Staatliches Handeln darf nicht auf Vorurteilen beruhen

Zusammenfassung: Wenn das indikatorengeleitete Abklärungsverfahren ein faires, sinnvolles und auf wissenschaftlichen Grundlagen basierendes Instrument wäre, das einzig der Abklärung der Erwerbsfähigkeit dient, könnte und sollte es bei allen Arten von Leiden gleichermassen angewandt werden. Das Bundesgericht erachtet allerdings bei einem somatischen Leiden eine Prüfung nach den Standardindikatoren als «nicht zulässig» (BGE 9C_106/2019). Das legt den Verdacht nahe, dass es sich beim indikatorengeleiteten Abklärungsverfahren weniger um ein vorurteilsfreies und ergebnisoffenes Abklärungsprocedere handelt, sondern viel eher um ein juristisches Konstrukt ohne jegliche (arbeits-)medizinische Evidenz, das vor allem dazu dient, Versicherte mit psychischen Leiden mittels irrwitzigen Begründungen («Kann mit dem Hund spazieren gehen») von Leistungen auszuschliessen.

Die vom Bundesgericht juristisch-theoretisch konstruierte Einteilung in grundsätzlich «glaubwürdige» Versicherte (mit somatischen Leiden) und «unglaubwürdige» Versicherte (mit psychischen Leiden), deren Aussagen von Gesetzes wegen angezweifelt werden müssen, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Diese Einteilung basiert eindeutig mehr auf Klischees und Vorurteilen über unterschiedliche Arten von Behinderungen als auf der – tatsächlich weitaus komplexeren – Realität.


Indikatorengeleitetes Abklärungsverfahren: Schlimmer geht immer.


Während über 10 Jahren hat das Bundesgericht ohne jegliche medizinische Evidenz, einzig aufgrund einer – hauptsächlich auf Vorurteilen beruhenden – «Vermutung» psychosomatische Krankheitsbilder (bzw. was die Bundesrichter*innen für «psychosomatisch» hielten) als «überwindbar» eingestuft.

Als das Bundesgericht dann 2015 beschloss, die «Überwindbarkeitsvermutung» aufzugeben und durch ein «ergebnisoffenes indikatorengeleitetes Abkärungsverfahren» zu ersetzen, war die Euphorie gross. Ich teilte diese Euphorie nur sehr bedingt. Denn statt endlich einer Gleichbehandlung aller Versicherten gab es erneut eine Spezialrechtsprechung für eine bestimmte Gruppe, die es – so meine Befürchtung – erlauben würde, die von diesen Krankheitsbildern Betroffenen einfach mit besseren (?) Argumenten von IV-Leistungen auszuschliessen.

Zwei Jahre nach dem Grundsatzentscheid des Bundesgerichtes zeigte eine Analyse des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich, dass meine Befürchtungen berechtigt gewesen waren:

Untersucht wurden dabei alle seit Juni 2015 vom Bundesgericht behandelten Fälle, in denen es um Schmerzpatienten ging, insgesamt 220 Urteile. In nur gerade einem Fall hat das oberste Gericht eine IV-Rente gutgeheissen. In weiteren drei Fällen hat es die Rentenzusprache der Vorinstanz gestützt, 10 Fälle wurden zur Neubegutachtung zurückgewiesen. In den restlichen rund 200 Fällen hat das Gericht den Anspruch auf eine IV-Rente verneint.

Angesichts dieser Bilanz könne von einem Meinungsumschwung, wie ihn das Bundesgericht angekündigt hatte, keine Rede sein, sagt Rechtsprofessor Thomas Gächter. Im Gegenteil. Es sei gar eine «sukzessive Verschärfung» festzustellen, die ihm ernsthafte Sorgen bereite. «Aufgrund unserer Analyse erhält man den Eindruck, dass die IV alles vorkehrt, um Renten abzuweisen, und das Bundesgericht stützt sie. Dabei müsste das Gericht die IV zumindest stellenweise korrigieren.»

Keine IV-Rente für Depressive, Tagesanzeiger, 11.06.2017

Als das Bundesgericht dann Ende 2017 auch seine Praxis bei leichten und mittelschweren Depressionen änderte, war der Jubel wieder gross: «Depressive erhalten bessere Chancen auf IV-Rente» titelte beispielsweise SRF. Dass das Bundesgericht Versicherte mit Depressionen – und im gleichen Aufwasch gleich alle psychisch Erkrankten (also nicht mehr «nur» Versicherte mit psychosomatischen Leiden) – dem indikatorengeleiteten Abkärungsverfahren Simulantentest unterstellte, konnte mir damals beim besten Willen keinen Jubel entlocken:

Dass alle Versicherten mit psychische Störungen nun unter noch grösserer Beweislast stehen, ist sicher kein «Fortschritt im Sinne der Betroffenen». Vielmehr sind SVP und Weltwoche endlich dort angekommen, wo sie schon immer hinwollten: Alle psychischen Krankheiten gelten jetzt als gleichermassen «schwer objektivierbar». Das ist genau das, was sie all die Jahre unermüdlich sagten und schrieben: «Richtige» Invalide sind die mit dem Rollstuhl und die mit den komischen Krankheiten sind sowieso grundsätzlich verdächtig, und sollen erstmal «beweisen», dass sie wirklich nicht arbeiten können.

ivinfo, 29. Dezember 2017


Gleichbehandlung aller Versicherten? BSV: Ja. Bundesgericht: Nein


Mein Standpunkt war immer – und ist es nach wie vor: Wenn ein Abklärungsverfahren wirklich fair ist und die Erwerbsfähigkeit aufgrund wissenschaftlich abgestützter Erkenntnisse abgeklärt wird, kann und soll dieses Verfahren bei allen – also somatischen wie psychischen – Erkrankungen gleichermassen angewandt werden. Es ist für mich nicht ersichtlich, warum es z.B. bei psychisch Erkrankten die Ausübung eines Hobbys als «Ressource» gewertet wird, während ein Rollstuhlfahrer – etwas plakativ gesagt – so viele Hobbys haben kann, wie er will. Bei vielen der «Indikatoren» scheint nicht (arbeits-)medizinsche Evidenz dahinter zu stecken, sondern einfach nur populäre Vorurteile über Menschen mit Behinderungen. Während die Rollstuhlfahrerin bewundert wird, dass sie – trotz ihrer offensichtlichen Behinderung – nicht nur zu Hause rumsitzt, vermutet man beim Depressiven, der nicht nur zu Hause rumsitzt, dass er doch sicher ein Simulant sei.

Nachdem das Bundesgericht 2015 die Überwindbarkeitsrechtsprechung durch das indikatorengeleitete Abkärungsverfahren ersetzte, hielt das BSV dann auch im IV-Rundschreiben Nr. 339 fest:

Der Auftrag ist für alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr macht, zwischen psychosomatischen und anderen Leiden zu differenzieren.

Im CHSS Nr. 4 / Dezember 2017 bekräftigten Kocher und Hermelink noch einmal:

Indem es [das BSV] das neue Beweis- und Abklärungsverfahren in der IV nicht nur bei psychosomatischen, sondern auch bei psychischen und somatischen Leiden anwendet, geht es allerdings einen Schritt weiter als das Bundesgericht.

Dem BGE 9C_106/2019 ist allerdings zu entnehmen, dass das Bundesgericht das ganz anders sieht als das BSV:

Die Diagnose ist – insbesondere auch in rechtlicher Hinsicht – von zentraler Bedeutung (vgl. auch BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285) : Bei einem Chronic Fatigue Syndrom oder dergleichen ist grundsätzlich in einem strukturierten Beweisverfahren zu prüfen, ob eine Invalidität vorliegt, sind hingegen die Fatigue und weiteren Symptome der Beschwerdeführerin auf einen somatischen Gesundheitsschaden (ZNS-Erkrankung) zurückzuführen, ist eine Prüfung nach den Standardindikatoren nicht zulässig (SVR 2018 IV Nr. 31 S. 99, 8C_350/2017 E. 5.3; BGE 139 V 346 E. 2 und 3.4).

Das Bundesgericht findet nämlich, dass bei der Einschätzung einer Erwerbsunfähigkeit nicht die effektiven Einschränkungen relevant sind, sondern ob die Versicherte eine psychische Krankheit hat (dann sind ihre Symptome nicht invalidisierend) oder ob sie eine somatische Erkrankung hat (dann glauben wir, dass die genau gleichen Symptome – auch wenn diese nicht direkt nachweisbar sind – Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit haben können und der RAD tut ihr unrecht):

Diese Arbeitsfähigkeitseinschätzung des RAD vermag jedoch, falls sich herausstellen sollte, die Beschwerden sind somatisch bedingt, nicht zu überzeugen (…).

