Aber… man hat’s doch versprochen!

Einige Journalisten aus dem liberalen Umfeld laufen aufgrund der kürzlichen Nationalratsbeschlüsse zur IV-Revision 6b gerade ein bisschen Amok.

Die Autoren hätten auch alle direkt beim Arbeitgeberverband copy & pasten können, der schreibt: Invalidenversicherung: Der Nationalrat verlässt den Sanierungspfad

Unisono wird beklagt, vor der Abstimmung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der Invalidenversicherung im September 2009 hätte «man» – also das Parlament – «dem Volk» versprochen, bei Annahme der Zusatzfinanzierung würde während der Laufzeit ebendieser die 6. IV-Revision umgesetzt. Diese beinhalte Sparmassnahmen, die darauf abzielten, dass die IV-Rechnung nach Ende der Zusatzfinanzierung ausgeglichen sei.

Die Herren Rostetter/Feusi/Schoenenberger haben mich auf Twitter alle drei auf diesen Abstimmungstext hingewiesen, als ich zu bedenken gab, dass die Zusatzfinanzierung doch eigentlich das Versprechen für die Sparmassnahmen der 5. IV-Revision gewesen sei.

Die ursprüngliche Fassung der 5. IV-Revision enthielt nämlich sowohl Sparmassnahmen, wie auch eine Zusatzfinanzierung. Und zwar eine Zusatzfinanzierung, die den wirtschaftsnahen Kreisen wohl nur beim Gedanken daran noch heute die Tränen in die Augen treibt: Der Bundesrat schlug damals vor, die IV-Lohnbeiträge um 0,1 Prozentpunkte und die Mehrwertsteuer gleichzeitig um 0,8 Prozentpunkte anzuheben. Im Verlaufe der Debatte wurde auf Antrag der Wirtschaft von Mitte-rechts die Zusatzfinanzierung aus der Vorlage herausgenommen und auf «später» verschoben. Erstmal sollten die Sparmassnahmen umgesetzt werden. Mit der Zusatzfinanzierung hatte man es dann nicht mehr so eilig, zudem wurde sie im Laufe der Zeit immer mehr zurechtgestutzt. Die SVP legte bereits einen Tag nach der Abstimmung über die 5. IV-Revision einen Vorschlag zu einer ausgabenseitigen 6. IV-Revision vor, vorher würde man an eine Zusatzfinanzierung nicht mal denken. Aus der 6. IV-Revision wurden dann gar zwei: Die Benennungen 6a und 6b dürfte man wohl als reine Kosmetik bezeichnen.

Auf Druck der Wirtschaft wurde schliesslich auch der bereits festgelegte Abstimmungstermin zur Zusatzfinanzierung nocheinmal verschoben, ebenso der Zeitpunkt des Inkrafttretens («der Wirtschaft geht’s grad nicht so gut»). Die Schulden der Invalidenversicherung sind während all der verstrichenen Zeit natürlich fröhlich weitergestiegen, und der nun umso grössere Schuldenberg war eine noch bessere Begründung für noch radikalere Sparmassnahmen.

Man kann sich nun also trefflich darüber streiten, wer wann was verzögert oder versprochen hat. Im Prinzip ist das ja nun auch egal. Die IV soll saniert werden und die Wirtschaftsverbände werden mit Sicherheit dafür sorgen, dass die Ständeräte in der Differenzbereinigung nochmal etwas ziemlich an der Sparschraube drehen. Zudem ist es ja nur ein Splitting der Vorlage (wie damals bei der Zusatzfinanzierung… dauert vielleicht etwas länger, aber kommt schon noch). Die Empörten dürfen sich also alle mal wieder ein bisschen einkriegen.

Traurig ist  jedoch, dass offensichtlich keiner der obenerwähnten Journalisten auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden scheint, geschweige denn jemals einen Artikel darüber schrieb, mit welchen Methoden denn eigentlich die Sparmassnahmen umgesetzt werden. Und mit welchen Auswirkungen auf Betroffene. Ich weiss schon; Krankheit und Behinderung sind gar keine sexy Themen. Sowas fasst man dann lieber nicht mal mit der Kneifzange an. Nüchterne Zahlen sind irgendwie knackiger. Man glaubt auch lieber blind den Erfolgsmeldungen des BSV, als sich mit unbequemen Wahrheiten auseinandersetzen. Und ein kleiner Seitenhieb auf die lästigsten aller Kostentreiber bei der IV, die psychisch Kranken, gibt einem IV-Artikel aus Sicht von Herrn Schoenenberger gerade den richtigen Schliff; sowas wie «IV-Rentner mit einer psychischen Behinderung können aber öffentliche Verkehrsmittel benutzen, sie brauchen kein Behindertentaxi» zum Beispiel. Zwar für’s Thema Reisekosten nicht nur völlig irrelevant (und zudem falsch: Natürlich gibt es psychische Krankheiten die zum Beispiel eine Begleitperson bedingen oder die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmittel verunmöglichen) aber es klang halt noch gut.

