbereich des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 (…).
BGE 8C 350/2017

Als 2015 das strukturierte Beweisverfahren vom Bundesgericht eingeführt wurde, geschah dies mit der Implikation, dass Versicherte mit «Päusbonog» in Zukunft fairer abgeklärt würden. Eine Analyse des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich zeigte allerdings, dass dies nicht der Fall ist. Die Indikatoren werden nach bisherigen Erfahrungen vor allem dazu benutzt, Versicherte mit sogenannt «unklaren Beschwerdebildern» einfach besser begründet von Leistungen ausschliessen zu können. Dazu der Rechtsanwalt David Husmann im Plädoyer 1/2018:

Anstatt die Indikatoren zur Plausibilisierung einer vom Gutachter festgestellten Arbeitsunfähigkeit heranzuziehen, schreitet die Administration zu einer eigenen Beurteilung. Verbreitet ist dabei der Indikator «Familie» oder «Freunde und Bekannte», wonach jemandem, der in einer Familie mit Kindern lebt oder der Freunde und Bekannte hat, eine IV-relevante Arbeitsunfähigkeit mit dem Argument abgesprochen wird, wer zu Kindern schauen könne, könne auch arbeiten, und wer Freunde und Bekannte habe, könne daraus genügend Ressourcen ziehen, um die gesundheitliche Einschränkung zu kompensieren.

Bei der IV-Sachbearbeitung beliebt ist auch die Annahme einer Leidenskompensation wegen Hobbys, Autofahrten, Ferien und Fernsehen. Aber allein schon die Tatsache, dass jemand in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, wurde schon dafür verwendet, eine Kompensation des Leidens anzunehmen. Eine solche Argumentation findet man auch im Zusammenhang mit Haustierhaltung.

Ironisch überspitzt lässt sich kalauern, ähnlich wie Blindenhunde könne die IV Indikatoren- oder Kompensationshunde abgeben, um den Grundsatz «Eingliederung vor Rente» effizient umzusetzen.

Und weil die Rentenverweigerungen mit dem Indikatoren-geleiteten Verfahren so gut funktionieren, hat das Bundesgericht im Dezember 2017 diese Abklärungs Ablehungs-Methode auf (fast) alle psychischen Störungen ausgeweitet. Anne-Sylvie Dupont, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universitäten Neuenburg und Genf, sieht dies kritisch:

Das Bundesgericht vertritt daher die Auffassung, dass psychiatrische Störungen in zwei Kategorien eingeteilt werden: in ernst zu nehmende und nicht ernst zu nehmende. Bisher wurde die Auffassung vertreten, dass «echte» psychiatrische Störungen den Grossteil der Diagnosen in der Psychiatrie ausmachen, wobei nur die ehemals psychogenen Störungen und in jüngster Zeit leichte bis mittelschwere depressive Störungen die Ausnahme bilden. Nach der neuen Rechtsprechung kehrt sich die Wahrnehmung um: Die Mehrzahl der psychiatrischen Diagnosen sind potenziell unbedeutend und müssen mittels eines extrem feinen analytischen Rasters beurteilt werden, um als invalidisierend erkannt zu werden, während nur wenige sehr spezifische Pathologien den Rang eines «echten» Gesundheitsschadens erreichen. Dadurch wird die Diskriminierung zwischen physisch und psychisch kranken Versicherten verstärkt.

Aus dem Französischen übersetzt. Ganzer Artikel als PDF: Caractère invalidant des troubles psychiques: changement de pratique. Analyse des arrêts du Tribunal fédéral 8C_130/2017 et 8C_841/2016 8C_841_2016

Ich schrieb im September 2017:

Und wenn Gutachter mittlerweile sogar aus der Tatsache, dass sich jemand in den Social Media äussert, Schlussfolgerungen über dessen Erwerbsfähigkeit ziehen, wird nicht nur der Bewegungs- sondern auch der Kommunikationsrahmen für Menschen mit unsichtbaren Erkrankungen immer enger. Während Menschen mit sichtbaren Behinderungen sich problemlos politisch engagieren, im Chor singen oder eine Selbsthilfegruppe leiten können, gilt dasselbe Verhalten bei sogenannt «nicht objektivierbaren» Störungen als «Ressource». Oder als «Verdachtsmoment».