(Der Treppenwitz bei diesem Fall ist, dass auch das vom Bundesgericht als «psychisch» kategorisierte Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS) laut WHO gar nicht als psychisches, sondern ebenfalls als organisches Leiden gilt, aber das ist nochmal eine ganz andere Geschichte.)

Das Bundesgericht erachtet es also ausdrücklich als «nicht zulässig», dass ein somatisches Leiden mittels Standardindikatoren dem Simulantentest abgeklärt wird. Damit stellt es sich nicht nur gegen die Vorgaben des BSV an die IV-Stellen, sondern auch gegen die Ausführungen von Prof. Dr. Peter Henningsen (Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Technische Universität München), dessen von Indemnis in Auftrag gegebenes Gutachten entscheidend dazu beitrug, dass das Bundesgericht 2015 von der «Überwindbarkeitsvermutung» Abstand nahm. Den folgenden Ausschnitt aus dem Gutachten von Henningsen hat man aber offenbar beim Bundesgericht gefliessentlich überlesen:

Es gibt im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Ätiologiemodells keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Situationen, in denen eine organpathologisch definierte Komponente des Körperbeschwerdeerlebens gegeben ist (z.B. bei Fatigue-Syndromen im Rahmen einer Multiplen Sklerose oder im Kontext einer Krebserkrankung) und solchen, in denen eine solche Komponente nicht gegeben ist (in beiden Fällen unterliegt dem Beschwerdeerleben eine ätiologische Mischung der bio-psycho-soziale Komponenten, so sind auch für das Ausmass von Fatigue im Rahmen einer Multiplen Sklerose die psychosozialen Ätiologiekomponenten gewichtiger als die unzweifelhaft biologisch-organische Komponente (vgl Bol 2009) – es gibt nur einen relativen Unterschied in der Gewichtung und Benennbarkeit der biologischen Komponente (…). Es ist insofern nicht gerechtfertigt, Körperbeschwerdesyndrome mit eindeutiger organischer Ätiologiekomponente im Hinblick auf die Begutachtung der Arbeitsfähigkeit anders zu behandeln als solche ohne eindeutige Komponente.

Die Vorgabe des BSV, alle Leiden gleich abzuklären, ist also aus medizinischer Sicht gerechtfertigt. Aber aus Sicht des Bundesgerichts nicht. Auf meine Anfrage an das Bundesamt für Sozialversicherungen, ob die IV-Stellen denn nicht widerrechtlich handeln, wenn sie das Indikatoren-Verfahren trotz dem oben zitierten BGE auch bei somatischen Erkrankungen anwenden, antwortete mir das BSV:

(…) Erst diese umfassende fachliche Beurteilung aller Indikatoren vermag die vorgebrachten Einschränkungen plausibel zu begründen und erlaubt es den IV-Stellen zu beurteilen, ob die geklagten Einschränkungen im Erwerbsbereich glaubhaft sind und welche Eingliederungsmassnahmen oder Leistungen der IV angezeigt sind. Deshalb sind wir nach wie vor der Meinung, dass das strukturierte Beweisverfahren auch für objektivierbare Beschwerden und damit auch auf somatische Leiden anwendbar ist.

Da ich keine Juristin bin, habe ich keine Ahnung, was diese Differenz zwischen BSV und Bundesgericht nun bedeutet. Es erscheint aber irgendwie so, wie wenn das BSV sagt: «Hey cool, das Bundesgericht hat uns ein super Instrument in die Hand gegeben. Das können wir doch auch bei oganischen Leiden anwenden, um mit irrwitzigen Begründungen Rentenansprüche abzulehnen.» Bundesgericht dann aber so: «Hey nein, Moment, ihr sollt doch nicht alle unfair behandeln, nur die psychischen!» BSV: «We don’t fucking care.»


Und dann… stieg der Rollstuhlfahrer auf einen Aprikosenbaum


Ich kann durchaus nachvollziehen, dass Jurist*innen die Indikatoren als völlig neutrales Abklärungsinstrument sehen (wollen), das einzig und alleine als Hilfsmittel dazu dient, um etwas – in ihren Augen – nicht beweisbares über Umwege zumindest «plausibel» zum machen. Und dass man meint, diese Hilfsmittel nicht zu benötigen, wenn «Beweise» in Form von Röntgenbildern oder Laboranalysen vorliegen. Was ich hingegen nicht nachvollziehen kann: Warum es laut Bundesgericht explizit nicht zulässig sein soll, die Indikatoren bei organischen Erkrankungen anzuwenden. Warum ist es nicht zulässig, das Ausmass einer Fatigue (die man auf keinem MRI sehen kann) bei einer Multiplen Sklerose über die Indikatoren festzustellen? Warum sollen hier nicht nicht die Hobbys oder gar die psychosozialen Umstände einbezogen werden dürfen? Und warum sollte man Versicherte mit organischen Leiden nicht genau so selbstverständlich auf «Aggravation» überprüfen, wie das die Standardindikatoren für psychische Leiden vorsehen? Ist das Abklärungsinstrument dann vielleicht doch nicht so «neutral», wie man immer behauptet? Und es wäre doch irgendwie bösartig, «richtige» Behinderte einem Simulantentest zu unterziehen?

Blenden wir doch mal kurz in den Abstimmungskampf über die Versicherungsdetektive zurück. Um zu unterstreichen, wie dringend notwendig es sei, dass Versicherte durch Detektive überwacht werden können, zeigten die Befürworter der Vorlage ihrer Ansicht nach besonders dreiste Fälle von Versicherungsbetrug auf. Ein immer wieder äusserst genussvoll zitierter Fall war jener des Rollstuhlfahrers, der von einem Detektiv dabei beobachtet wurde, wie er in seinem Garten auf einen Aprikosenbaum stieg.

Im entsprechenden BGE 9C_852/2014 ist ersichtlich, aufgrund welcher Voraussetzungen die Rente einst zugesprochen wurde:

In dem in der Folge in Auftrag gegebenen Gutachten des Zentrums C.________ vom 7. Dezember 2011 kamen die Ärzte zum Schluss, insgesamt bestehe klinisch das Bild einer inkompletten, linksbetonten Tetraplegie mit neurogener Blasenfunktionsstörung sowie einer ausgeprägten neurogenen Schmerzsymptomatik. Für die Fortbewegung sei der Versicherte zwingend auf einen Rollstuhl angewiesen. Insgesamt schätzten sie die zumutbare Arbeitsfähigkeit auf unter 30%

«Klarer Fall» sagt da der Jurist. Gibt ja Röntgenbilder.

Nachdem bei der IV-Stelle allerdings eine anonyme Verdachtsmeldung eingegangen war, wonach sich der Versicherte in der Öffentlichkeit mit dem Rollstuhl fortbewege, bei sich zu Hause aber in der Lage sei, anstrengende Gartenarbeiten zu verrichten, ordnete sie eine Observation an. Nochmal aus dem BGE:

Es habe beobachtet werden können, wie er auf eine Leiter gestiegen sei und sich dabei nach vorne gebückt und auf einem Bein stehend die Aprikosen gepflückt habe. Die notwendige Gewichtsverlagerung wäre bei einer den Gutachtern gegenüber geltend gemachten Parästhesie im linken Bein schlicht unmöglich gewesen. (…) Seine Behauptung gegenüber den Gutachtern, er könne den Kopf nicht reklinieren und diesen nur langsam drehen, sei erlogen, denn die Videoaufnahmen zeigten, wie er ohne Schwierigkeiten den Kopf drehe und rekliniere, um die Früchte zu ernten. Der Eindruck liege nahe, das sich der Versicherte bei den medizinischen Abklärungen in die Rolle eines Behinderten versetzt und mehr Einschränkungen vorgespielt habe, als dies in Tat und Wahrheit der Fall gewesen sei. In Kenntnis der Observationsberichte und des -materials sei die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von unter 30% als offensichtlich falsch zurückzuweisen. Es bestehe kein invalidisierender Gesundheitsschaden.