Bei all dem geht eins verloren: Hinter all den Zahlen stehen Menschen. Menschen, die sich ihre Krankheit oder Behinderung nicht ausgesucht haben. Die nicht das Glück haben, gesund zu sein. Die oftmals nicht nur unter ihrer Erkrankung oder Behinderung leiden, sondern auch darunter, ihre Begabungen und Fähigkeiten beruflich nicht (mehr) zum Tragen bringen zu können. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können. Deren Realitäten aber in Ihren Zeitungen, meine Herren, nie aufgezeigt werden. Die nur als eines dargestellt werden: als Zahlen. Im Falle psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen auch gerne als Simulanten. Behinderung findet – wenn überhaupt – in Ihren Publikationen doch vor allem in zwei Varianten statt: Der erfolgreiche Spitzensportler im Rollstuhl oder der in der Regel nicht besonders hoch qualifizierte und/oder geistig Behinderte als Vorzeigebeispiel einer erfolgreichen beruflichen Integration (Vorzugsweise illustriert mit einem Foto einer anspruchslosen manuellen Tätigkeit). Die IV-Bezüger, der ganze Rest also, sind genau das: «Restmenschen», leidige Kostenfaktoren. Denen man kein Gesicht und keine Stimme gibt, damit es umso leichter fällt, einen geharnischten Artikel darüber zu schreiben, warum jetzt himmelnochmal nicht noch mehr gespart wird bei diesen Restmenschen.

Sie machen es sich leicht. Meine Herren. Sehr leicht.

Und nein, das Argument, «Wir wollen doch nur, dass für die «wirklich Behinderten» genug Geld da ist» – ist nicht wahr. Und Sie wissen das. Alle. In den letzten Jahren ist es nämlich geradezu chic geworden, in IV-Spardebatten zu betonen, dass in der Schweiz niemand unter einer Brücke schlafen muss. Die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz sei ja immerhin noch da. Das ist es, was die liberalen Kreise wollen. Dass die Restmenschen möglichst wenig kosten. Und dann – so sagte es jedenfalls der freisinnige Bundesrat Burkhalter – könne man die Lohnabzüge für die IV senken und sie um das Gleiche bei der AHV erhöhen.

Wer hier wen belügt oder um was betrügt ist also bei weitem nicht so klar, wie Sie das alle darstellen. Aber es fällt natürlich weniger auf, wenn man nur ein paar Behinderte belügt (Wenn ihr brav ja sagt zur 5. IV-Revision gibt’s als Zückerli auch eine schöne Zusatzfinanzierung und 3000 neue Arbeitsplätze für Behinderte (Grandios gescheitertes Projekt «Passerelle» des damaligen Nationalrates Otto Ineichen), und ja, natürlich engagieren sich die Arbeitgeber für die Eingliederung, oder auch: Klar diagnostizierbare psychische Erkankungen sind selbstverständlich nicht von Rentenstreichungen betroffen. Die Liste liesse sich nahezu endlos fortsetzen. Lesen wir von all den gebrochenen Versprechen an die Behinderten jemals irgendwas in der NZZ? Dem St. Galler Tagblatt? Der BaZ? Vielleicht auch mal etwas zur zweifelhaften Gutachterpraxis der Medas? Mit mindestens soviel Empörung gezuckert wie Ihre aktuellen Artikel?

Natürlich nicht. Das wäre ja Sand im Sparmassnahmenpropagandagetriebe.

PS: Das mag jetzt nach soviel Schelte möglicherweise etwas unglaubwürdig klingen, aber wo ich doch gerade mal die geschätze Aufmerksamkeit habe; Danke Herr Feusi, für Ihren Artikel zu den undurchsichtigen Subventionen an die Behindertenorganisationen. Leider sang ja das Parlament (mit löblicher Ausnahme der SVP) in der vergangenen Debatte ein mehrstimmiges Loblied auf die Behindertenorganisationen und verschonte sie von Kürzungen. Was zeigt, wofür die Behindertenorganisationen am allerbesten lobbyieren: für ihre urgeigensten Interessen – und nicht für diejenigen der Behinderten.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Vor einigen Tagen sendete 10vor10 anlässlich des IV-Sparwahns bei der SGK-N einen Beitrag über die schwierige Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Untenstehend ein Filmstill aus dem Beitrag:

Das Still «zeigt» M.R. welcher kurz vor der Matura an Schizophrenie erkrankt ist, trotzdem später eine KV-Lehre absolviert und erst nach langer Suche eine 50%-Stelle im «normalen» Arbeitsmarkt gefunden hat.
Was dieses Bild auch zeigt: Was Stigmatisierung bedeutet.
Psychisch kranke Menschen möchten ihr Gesicht nicht zeigen. Sie bleiben lieber anonym. Das ist verständlich, da sie –  leider nicht zu Unrecht – befürchten müssten, im beruflichen und/oder persönlichen Umfeld mit Vorurteilen und anderen Schwierigkeiten konfrontiert zu werden, würden sie sich öffentlich «outen».