Zum Thema «politisches Engagement» ein aktuelles Beispiel. Am 16. Februar 2018 erschien in der NZZ unter dem Titel «Ein Politiker allen Hindernissen zum Trotz» ein ausführliches Portrait über einen jungen Mann. Es beginnt so: «Islam Alijaj leidet seit seiner Geburt an einer Zerebralparese. Das hält ihn nicht davon ab, auf der SP-Liste für den Zürcher Gemeinderat zu kandidieren.» (Anmerkung: Die Wahl fand am 4. März 2018 statt).

Ein Auszug:

Ein Sauerstoffmangel führte zu Schäden im Gehirn. Die kognitiven Fähigkeiten wurden nicht beeinträchtigt, doch wird er zeitlebens an einer Sprach- und Bewegungsstörung leiden. (…)

Nach seiner KV-Lehre wollte er ein Studium beginnen. Wirtschaft oder Wirtschaftsinformatik, so sein Plan. Mit einem Hochschulabschluss und entsprechenden Hilfestellungen hätte er eine Chance im ersten Arbeitsmarkt gehabt, war der damals 22-Jährige überzeugt. Doch Vertreter seiner Lehrfirma und der Invalidenversicherung überredeten ihn, dass eine IV-Rente und eine geschützte Arbeitsstelle besser für ihn seien, erinnert sich Alijaj. Erst im Nachhinein erfuhr er, dass Betriebe für jeden besetzten Arbeitsplatz Beiträge von der IV bekommen. Zudem hängt die Höhe der IV-Rente vom Ausbildungsgrad ab. Alijaj fühlte sich hintergangen. Weder sein Arbeitgeber noch die Invalidenversicherung hätten Interesse an seinen Ausbildungsplänen gehabt, sagt er. «Finanzielle Fehlanreize aufseiten der Institutionen haben mich um mein Studium gebracht», ist Alijaj überzeugt. «Dieses Ereignis hat mich schlagartig politisiert.»

Ob Alijaj trotz seiner Behinderung effektiv fähig gewesen wäre, ein Studium zu absolvieren bleibt offen. Er hat es gar nicht erst versucht. Gegen den Willen der IV zu studieren wäre grundsätzlich möglich, ist aber auch sehr mühsam. Und selbst wenn die IV ein Studium vordergründig unterstützt, kann sie die Ausbildung zusätzlich erschweren. Die gehörlose Ärztin Tatjana Binggeli berichtete letztes Jahr in der Tageswoche über ihre langwierigen Kämpfe mit der Invalidenversicherung während ihrer Ausbildung:

Jeden Monat musste ich der IV einen Bericht schreiben, wie es um mein Studium steht. Verpasste ich zum Beispiel eine Prüfung, wollte die IV ihre Leistungen gleich stoppen. Irgendwann wurde es mir zu bunt, ich musste sogar das Studium kurz abbrechen. Ich holte mir ein Darlehen und Bankkredite, mit denen ich die Hilfsmittel selber bezahlte. So war ich die Scherereien mit der IV für eine gewisse Zeit los und konnte das Studium abschliessen. Gleichzeitig forderte ich mein Recht beim Verwaltungsgericht ein und bekam dieses zugesprochen.

Was Alijaj im Bezug auf die Institutionen andeutet, ist im Behindertenbereich allerdings ein so offenes Geheimnis, dass man es sogar in einem BSV-Forschungsbericht nachlesen kann:

In anderen Kantonen stellen die IVST [IV-Stellen] fest, dass Institutionen das Potenzial der Versicherten oft geringer einschätzen als sie selber; die Institutionen würden Eingliederungen auch eher im Weg stehen aufgrund des Interessenkonflikts, gute Werkstattmitarbeitende behalten zu wollen.

Ob Alijaj mit einem allfälligen Studienabschluss tatsächlich Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätte, ist ungewiss. Seinem auf seiner Webseite einsehbaren Lebenslauf nach hatte er trotz seines KV-Abschlusses nie eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt inne. Der mittlerweile 32-Jährige hat stattdessen eine Familie gegründet und ist unterdessen Vater zweier Kinder. In der NZZ klingt das dann so:

Neben seiner politischen Tätigkeit ist Alijaj Initiator eines Fördervereins, der Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung ihrer Karriereträume helfen soll. Die Suche nach Investoren ist in vollem Gang. Energie für diese Doppelbelastung tankt er bei seiner Familie.