Das neckische an diesem Fall ist: Das Bundesgericht selbst hatte einige Jahre zuvor die Beschwerde des Versicherten gutgeheissen, in der dieser sich gegen die folgende Einschätzung der Medas gewehrt hatte:

Die Experten kamen im Gutachten vom 25. August 2008 zum Schluss, G.________ sei in der bisherigen und jeder anderen Tätigkeit zu 100% arbeitsfähig. Er leide an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, deren Symptome mit einer zumutbaren Willensanstrengung in einer an die objektivierbaren körperlichen Beeinträchtigungen angepassten Berufstätigkeit zu überwinden seien.

BGE 9C_666/2010

Das Bundesgerichtes begründete seinen Entscheid damals damit, dass eben «objektive Befunde» vorlägen:

Zwar hat die Vorinstanz richtig dargelegt, dass nicht jede nach einer Administrativbegutachtung auftauchende divergierende Auffassung der behandelnden Ärzte zu Beweisweiterungen Anlass gibt; davon ist aber abzuweichen, wenn wie hier die Kritik objektive Befunde und nachprüfbare Angaben enthält, welche die bisherige Sichtweise in Frage stellen können (Urteil 9C_210/2010 E. 2.3 in fine). Die erforderliche beweismässige Klärung lässt sich nur durch ein Gerichtsgutachten erreichen (vgl. BGE 122 V 157 E. 1d in fine S. 163). Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie ein solches bei einer bisher nicht mit dem Beschwerdeführer befassten spezialisierten Klinik einholt. Anschliessend wird die Vorinstanz über die Beschwerde neu entscheiden.

Vom Kantonsgericht wurde dem Versicherten dann aufgrund eines Gerichtsgutachtens eine ganze Rente zugesprochen (die IV-Stelle war – verständlicherweise – not amused).

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Richter*innen stark davon leiten liessen, dass «objektive Befunde» vorlagen (was das ursprüngliche Medas-Gutachten auch gar nicht verneint hatte) und es scheinbar total unfair fanden, dass man von einem Rollstuhlfahrer verlangte, seine Schmerzen mit zumutbarer Willensanstrengung zu überwinden. Sowas geht doch nicht, sagen da die Jurist*innen, so ein Rollstuhlfahrer ist doch ein echter Behinderter, das sieht man doch sofort! Ausser er steht aus seinem Rollstuhl auf, dann ist er laut den Juristen natürlich 100% erwerbsfähig. Auch das sieht man doch sofort.

Auch wenn das Bundesgericht bestreitet, dass die Erwerbsfähigkeit alleine daran festgemacht worden sei, ob und in welchem Umfang der Versicherte auf den Rollstuhl angewiesen sei, wirkt es doch so, als sei der Tatsache, dass der Versicherte auf einen Aprikosenbaum klettern kann, ziemlich viel Raum eingeräumt worden, während die viel entscheidendere Frage kaum erläutert wurde, nämlich: Kann der Versicherte während fünf Tagen pro Woche jeweils acht Stunden lang Aprikosen zu pflücken?

Wenn man sieht, wie stark sich in diesem Fall – je nach Gutachten und Instanz – die Einschätzungen unterscheiden (zuerst 100% erwerbsfähig, dann eine ganze Rente und schlussendlich wieder 100% erwerbsfähig), muss man sich schon fragen, ob die Erwerbsfähigkeit bei Leiden, bei denen klar objektivierbare Befunde vorliegen, tatsächlich soviel einfacher zu bestimmen ist, als bei psychischen Leiden.


Behinderung ist komplex – auch bei somatischen Erkrankungen


Es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass – manche – Rollstuhlfahrer*innen kurz aufstehen können. Die meisten machen das aber ganz bewusst nicht in der Öffentlichkeit, weil man ihnen dann unterstellt, sie seien doch «Scheininvalide» (siehe oben). Stefan Keller, Gleitschirmlehrer und Rollstuhlfahrer mit inkompletter Paraplegie erzählte in der Radiosendung  «Persönlich» (Min. 44 – 48) eindrücklich, wie irritiert die Leute reagieren, wenn er in der Migros aus dem Rollstuhl aufsteht, um schnell den Basilikum aus dem oberen Regal zu nehmen. Keller kann sogar auf einer Slackline laufen, weil er dafür gleichviel Konzentration braucht, wie wenn er normal auf dem Boden laufen würde. Was Keller aber auch sagt: «Die Schmerzen sehen die Leute halt nicht.»

Wenn also das Bundesgericht (siehe oben) dem Versicherten ziemlich verschnupft vorhält, dass dieser sich bei den medizinischen Abklärungen «in die Rolle eines Behinderten versetzt habe» verkennt es, dass die Gesellschaft (und damit auch die Gutachter*innen, Richter*innen usw. die ja alle Teil der Gesellschaft sind) ziemlich genaue Vorstellungen darüber haben, wie ein «richtiger «Behinderter sich sich zu verhalten habe (Goffman: Wir alle spielen Theater) und wer diesem vorgefertigten Bild nicht entspricht, wird entsprechend abgestraft («Ist ja gar nicht richtig behindert» bzw. erhält keine Leistungen der Invalidenversicherung).

Da das Bundesgericht selbst seit 15 Jahren geradezu fanatisch auf objektivierbare Beweise setzt und Schmerzen, Erschöpfung und andere nicht direkt «beweisbare» Symptome als überwindbar einstuft(e), braucht es sich nicht wundern, wenn Versicherte sich danach richten und das Narrativ über ihre Einschränkungen auf den Aspekten aufbauen, die irgendwie «beweisbar» sind. Denn was nicht beweisbar ist, wird ihnen ja (sonst) nicht geglaubt.

Einige Jurist*innen (vor allem die vom Bundesgericht) hören das jetzt nicht gern; aber eine Behinderung oder chronische Krankheit und die daraus resultierende Erwerbsunfähigkeit sind unglaublich komplexe und multifaktorielle Geschehen – auch zwar auch dann, denn wenn es sich um ein – aus juristischer Sicht – «klar objektvierbares Leiden» handelt. Auch Rollstuhlfahrer*innen können ihr Leiden verdeutlichen, auch Rollstuhlfahrer*innen können aufgrund von (nicht) vorhandenen persönlichen Ressourcen besser oder weniger gut in der Lage sein, trotz ihrer Behinderung erwerbstätig zu sein.

Röntgenbilder und Laboranalysen sind keine direkten «Beweise», sondern auch bloss «Indikatoren». Der exakte Grad der Erwerbsunfähigkeit ergibt sich nämlich nur sehr selten direkt aus klinischen Befunden (z.B. dann, wenn der Patient im Koma liegt), in den allermeisten Fällen müssen auch «objektive» Befunde interpretiert und in ihrer Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit eingeschätzt werden. Diese Interpretation ist – zum Leidwesen einiger beweisfanatischer Jurist*innen – keine exakte Wissenschaft. Und zum noch grösseren Unbehagen der beweisfanatischen Jurist*innen müssen sich Ärzt*innen auch bei «objektivierbaren» Befunden auf die Aussagen der Versicherten stützen, da Symptome wie Schmerz, Fatigue ect. schlicht nicht bildgebend erfasst werden können.

Die «Klarheit» und «Eindeutigkeit», die manche Jurist*innen bei organisch bedingten Leiden sehen wollen, gibt es schlicht nicht. Es ist eine Zuschreibung, die stark auf Vorurteilen beruht («Der arme Rollstuhlfahrer, der sagt doch bestimmt die Wahrheit»), ebenso wie die frühere – komplett aus der Luft gegriffene – Zuschreibung, dass nicht bildgebend beweisbare Leiden «überwindbar» wären. Indem das Bundesgericht das Indikatorengeleitete Abklärungsverfahren bei somatischen Leiden für unzulässig erklärt, sagt es ganz klar: Bei Versicherten mit somatischen Leiden gehen wir grundsätzlich davon aus, dass sie über Art und Intensität ihrer Symptome die Wahrheit sagen (deshalb wäre es unzulässig, sie einem Simulantentest zu unterziehen), während wir bei Versicherten mit psychischen Leiden grundsätzlich davon ausgehen, dass sie lügen (weshalb ihre Aussagen routinemässig einer Plausibilitätsprüfung unterzogen werden müssen).

Das ist diskriminierend.


Und nun?


