Als ich mich im Vorfeld der IV-Revision 6a immer und immer wieder kritisch zur Schlussbestimmung über die pathogenetisch ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage (kurz: PÄUSBONOG) äusserte, fühlte ich mich zuweilen etwas missionarisch. Missionarisch im eher unangenehmen Sinn. Die Art Mission nämlich, bei der man mit blumigen Worten vor dem kommenden Weltuntergang warnt, und die Leute einem – im besseren Fall – ein bisschen mitleidig betrachten und – im schlechteren – für komplett verrückt halten und sich sorgen, man könnte womöglich gewisse «labile Seelen» mit seiner Verrücktheit anstecken.
Diese Sorge war allerdings unbegründet, denn PolitikerInnen der bürgerlich-rechten Parteien (inkl. der damals für’s EDI zuständige Bundesrat) versicherten in und ausserhalb des Parlamentes unermüdlich und mit kreide-samtener Stimme «Man wolle doch niemandem die Rente wegnehmen», «die Überprüfungen würden mit Augenmass vorgenommen» und «psychische Krankheiten wären nicht betroffen» (Wer damals an der Ständeratsbriefaktion teilgenommen hat, findet vielleicht noch einige dieser samtenen Argumente als Antworten in seinem Mailarchiv). Kurz und schlecht: Die Schlussbestimmung wurde ohne Wenn und Aber – vor allem in einer bedenklich offenen Form im Gesetz verankert.
Wenn der Tagesanzeiger nun kürzlich titelte: «Harter Vorwurf: IV streicht Renten von Behinderten» kann ich mir nicht verkneifen zu fragen: Was habt ihr erwartet? Natürlich streicht die Invalidenversicherung Renten von Behinderten, von wem denn sonst? Von 17’000 Gartenzwergen? Ah ja, das böse S-Wort, klar. Das böse S-Wort hat allerdings mittlerweile eine Wandlung durchgemacht; niemand spricht mehr von Simulanten oder Scheininvaliden, es heisst jetzt Schmerz- oder Schleudertraumapatienten, impliziert aber in der Volksmeinung das selbe. Etwas vornehmer heisst es bei IV-Stellen und Gerichten «Nicht invalidisierender Gesundheitsschaden». Allerdings basiert die gesamte Rechtssprechung (und infolgedessen die IV-Praxis) bezüglich der PÄUSBONOGS auf der wissenschaftlich nie verifizierten «Vermutung», dass ebendiese Beschwerdebilder «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar seien».
Wie gesagt, ich hatte das Thema «Schlussbestimmung» damals breit abgehandelt, aber dass IV-Stellen/BSV/Gerichte tatsächlich auf die perfide Idee kommen könnten, Renten von Betroffenen zu streichen, bei denen ein PÄUSBONOG nur als Nebendiagnose figuriert, daran hatte ich zugegebenermassen nicht gedacht. Und als ich im Tagesanzeiger las: «Die IV-Stellen haben vom Gesetzgeber den Auftrag, IV-Renten mit pathogenetisch ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage zu überprüfen» hätte ich schwören* können, dass es im Gesetzestext doch heisse «IV-Renten aufgrund von pathogenetisch ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern(…)». Heisst es natürlich nicht. Die BSV-Juristen haben sich dabei ja was gedacht, der Gesetzestext lautet:
«Überprüfung der Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden»
Betroffen sind nun laut Erfahrung der Winterthurer Rechtsanwältin Lotti Sigg vor allem IV-Bezüger mit psychischen Störungen als Hauptdiagnose, aber auch bei somatisch klar nachweisbaren Erkrankungen werden mit dem Argument, es bestünde ja schliesslich auch eine PÄUSBONOG Renten aufgehoben. Mit der Rentenaufhebung teilt die IV Zürich den Betroffenen übrigens auch gleich mit, sie erhielten keine beruflichen Eingliederungsmassnahmen, falls sie rekurrierten. Begründung: «Wenn eine versicherte Person sich für die Weiterausrichtung der bisherigen Rentenleistung vor Gericht einsetzt, würde eine Eingliederung nicht zum gewünschten Erfolg führen». Rechtsanwältin Sigg bezeichnet dieses Vorgehen als Nötigung. Kann man wohl so sagen.
*Auch Urs Dettling von der Pro Infirmis hatte in einem Kommentar zur IV-Revision 6a festgehalten: «Bedenken hat Pro Infirmis nach wie vor zur Überprüfung von bestehenden Renten mit der Absicht, diese aufzuheben. Es handelt sich um solche, welche vor 2008 aufgrund von organisch nicht erklärbaren Schmerzzuständen zugesprochen wurden (…)» Herr Dettling und ich sind wahrscheinlich nicht die einzigen, die so unbedarft waren, zu gauben, «bei» hiesse das selbe wie «aufgrund».