Wie sich das für einen Politiker im Wahlkampf gehört, unterhielt Alijaj eine Webseite mit Blog und ist auf Twitter und Facebook präsent. Bei all diesen Ressourcen (Politisches Engagement! Vereinstätigkeit! Geschickte Socialmedia-Nutzung! Betreuung zweier! Kinder!) bekäme jeder Indiaktoren-Detektiv glänzende Augen. Aber die Indikatoren sind ja nur für die Ressourcen-Einschätzung von Versicherten mit unsichtbaren/psychischen Erkrankungen relevant. Menschen mit körperlichen Behinderungen haben keine Ressourcen. Und Geburtsbehinderte schon mal gar nicht. Diese Vorstellung Dieses Vorurteil zeigt sich auch bei der in den letzten Jahren von wirtschaftsnahen Kreisen immer lauter werdenden Forderung, dass jungen Erwachsenen keine IV-Rente mehr zugesprochen werden sollte.

Aus der  Vernehmlassungsantwort der FDP zur nächsten IV-Revision:

Wir fordern, dass junge Erwachsene nur noch in Ausnahmefällen (z.B. Geburtsgebrechen, etc.) IV-Renten zugesprochen erhalten. Anstelle einer Rente soll neu ein Taggeld entrichtet werden, welches Erwerbsanreize richtig setzt. Parallel dazu sollen junge Erwachsene eng von der IV betreut werden, um ihre gesundheitlichen Probleme zu stabilisieren und ihre Arbeitsmarktfähigkeit wiederherzustellen.

Und der Arbeitgeberverband fordert:

Die Berentung von unter 30-Jährigen muss die Ausnahme sein. Renten sollen Kindern und Jugendlichen mit schweren Geburtsgebrechen vorbehalten sein, die keine Aussicht auf einen Job im ersten Arbeitsmarkt haben. Die übrigen jungen Menschen müssen über positive Arbeitsanreize und gezielte Unterstützungsmassnahmen beruflich Tritt fassen können.

Aus einer kürzlich veröffentlichten HSG SECO-Studie über «Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit»:

Es stellt sich deshalb die Frage, ob man bis zu einem gewissen Alter (z.B. 30 Jahre) nur noch in Ausnahmefällen (insbesondere bei Geburtsgebrechen) eine Rente sprechen sollte, um bessere Anreize zur beruflichen Eingliederung zu setzen.

Wäre tatsächlich eine bessere Eingliederung von ALLEN beeinträchtigten Jugendlichen beabsichtigt, würde man nicht die «Geburtsgebrechen» als Ausnahmen so hervorheben. Diese Einteilung ist medizinisch schlicht nicht zu rechtfertigen. Da die «richtigen» Behinderten mit den Geburtsgebrechen – die will man dann also schon nicht in den Betrieben, die sind dann doch «zu behindert» – und dort die «nicht richtig behinderten» psychisch kranken Jugendlichen – die will man genauso wenig in den Betrieben, aber DIE sollen gefälligst auch keine Rente erhalten. Es geht hier schlussendlich – einmal mehr – einfach darum, Versicherte mit psychischen Erkrankungen von Versicherungsleistungen auszuschliessen.

Diese polemische Stammtisch-Einteilung nach «richtigen» und «nicht richtigen» Behinderungen (statt nach effektiven Einschränkungen) wird Menschen mit Körper-/Geburtsbehinderungen nicht gerecht, weil man ihnen alleine aufgrund ihrer Behinderungsart jegliche Ressourcen abspricht, und ihnen quasi «automatisch» eine IV-Rente aufdrückt (und sie gegebenenfalls in geschützten Werkstätten «behält»). Und sie wird allen anderen, speziell unsichtbar/psychisch Kranken, nicht gerecht, weil man die behindernden Auswirkungen ihrer Erkrankung negiert und ihnen mittlerweile jegliche Lebensäusserungen als «Ressourcen» auslegt.

Brigitte Obrist übrigens, die vor ihrer Berentung als Projektleiterin gearbeitet hat (Und keinen Wahlkampf führt, keine Vereinsarbeit leistet und keine Kinder betreut) schreibt seit einem halben Jahr Bewerbungen. Sie sucht eine 50%-Stelle, bei der es keine Rolle spielt, dass sie pro Tag zwischen 20 und 35 Schmerzattacken erleidet und dann jedes Mal plötzlich ihre Arbeit unterbrechen muss. Bis jetzt hat sie nur Absagen erhalten. Sie wird bald auf die Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen sein.