Das Ziel kann natürlich nicht sein, dass man nun einfach bei allen Versicherten davon ausgeht, dass sie grundsätzlich lügen bzw. die Indikatoren einfach dazu benutzt werden, dass auch bei organischen Leiden ein allfälliger Rentenanspruch mit obskuren Begründungen abgelehnt wird. Es sollte deshalb ein für alle Versicherten gleichermassen anwendbares Abklärungsverfahren entwickelt werden, dass dem Simulantentest der Plausibilitätsprüfung einen angemessenen Stellenwert einräumt, aber nicht – so wie es jetzt bei der Indikatorenprüfung der Fall ist – praktisch ausschliesslich darauf basiert. Vielmehr sollte in erster Linie möglichst nachvollziehbar dargelegt werden, wie sich die Einschränkungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, denn darum geht es bei einer IV-Abklärung: Um die Erwerbsfähigkeit, nicht um die Hobbys und nicht die sozialen Kontakte. Es sollte sehr viel relevanter sein, wie sich die spezifischen Symptome einer Erkrankung ganz konkret auf die berufliche Tätigkeit auswirken, als ob die versicherte Person imstande ist, regelmässig ihren Hamster zu füttern. Dabei sollten ggf. auch Aussagen des (ehemaligen) Arbeitgebers miteinbezogen und/oder die effektive Arbeitsfähigkeit vermehrt (wie das diverse Autoren vorschlagen) im Rahmen von beruflichen Abklärungen (BEFAS) eruiert werden.

Primär auf die Erwerbsfähigkeit bezogene Abklärungen wären deutlich realitätsnaher, als ein Abklärungsverfahren, das auf der bauchgefühligen bundesrichterlichen Vermutung basiert, wonach bei organischen Befunden ein Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit grundsätzlich «plausibler» sei, als bei psychischen Leiden. Der BSV-Forschungsbericht 8/18 «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten» (2018) zeigte zudem gerade das Gegenteil: Während die Eingliederungsmassnahmen bei Versicherten mit muskoskelettalen Leiden (Hui! Röntgenbilder!) in 45% der Fällen erfolgreich verliefen, war das bei Versicherten mit einem psychischen Leiden nur bei einem Viertel der Fall. «Nichtbeweisbarkeit» korreliert also eher nicht mit einer grundsätzlich höheren Eingliederungs- und somit Erwerbsfähigkeitswahrscheinlichkeit.

Zugegeben: Die Thematik ist insgesamt äusserst komplex (darum ist der Artikel auch mal wieder sehr lang geworden). Vom Bundesgericht sollte man allerdings schon erwarten können, dass es dieser Komplexität angemessen Rechnung trägt und seine Rechtsprechung nicht exakt auf denselben holzschnittartigen Vorurteilen beruht, welche die realitätsverweigernden Retro-Romantiker von der Weltwoche seit Jahren zum Thema «IV und psychische Erkrankungen» in die öffentliche Diskussion einspeisen.

Zweierlei Mass

Im Oktober 2015 berichtete ich im Artikel «Besorgte Bürger» – und was sie nicht sehen» über «Andrea». Die 55-jährige Brigitte Obrist (wie Andrea wirklich heisst) leidet unter einer schweren Form von Cluster-Kopfschmerz und bezieht deshalb seit 18 Jahren eine IV-Rente. Aufgrund von mehreren anonymen Denunziationsschreiben, die ihr unterstellen, gar nicht «wirklich» krank zu sein (denn schliesslich könne sie sich in den Social Media äussern und sei sogar einmal in der Sendung «Club» des Schweizer Fernsehens aufgetreten) veranlasste die IV-Stelle Aargau eine medizinische Abklärung. Aufgrund dieser Abklärung halbierte die IV Obrists Rente im letzten Herbst auf 50%. Im Gutachten finden sich auch Passagen, die fast wörtlich dem Schreiben der Denunzianten entnommen sind, diese werden allerdings nicht als Zitate anonymer Denunzianten, sondern als «medizinische Tatsachen» wiedergegeben:

Die Versicherte hat eine sehr gute Fähigkeit, die Social Media zu verfolgen und sich darin in vielfältiger Weise zu äussern.

Watson.ch berichtete über den Fall von Brigitte Obrist und schreibt:

Nachdem Obrist von den [anonymen] Mitteilungen erfahren hatte, habe sie begonnen, sich selbst zu zensieren. «Ich traute mich nicht mehr, im Internet zu surfen. Ich fühlte mich beobachtet, wenn ich meinen Briefkasten leerte. Ich ging nicht auf den Markt im Nachbarsdorf, weil man mir dann hätte anhängen können, dass ich ja noch normal gehen kann».

Obwohl Obrist eine körperliche Krankheit hat, schienen Gutachter und die IV-Stelle Aargau die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit zumindest teilweise auf «Indikatoren» abzustellen, wie sie bei den (ehemaligen) Päusbonogs (pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage) angewandt werden. Dies überrascht nicht besonders, da die IV-Stelle Aargau geradezu bekannt berüchtigt dafür ist, somatische Krankheiten wie Päusbonogs zu beurteilen, mit dem Ziel, einen möglichst tiefen IV-Grad zu errechnen. Die IV-Stelle Aargau hatte dies unter anderem mit CrF (Cancer-related Fatigue) versucht, blitzte damit aber 2013 vor Bundesgericht ab. Einige Monate nach der Kürzung von Obrists IV-Rente argumentierte die IV-Stelle Aargau in einem anderen Fall mit Cluster-Kopfschmerz vor Bundesgericht:

Unabhängig davon, ob es sich beim Cluster-Kopfschmerz um eine nachweislich organische Pathologie oder um ein unklares Beschwerdebild handle, bedürfe es im Hinblick auf die Folgenabschätzung eines konsistenten Nachweises mittels sorgfältiger Plausibilitätsprüfung (…)

Das Bundesgericht sah das allerdings anders:

5.3. Nach dem Gesagten handelt es sich beim Cluster-Kopfschmerz gemäss aktuellem Erkenntnisstand um ein organisch bedingtes Leiden. Laut geltender Rechtsprechung fällt es daher nicht in den Anwendungsbereich des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 (…).
BGE 8C 350/2017

Als 2015 das strukturierte Beweisverfahren vom Bundesgericht eingeführt wurde, geschah dies mit der Implikation, dass Versicherte mit «Päusbonog» in Zukunft fairer abgeklärt würden. Eine Analyse des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich zeigte allerdings, dass dies nicht der Fall ist. Die Indikatoren werden nach bisherigen Erfahrungen vor allem dazu benutzt, Versicherte mit sogenannt «unklaren Beschwerdebildern» einfach besser begründet von Leistungen ausschliessen zu können. Dazu der Rechtsanwalt David Husmann im Plädoyer 1/2018:

Anstatt die Indikatoren zur Plausibilisierung einer vom Gutachter festgestellten Arbeitsunfähigkeit heranzuziehen, schreitet die Administration zu einer eigenen Beurteilung. Verbreitet ist dabei der Indikator «Familie» oder «Freunde und Bekannte», wonach jemandem, der in einer Familie mit Kindern lebt oder der Freunde und Bekannte hat, eine IV-relevante Arbeitsunfähigkeit mit dem Argument abgesprochen wird, wer zu Kindern schauen könne, könne auch arbeiten, und wer Freunde und Bekannte habe, könne daraus genügend Ressourcen ziehen, um die gesundheitliche Einschränkung zu kompensieren.

Bei der IV-Sachbearbeitung beliebt ist auch die Annahme einer Leidenskompensation wegen Hobbys, Autofahrten, Ferien und Fernsehen. Aber allein schon die Tatsache, dass jemand in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, wurde schon dafür verwendet, eine Kompensation des Leidens anzunehmen. Eine solche Argumentation findet man auch im Zusammenhang mit Haustierhaltung.

Ironisch überspitzt lässt sich kalauern, ähnlich wie Blindenhunde könne die IV Indikatoren- oder Kompensationshunde abgeben, um den Grundsatz «Eingliederung vor Rente» effizient umzusetzen.

Und weil die Rentenverweigerungen mit dem Indikatoren-geleiteten Verfahren so gut funktionieren, hat das Bundesgericht im Dezember 2017 diese Abklärungs Ablehungs-Methode auf (fast) alle psychischen Störungen ausgeweitet. Anne-Sylvie Dupont, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universitäten Neuenburg und Genf, sieht dies kritisch:

Das Bundesgericht vertritt daher die Auffassung, dass psychiatrische Störungen in zwei Kategorien eingeteilt werden: in ernst zu nehmende und nicht ernst zu nehmende. Bisher wurde die Auffassung vertreten, dass «echte» psychiatrische Störungen den Grossteil der Diagnosen in der Psychiatrie ausmachen, wobei nur die ehemals psychogenen Störungen und in jüngster Zeit leichte bis mittelschwere depressive Störungen die Ausnahme bilden. Nach der neuen Rechtsprechung kehrt sich die Wahrnehmung um: Die Mehrzahl der psychiatrischen Diagnosen sind potenziell unbedeutend und müssen mittels eines extrem feinen analytischen Rasters beurteilt werden, um als invalidisierend erkannt zu werden, während nur wenige sehr spezifische Pathologien den Rang eines «echten» Gesundheitsschadens erreichen. Dadurch wird die Diskriminierung zwischen physisch und psychisch kranken Versicherten verstärkt.

Aus dem Französischen übersetzt. Ganzer Artikel als PDF: Caractère invalidant des troubles psychiques: changement de pratique. Analyse des arrêts du Tribunal fédéral 8C_130/2017 et 8C_841/2016 8C_841_2016

Ich schrieb im September 2017:

Und wenn Gutachter mittlerweile sogar aus der Tatsache, dass sich jemand in den Social Media äussert, Schlussfolgerungen über dessen Erwerbsfähigkeit ziehen, wird nicht nur der Bewegungs- sondern auch der Kommunikationsrahmen für Menschen mit unsichtbaren Erkrankungen immer enger. Während Menschen mit sichtbaren Behinderungen sich problemlos politisch engagieren, im Chor singen oder eine Selbsthilfegruppe leiten können, gilt dasselbe Verhalten bei sogenannt «nicht objektivierbaren» Störungen als «Ressource». Oder als «Verdachtsmoment».

Zum Thema «politisches Engagement» ein aktuelles Beispiel. Am 16. Februar 2018 erschien in der NZZ unter dem Titel «Ein Politiker allen Hindernissen zum Trotz» ein ausführliches Portrait über einen jungen Mann. Es beginnt so: «Islam Alijaj leidet seit seiner Geburt an einer Zerebralparese. Das hält ihn nicht davon ab, auf der SP-Liste für den Zürcher Gemeinderat zu kandidieren.» (Anmerkung: Die Wahl fand am 4. März 2018 statt).

Ein Auszug:

Ein Sauerstoffmangel führte zu Schäden im Gehirn. Die kognitiven Fähigkeiten wurden nicht beeinträchtigt, doch wird er zeitlebens an einer Sprach- und Bewegungsstörung leiden. (…)

Nach seiner KV-Lehre wollte er ein Studium beginnen. Wirtschaft oder Wirtschaftsinformatik, so sein Plan. Mit einem Hochschulabschluss und entsprechenden Hilfestellungen hätte er eine Chance im ersten Arbeitsmarkt gehabt, war der damals 22-Jährige überzeugt. Doch Vertreter seiner Lehrfirma und der Invalidenversicherung überredeten ihn, dass eine IV-Rente und eine geschützte Arbeitsstelle besser für ihn seien, erinnert sich Alijaj. Erst im Nachhinein erfuhr er, dass Betriebe für jeden besetzten Arbeitsplatz Beiträge von der IV bekommen. Zudem hängt die Höhe der IV-Rente vom Ausbildungsgrad ab. Alijaj fühlte sich hintergangen. Weder sein Arbeitgeber noch die Invalidenversicherung hätten Interesse an seinen Ausbildungsplänen gehabt, sagt er. «Finanzielle Fehlanreize aufseiten der Institutionen haben mich um mein Studium gebracht», ist Alijaj überzeugt. «Dieses Ereignis hat mich schlagartig politisiert.»

Ob Alijaj trotz seiner Behinderung effektiv fähig gewesen wäre, ein Studium zu absolvieren bleibt offen. Er hat es gar nicht erst versucht. Gegen den Willen der IV zu studieren wäre grundsätzlich möglich, ist aber auch sehr mühsam. Und selbst wenn die IV ein Studium vordergründig unterstützt, kann sie die Ausbildung zusätzlich erschweren. Die gehörlose Ärztin Tatjana Binggeli berichtete letztes Jahr in der Tageswoche über ihre langwierigen Kämpfe mit der Invalidenversicherung während ihrer Ausbildung:

Jeden Monat musste ich der IV einen Bericht schreiben, wie es um mein Studium steht. Verpasste ich zum Beispiel eine Prüfung, wollte die IV ihre Leistungen gleich stoppen. Irgendwann wurde es mir zu bunt, ich musste sogar das Studium kurz abbrechen. Ich holte mir ein Darlehen und Bankkredite, mit denen ich die Hilfsmittel selber bezahlte. So war ich die Scherereien mit der IV für eine gewisse Zeit los und konnte das Studium abschliessen. Gleichzeitig forderte ich mein Recht beim Verwaltungsgericht ein und bekam dieses zugesprochen.

Was Alijaj im Bezug auf die Institutionen andeutet, ist im Behindertenbereich allerdings ein so offenes Geheimnis, dass man es sogar in einem BSV-Forschungsbericht nachlesen kann:

In anderen Kantonen stellen die IVST [IV-Stellen] fest, dass Institutionen das Potenzial der Versicherten oft geringer einschätzen als sie selber; die Institutionen würden Eingliederungen auch eher im Weg stehen aufgrund des Interessenkonflikts, gute Werkstattmitarbeitende behalten zu wollen.

Ob Alijaj mit einem allfälligen Studienabschluss tatsächlich Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätte, ist ungewiss. Seinem auf seiner Webseite einsehbaren Lebenslauf nach hatte er trotz seines KV-Abschlusses nie eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt inne. Der mittlerweile 32-Jährige hat stattdessen eine Familie gegründet und ist unterdessen Vater zweier Kinder. In der NZZ klingt das dann so:

Neben seiner politischen Tätigkeit ist Alijaj Initiator eines Fördervereins, der Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung ihrer Karriereträume helfen soll. Die Suche nach Investoren ist in vollem Gang. Energie für diese Doppelbelastung tankt er bei seiner Familie.

Wie sich das für einen Politiker im Wahlkampf gehört, unterhielt Alijaj eine Webseite mit Blog und ist auf Twitter und Facebook präsent. Bei all diesen Ressourcen (Politisches Engagement! Vereinstätigkeit! Geschickte Socialmedia-Nutzung! Betreuung zweier! Kinder!) bekäme jeder Indiaktoren-Detektiv glänzende Augen. Aber die Indikatoren sind ja nur für die Ressourcen-Einschätzung von Versicherten mit unsichtbaren/psychischen Erkrankungen relevant. Menschen mit körperlichen Behinderungen haben keine Ressourcen. Und Geburtsbehinderte schon mal gar nicht. Diese Vorstellung Dieses Vorurteil zeigt sich auch bei der in den letzten Jahren von wirtschaftsnahen Kreisen immer lauter werdenden Forderung, dass jungen Erwachsenen keine IV-Rente mehr zugesprochen werden sollte.

Aus der  Vernehmlassungsantwort der FDP zur nächsten IV-Revision:

Wir fordern, dass junge Erwachsene nur noch in Ausnahmefällen (z.B. Geburtsgebrechen, etc.) IV-Renten zugesprochen erhalten. Anstelle einer Rente soll neu ein Taggeld entrichtet werden, welches Erwerbsanreize richtig setzt. Parallel dazu sollen junge Erwachsene eng von der IV betreut werden, um ihre gesundheitlichen Probleme zu stabilisieren und ihre Arbeitsmarktfähigkeit wiederherzustellen.

Und der Arbeitgeberverband fordert:

Die Berentung von unter 30-Jährigen muss die Ausnahme sein. Renten sollen Kindern und Jugendlichen mit schweren Geburtsgebrechen vorbehalten sein, die keine Aussicht auf einen Job im ersten Arbeitsmarkt haben. Die übrigen jungen Menschen müssen über positive Arbeitsanreize und gezielte Unterstützungsmassnahmen beruflich Tritt fassen können.

Aus einer kürzlich veröffentlichten HSG SECO-Studie über «Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit»:

Es stellt sich deshalb die Frage, ob man bis zu einem gewissen Alter (z.B. 30 Jahre) nur noch in Ausnahmefällen (insbesondere bei Geburtsgebrechen) eine Rente sprechen sollte, um bessere Anreize zur beruflichen Eingliederung zu setzen.

Wäre tatsächlich eine bessere Eingliederung von ALLEN beeinträchtigten Jugendlichen beabsichtigt, würde man nicht die «Geburtsgebrechen» als Ausnahmen so hervorheben. Diese Einteilung ist medizinisch schlicht nicht zu rechtfertigen. Da die «richtigen» Behinderten mit den Geburtsgebrechen – die will man dann also schon nicht in den Betrieben, die sind dann doch «zu behindert» – und dort die «nicht richtig behinderten» psychisch kranken Jugendlichen – die will man genauso wenig in den Betrieben, aber DIE sollen gefälligst auch keine Rente erhalten. Es geht hier schlussendlich – einmal mehr – einfach darum, Versicherte mit psychischen Erkrankungen von Versicherungsleistungen auszuschliessen.

Diese polemische Stammtisch-Einteilung nach «richtigen» und «nicht richtigen» Behinderungen (statt nach effektiven Einschränkungen) wird Menschen mit Körper-/Geburtsbehinderungen nicht gerecht, weil man ihnen alleine aufgrund ihrer Behinderungsart jegliche Ressourcen abspricht, und ihnen quasi «automatisch» eine IV-Rente aufdrückt (und sie gegebenenfalls in geschützten Werkstätten «behält»). Und sie wird allen anderen, speziell unsichtbar/psychisch Kranken, nicht gerecht, weil man die behindernden Auswirkungen ihrer Erkrankung negiert und ihnen mittlerweile jegliche Lebensäusserungen als «Ressourcen» auslegt.

Brigitte Obrist übrigens, die vor ihrer Berentung als Projektleiterin gearbeitet hat (Und keinen Wahlkampf führt, keine Vereinsarbeit leistet und keine Kinder betreut) schreibt seit einem halben Jahr Bewerbungen. Sie sucht eine 50%-Stelle, bei der es keine Rolle spielt, dass sie pro Tag zwischen 20 und 35 Schmerzattacken erleidet und dann jedes Mal plötzlich ihre Arbeit unterbrechen muss. Bis jetzt hat sie nur Absagen erhalten. Sie wird bald auf die Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen sein.

[5/7] Überwindbarkeit, Behandelbarkeit – Je nachdem, wie es dem Bundesgericht gerade gefällt.

Die meisten Artikel, Abhandlungen, Bücher und Reden, welche die IV-Gesetzgebung über die letzten Jahre hinweg beeinflusst haben, wurden aus dem Blickwinkel von gesunden und beruflich erfolgreichen Menschen verfasst. Diese verdrängen häufig die eigene Verletzlichkeit und denken: Falls ich behindert werden würde, dann wäre ich ein erfolgreicher und komplett selbständiger Rollstuhlsportler (deshalb sind solche Helden-Artikel bei Nichtbehinderten auch so beliebt), aber sicher nicht jemand, der je auf das Wohlwollen, das Verständnis und die Unterstützung von Angehörigen, Ärzten und Ämtern angewiesen sein wird. Kurz: wenn ich behindert/krank würde, wäre ich eigentlich gar nicht behindert/krank, sondern genau so willensstark, unabhängig, energiegeladen usw. wie jetzt als Gesunde/r. Man kann sich ja schliesslich zusammenreissen. Und überhaupt haben viele IV-Bezüger sowieso keine «richtigen» Krankheiten. Deshalb ist eine strenge harsche Gesetzgebung mehr als gerechtfertigt.

Werden solche VertreterInnen der «harten Linie» dann direkt mit Menschen mit deutlich sichtbaren Behinderungen konfrontiert, wird die Verdrängung schwieriger und sie reagieren zuweilen verärgert bis aggressiv. Die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel äusserte sich zur Anwesenheit von Behinderten in der Berner Wandelhalle (anlässlich einer IV-Revision) beispielsweise mit den Worten: «Ob dieser Betroffenheitspolitik wird mir fast schlecht.»

Die NZZ- (bzw. bald Weltwoche-) Journalistin Katharina Fontana kommentierte 2013 den Einfluss des CVP-Nationalrates Christian Lohr auf die Ausgestaltung der IV-Revision 6b unter dem Titel «Gratwanderung eines invaliden (sic!) Nationalrates» herablassend und diskreditierend:

Man kann davon ausgehen, dass nicht alle CVP-Nationalräte aus Überzeugung für Lohrs Anträge gestimmt haben, sondern «weil man nicht anders konnte», wie es ein Parlamentarier formuliert. Es sei rein emotional entschieden worden, heisst es, man habe dem behinderten Kollegen nicht in den Rücken fallen wollen. Lohr selber führt seinen Erfolg vor allem auf seine Glaubwürdigkeit zurück.»

(Die IV-Revision 6b wurde dann später komplett versenkt und Lohr’s Argumente dürften entscheidend dazu beigetragen haben).

Man spürte in Fontanas Worten ganz deutlich die Verärgerung: Was meint der Behindi eigentlich, wer er ist? Jetzt müssen wir uns tatsächlich noch mit realen Behinderten rumschlagen. Dabei war doch bisher alles so gut gelaufen. Das Bundesgericht hatte in harmonischem Gleichklang mit der Scheininvaliden-Kampagne der SVP immer mehr Krankheitsbilder als – in der Regel – «mit zumutbarer Willenskraft überwindbar» erklärt. Wissenschaftliche Beweise gab es für diese steile These allerdings nie. Aber Juristen sind schliesslich die besseren Mediziner:

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schliessen sie heute noch Krankheitsbilder von IV-Leistungen aus…

Das Bundesgericht hielt zwar 2015 im Grundsatzentscheid 9C_492/2014 fest, dass die Überwindbarkeitsvermutung aufzugeben und stattdessen jeder Einzelfall individuell und ergebnisoffen abgeklärt werden soll, dieser anfänglich von vielen Seiten begrüsste Richtungswechsel lässt sich jedoch mittlerweile am besten mit «vom Regen in die Traufe» beschreiben.

Kurz nach dem Urteil hatte das BSV im Rundschreiben 339 noch festgehalten, dass alle Krankheitsbilder gleich behandelt werden sollten (was zum einen diskriminierungsfrei wäre und zum zweiten auch Sinn macht, weil bei körperlichen Krankheiten psychische Faktoren oder Ressourcen genauso Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit haben können):

Der Auftrag ist für alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr macht, zwischen psychosomatischen und anderen Leiden zu differenzieren.

Dann wurde dagegen gemeckert, u.a. mittels einer Interpellation von Ignazio Cassis und das BSV krebste zurück. Im aktuellen Kreisschreiben (KSIH) heisst es dann wieder:

Weil die Diagnosestellung, die Erhebung der funktionellen Einschränkungen im Leistungsvermögen sowie die Berücksichtigung von persönlichen und sozialen Faktoren bei körperlichen, geistigen und psychischen (objektivierbare und nicht objektivierbare) Krankheitsbildern unterschiedlich komplex ist, kann hinsichtlich der qualitativen Anforderungen an ein strukturiertes Beweisverfahren je nach Beschwerdebild differenziert werden.

Es gibt also nach wie vor «richtige Krankheiten» und «nicht objektivierbare». Zu zweiteren werden aktuell alle usprünglichen Päusbonogs, zusätzlich Posttraumatische Belastungsstörungen und mittelschwere Depressionen gezählt. Zwar nennen es das Bundesgericht und die IV-Stellen nun nicht mehr «Überwindbarkeit», aber wenn Versicherte mit einer mittelgradigen Depression beweisen müssen, dass sie «therapieresistent» sind, um Anspruch auf eine IV-Rente zu haben, ist das Prinzip dasselbe. Und wer glaubt, dass «mittelgradige Depressionen» die einzige Diagnose bleiben wird, bei der dieser Nachweis verlangt wird, der glaubt auch an den Samichlaus.

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Ergänzung 5. September 2017: In der Antwort des Bundesrates vom 30.8.2017 auf die Interpellation «Qualitätssicherung bei Rentenanpassungen infolge von somatoformen Schmerzstörungen» heisst es nun wieder:

Das Bundesgericht entwickelte ein neues Prüfschema für psychosomatische Leiden, in welchem die massgebenden Indikatoren benannt werden. (…)

Das Bundesamt für Sozialversicherungen geht einen Schritt weiter als das Bundesgericht und wendet das neue Beweisverfahren bei allen gesundheitlichen Leiden in der IV an.

Komme da noch draus, wer wolle…

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Nochmal aus dem aktuellen Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH):

Von Erwerbsunfähigkeit wird erst ausgegangen, nachdem die versicherte Person sowohl die angezeigten beruflichen Eingliederungsmassnahmen als auch die ihr zumutbaren medizinischen Eingliederungsmassnahmen wie z.B. medikamentöse Therapien, Operationen, Psycho-, Ergo- oder Physiotherapien durchlaufen hat.

Wann hat jemand eine Psychotherapie «durchlaufen»? Nach einem Jahr? Nach fünf oder vielleicht erst nach zehn Jahren?

Das Bundesgericht hatte 2001 im Grundsatzurteil 127 V 294 zur potentiell invalidisierenden Wirkung behandelbarer psychischer Störungen noch genau das Gegenteil von dem gesagt, was es jetzt sagt (Hervorhebung durch die Bloggerin):

Nach dem Gesagten ist die bisherige uneinheitliche Rechtsprechung in dem Sinne klarzustellen, dass die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aussagt. (…) Dies bedeutet keineswegs, dass eine fachärztlich festgestellte psychische Krankheit ohne weiteres gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer Invalidität ist. In jedem Einzelfall muss eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein (BGE 99 V 29 Erw. 2; MEYER-BLASER, a.a.O., S. 11 f. und LOCHER, a.a.O., S. 81 N 7 und 10). Entscheidend ist die nach einem weit gehend objektivierten Massstab zu erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern dem Versicherten trotz seines Leidens die Verwertung seiner Restarbeitsfähigkeit auf dem ihm nach seinen Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozial-praktisch zumutbar und für die Gesellschaft tragbar ist (BGE 102 V 165; AHI 1996 S. 303 Erw. 2a und ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen).
Soweit die Vorinstanz ihren Entscheid mit der Behandelbarkeit (Therapierbarkeit) und fehlenden Chronifizierung einer allfälligen (nicht auszuschliessenden) psychischen Störung begründet, hält dies demnach vor Bundesrecht nicht Stand.

Ob die Verwertung der (Rest)arbeitsfähigkeit für die Gesellschaft tragbar ist, ist übrigens auch eine interessant Frage. Die BSV-Studie «Schwierige Mitarbeiter» (2011) hatte beispielsweise aufgezeigt, dass längerdauernde Problemsituationen mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden in 9 von 10 Fällen mit der Kündigung «gelöst» werden. Probleme ergeben sich vor allem mit Mitarbeitenden mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich durch sehr unflexible Verhaltensmuster aus und sind die häufigste Ursache bei den Berentungen aus psychischen Gründen. Die Betroffenen könn(t)en – teilweise – schon arbeiten, sind aber für die Arbeitsumgebung in vielen Fällen offenbar(?) nicht tragbar.

Zurück zur Gesetzgebung im Bezug auf die «Therapierbarkeit». VertreterInnen von SP und den Grünen haben während der parlamentarischen Debatte zur 5. IV-Revision im Jahr 2006  eindringlich (aber vergebens) vor dem neuen Abschnitt a) in Artikel 28 IVG gewarnt:

Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a.
ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
(…)

So beispielsweise Pascale Bruderer (SP):

Artikel 28 stellt für uns wirklich einen ganz grossen Stolperstein dieser Revision dar. Diese neue Bestimmung könnte ein gefährlicher, ein hinterhältiger Wolf im Schafspelz sein. (…) Faktisch führt dies dazu, dass die heute einjährige Wartezeit für den Rentenanspruch bei allen Versicherten, die auf eine Verbesserung ihrer Gesundheit hoffen dürfen, auf unbestimmte Zeit verlängert wird; vielleicht sogar auf den Sankt-Nimmerleins-Tag (…)

Mitte-Rechts zusammengefasst: Jetzt tut nicht so hysterisch, es geht uns doch nuuuur um eine bessere Eingliederung.

Pascale Bruderer:

Wir sind nicht beruhigt, und wir können die Mehrheitsanträge so nicht akzeptieren. Darum stelle ich Ihnen jetzt ganz konkret die Frage: Haben Krebspatientinnen und Krebspatienten und haben Menschen mit psychischen Behinderungen, für die instabile Krankheitsverläufe charakteristisch sind, die also darauf hoffen können, dass ihre Erwerbsfähigkeit wieder besser wird, denen es aus gesundheitlichen Gründen aber nicht möglich ist, an beruflichen Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen, haben diese Menschen weiterhin Zugang zu einer IV-Rente?

Reto Wehrli (CVP), für die Kommission:

Ja, das haben sie. Lesen Sie den Text, es ist klar ausgewiesen. (…) Ich sage es noch einmal: Es werden hier nicht bestimmte Gruppen von Leuten ausgeschlossen; dies auch zuhanden der Materialien.

Das Bundesgericht und die IV-Stellen haben das Memo mit den «Materialien» offenbar nicht bekommen unauffindbar verlegt.

Nächster Teil: Die jahrelangen Bullshit-Behauptungen tragen Früchte. Die Geschichte der Schlussbestimmung.

EGMR-Urteil rechtsgültig. Ein Jahr neue Schmerzrechtsprechung. PTBS = «Psychosomatisches Leiden». Werkstätten suchen IV-Bezüger.

EGMR-Urteil rechtsgültig
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hatte am 2. Februar 2016 entschieden, dass Teilzeitarbeitende mit Familie in der Schweiz bei den IV-Renten diskriminiert werden. Die Schweizer Behörden stellten einen Antrag an den Gerichtshof, den Fall an die Grosse Kammer weiterzuziehen. Diesen Antrag hat das Gericht am 4. Juli abgewiesen. Damit wird das Urteil vom Februar endgültig und für die Schweiz verbindlich (via Procap).

Die Berner Zeitung berichtet dazu am 19.7.2016 ausführlich («Die IV rechnet frauenfeindlich») und illustriert den Artikel mit einem treffenden Bild:

bernerzeitung

Das Bundesgericht hatte offensichtlich nicht mit einem solchen Ausgang des EGMR-Verfahrens gerechnet, denn es hat mit dem Urteil 9C_178/2015 vom 4. Mai 2016 auch seine Rechtsprechung zur Invaliditätsbemessung bei Teilerwerbstätigen, die nicht zusätzlich einem anerkannten «Aufgabenbereich» nachgehen, erheblich verschärft. Leidtragende dürften auch hier in erster Linie Frauen sein. Künftig wird es Personen geben, die selbst bei schwerster Behinderung keinen Anspruch mehr auf eine IV-Rente haben. (Ausführliche Besprechung des Urteils in Handicap und Recht 4/2016)

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Ein Jahr neue Schmerzrechtsprechung | PTBS = «Psychosomatisches Leiden»
Im Jusletter vom 11. Juli 2016 (Nur mit Abo zugänglich) zieht Michael E. Meier nach einem Jahr mit der neuen Schmerzrechtsprechung Bilanz. Nach der Veröffentlichung von BGE 141 V 281 stellte sich die Frage, ob das geänderte Vorgehen bei der Anspruchsprüfung zu einer Ausweitung der Schmerzpraxis auf zusätzliche Krankheitsbilder führen würde. Das BSV hatte im IV-Rundschreiben Nr. 339 vom 9. September 2015 festgehalten, dass der neu entworfene Fragenkatalog für alle Arten von Gesundheitsschädigungen verbindlich sei, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr mache, zwischen psychosomatischen und anderen Leiden zu differenzieren.

Dieser Ansicht folgte das Bundesgericht jedoch nicht. Es hat sich in diversen Entscheiden zur Ausdehnung der Indikatoren auf weitere Beschwerdebilder geäussert und verneinte die Anwendbarkeit u.a. bei depressiven Störungen mittelgradigen Ausmasses (ICD-10 F33.1), andauernden Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) und paranoiden Persönlichkeitsstörungen (ICD-10 F60.0).

Eine klare Absage erteilte das Bundesgericht auch der Anwendbarkeit des neuen Beweisrasters in Fällen, in denen die Beschwerden somatisch erklärbar waren. Diese Frage trat häufig im Zusammenhang mit HWS-Traumata auf, bei denen die geklagten Schmerzen (teilweise) ein organisches Korrelat aufwiesen.

Im Beitrag von Meier noch nicht aufgeführt wird der am 7. Juli 2016 ergangene Entscheid 8C_676/2015 des Bundesgerichtes, wonach die posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) unter die Rechtsprechung zu den psychosomatischen Leiden fällt.

Das Bundesgericht begründet dies folgendermassen:

Bei einem dergestalt schwer fassbaren, rein subjektiven, nicht objektivierbaren und unspezifischen Krankheitsbild ist in Zusammenhang mit der Diagnosestellung in besonderer Weise auch auf Ausschlussgründe (Aggravation und dergleichen) zu achten (vgl. BGE 141 V 281 E. 2.2 S. 287 f.). Soweit es darüber hinaus schlussendlich vor allem um die Folgenabschätzung geht, mithin darum, die Auswirkungen der Störung auf das Leistungsvermögen bzw. die Arbeitsfähigkeit zu erheben und zu gewichten, bedarf es nach dem Erwogenen gerade auch bei der PTBS des „konsistenten Nachweises“ mittels „sorgfältiger Plausibilitätsprüfung“.

Das Bundesgericht hält im darauffolgenden Abschnitt allerdings auch fest:

Entgegen dem Antrag des BSV braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht entschieden zu werden, ob die Praxis nach BGE 141 V 281 auf alle (psychischen) Leiden auszudehnen sei.

Es wird also auch weiterhin zwei Methoden für die Invaliditätsbeurteilung geben. Diejenige für die mit den «richtigen Krankheiten» und die für die mit den «komischen Krankheiten». Und welche Krankheiten «komisch» sind, entscheiden in der Schweiz nach wie vor Bundesrichter und nicht Mediziner.

Schwerpunkt der neuen Praxis für «die mit den komischen Krankheiten» ist die sogenannte Konsistenzprüfung. Dabei wird anhand verschiedener Indikatoren geprüft, ob sich insgesamt ein konsistentes Gesamtbild ergibt. Werden z.B. trotz geklagter Beschwerden keine entsprechenden Therapien in Anspruch genommen? Fährt jemand Auto, obwohl er angeblich kognitive Defizite hat? Lässt sich die Freizeitgestaltung mit den angegebenen beruflichen Einschränkungen vereinbaren? u.s.w.

Auch wenn nicht aufgrund eines einzelnen Indikators, sondern aufgrund des sich aus mehreren Indikatoren ergebenden Gesamtbildes entschieden wird, darf man doch wiedermal die Frage stellen, warum beispielsweise die Gesangsauftritte (inkl. der damit verbunden Reisetätigkeit) einer Rollstuhlfahrerin grundsätzlich keine Relevanz für ihre IV-Berechtigung haben, während «Spazierengehen», «Museumsbesuche» oder «Teilnahme am Vereinsleben» bei den IV-Antragstellern mit «komischen Krankheitsbildern» Hinweise auf mögliche «Inkonsistenzen» geben.

So sinnvoll die Konsistenzprüfung an sich ist, so haftet ihr in in der Beschränkung auf bestimmte Leiden doch ein unangenehmer «Beigeschmack» an: Nämlich der, dass bei manchen Krankheitsbildern explizit überprüft wird, ob die IV-Antragsteller lügen (weil sie doch eigentlich «mehr» könnten) und bei anderen Krankheitsbildern nicht.

Das bestätigt dann wieder diejenigen besorgten Bürger, die der Meinung sind, wer «ohne Probleme in Fernsehen auftreten könne», müsse ein IV-Simulant sein.

Die IV-Stelle Solothurn sah sich angesichts der Missbrauchsverdachtsmeldungen «besorgter Bürger» veranlasst, in der Medienmitteilung zum Ende Mai veröffentlichten Jahresbericht 2015 folgendes festzuhalten:

Nicht immer führen Meldungen jedoch dazu, dass die IV-Stelle die Rente der gemeldeten Person einer vertieften Prüfung unterzieht. So sind beispielsweise Personen, welche eine Rente aufgrund einer psychischen Einschränkung beziehen, oftmals durchaus in der Lage körperliche Tätigkeiten auszuüben. Und es gibt auch Personen mit einer zumutbaren Restarbeitsfähigkeit oder Teilrente, welche trotz der IV-Rente noch einer ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen. Auch ein von aussen betrachtet finanziell sorgloses Leben lässt nicht zwingend Zweifel an der Rentenberechtigung aufkommen, da die Leistungen der IV allen Personen, auch vermögenden Personen, zustehen.

Ein armer Schlucker soll er sein, der IV-Bezüger. Und einen Rollstuhl soll er benutzen. Man bringt sie einfach nicht weg, die alten Bilder. Auch die Institutionen halten stur an ihren althergebrachten Vorstellungen vom «IV-Bezüger» fest:

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Geschützte Werkstätten suchen IV-Bezüger
Da die Nachfrage nach geschützten Arbeitsplätzen unerwartet gesunken ist, sucht die Stiftung Züriwerk per Inserat «nach Personen mit IV-Rente». Denn nur wenn sie die Arbeitsplätze besetzen kann, erhält sie genügend Subventionen zur Deckung ihrer Kosten. Stellen zu streichen, kommt für die Stiftung nicht infrage: Man setze auf die Akquisition von Klienten, sagt die Züriwerk-Sprecherin in der NZZ vom 14.7.2016. Die Presssprecherin der SVA Zürich spricht hingegen hinsichtlich der Eingliederungsmassnahmen von einem Wachstumsmarkt:

«Die IV-Stelle Zürich hat im letzten Jahr die Zahl solcher Massnahmen um 13 Prozent erhöht», sagt Aloisi. Sie sieht deshalb auch die Institutionen in der Pflicht. Diese seien gefordert, ihr Leistungsangebot auf die veränderten Bedürfnisse [nämlich die Integration in den 1. Arbeitsmarkt] auszurichten.

«Zu viele geschützte Arbeitsplätze» kommentiert Dorothee Vögeli daraufhin in der NZZ vom 16.7.2016:

Setzt Züriwerk auf den Erhalt von überholten Strukturen? Da die Stiftung offensichtlich nicht Schwerstbehinderte, sondern teilinvalide Rentner sucht, liegt dieser Verdacht nahe. (…). Tatsache ist, dass Züriwerk den Mitarbeitenden im Versand und Transport, in der Schlosserei, Gärtnerei und Bäckerei oder im Hofladen keine orts- und branchenüblichen Löhne bezahlen kann. (…) Zweifellos ist es positiv, Arbeit in der Schweiz erledigen zu lassen. Trotzdem stellt sich die Frage, weshalb das Angebot nicht mehr der Nachfrage entspricht. (…) Warum nicht vertiefende Abklärungen treffen, statt Subventionen abzuwarten? Die eigenen Pfründe zu retten, ist fraglos kein guter Schachzug.

Darüber, dass «Eine Behinderung keine Qualifikation ist» habe ich schon 2012 geschrieben. Aber bei den Institutionen hat man offenbar auch viereinhalb Jahre später immer noch die Vorstellung, «so ein IV-Rentner» könne man wie eine Zimmerpflanze einfach dort hineinstellen, wo die Institution aus Subventionsgründen gerade eine Lücke auffüllen muss. Darum sucht man auch Behindis «IV–Rentner» statt Berufsleute mit entsprechenden fachlichen Qualifikationen.

Vor zwei Jahren schrieb ich anlässlich einer Rede von Bundesrat Schneider-Ammann, in der er auf das Potential von Frauen und älteren Arbeitnehmern hinwies (Stichwort Masseneinwanderungsinititative; Fachkräftemangel), darüber, dass man auch bei Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen vermehrt das berufliche «Potential» für die Bekämpfung des Fachkräftemangels sehen könnte, statt sie (siehe oben) zu «Zimmerpflanzen» zu degradieren.

Nun schreibt die Berner Zeitung am 14.7.2016 unter dem Titel «Damit angeschlagene Personen im Job bleiben»:

Zwei grosse Potenziale hat Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann dazu eruiert, den herrschenden und vor allem drohenden Fachkräftemangel zu beheben: ältere Arbeitnehmer und Frauen.

Für Martin Kaiser vom Schweizerischen Arbeitgeberverband in Zürich existiert mindestens noch ein weiteres Reservoir, das es besser auszuschöpfen gilt: Behinderte. Oder präziser: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung gefährdet sind, den Arbeitsplatz zu verlieren und in die Abhängigkeit der Sozialwerke zu geraten, oder aber aufgrund einer Verbesserung ihrer gesundheitlichen Verfassung das Potenzial haben, wieder teilweise oder ganz im Arbeitsmarkt Tritt zu fassen.

Beim Arbeitgeberverband hat man mittlerweile offenbar mehr verstanden als bei den Institutionen. Die brauchen nochmal ein paar Jahre.