Das Problem an der ganzen Sache ist; dadurch entsteht ein sich selbst aufrechterhaltender Teufelskreis. Solange Menschen mit einer psychischen Erkrankung in den Medien entweder nur als gefährlich oder als unscharfer Umriss dargestellt werden, bleibt die Stigmatisierung aufrechterhalten. Denn die Menschen dahinter bleiben verborgen.

Und politisch ist eine «anonyme Masse» sehr viel einfacher zu diskriminieren, als Menschen mit Namen, Gesicht und Stimme.

Manchmal denke ich, manchen psychisch soweit «gesunden» Menschen macht der Gedanke an Gemeinsamkeit/Ähnlichkeit mit psychisch Kranken viel mehr Angst als die Unterschiede zu ihnen. Diese Unterschiede sind nämlich in vielen Bereichen oftmals gar nicht so gross.

Auch psychisch kranke Menschen möchten sich – soweit es ihre Krankheit zulässt –  einbringen, ihre Talente entfalten, sich nützlich fühlen. Es ist wesentlich einfacher, diese Tatsachen zu verleugnen*, und die Betroffenen als komplett anders als man selbst – nämlich als faul und unwillig darzustellen (womit Politiker und andere Akteure die immer weiter verschärfte IV-Gesetzgebung rechtfertigen) als einzugestehen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der offenbar (noch) eine so grosse Stigmatisierung von psychisch Kranken besteht, dass es Betroffenen nicht mal möglich ist, sich ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit zu äussern.

Wenn das nicht möglich ist – wie soll dann erst Integration funktionieren?

Video-Beitrag 10vor10

Siehe auch Blogeintrag: Wen würden Sie einstellen?

*Festzustellen, dass psychisch kranke Menschen vielleicht gar nicht so anders sind als man selbst, bedeutet eben auch anzuerkennen, dass man selbst vielleicht auch psychisch erkranken könnte – und dadurch vorübergehend oder dauerhaft das verlieren könnte, worauf man so unglaublich stolz ist: Mit dem eigenen Willen «alles» erreichen zu können. Also sagt man lieber, «die» sind ganz anders als ich. Ich bin rechtschaffen, pflichtbewusst, arbeitsam. «Die» nicht.

Stellungnahme der FMH zur IV-Revision 6b

Zusammenfassend könnte man sagen: Die FMH ist «not amused». In ihrer Stellungnahme zur Vorlage der IV-Revision 6b findet die Ärzteschaft deutliche Worte ihren Unmut kundzutun – gleich zu Beginn wird die grassierende Revisionitis bei der IV ganz generell kritisiert: «Es stellt sich zunehmend dringlich die Frage, ob permanente Revisionen der Invalidenversicherung nicht mehr Schaden als Nutzen anrichten.»

Das wäre in der Tat einmal eine Grundsatzfrage, über die diskutiert werden sollte. Sollte. Und auch folgende bisher von Politik und Wirtschaft konsequent verleugneten Tatsachen sollten dringlichst einmal auf den Tisch kommen: «Es ist nicht möglich, die IV nur auf dem Buckel der Versicherten gesundzu-schrumpfen. Wer es mit der Sanierung der IV ernst meint, bindet den Arbeitsmarkt und damit auch die Unternehmen durch Anreize und/oder Quotenregelungen verbindlich ein.»

Damit wäre eigentlich alles gesagt und der Auftrag klar: Vorlage zurück an den Absender und erstmal diese grundlegenden Tatsachen anerkennen.

Nur leider hapert es mit den «Tatsachen anerkennen» ausgerechnet dort, wo einerseits eine entscheidende Verantwortung liegt und andererseits die aus Sicht des FDP Departements Burkhalter einzig wirklich relevate Vernehmlassungs-antwort herkommt: Beim schweizerischen Arbeitgeberverband, dort unterstützt man der Entwurf für die Revision 6b ganz generell. (Die detaillierte Vernehmlassungsantwort des Arbeitgeberverbandes werde ich in einem separaten Artikel behandeln.)

Vorlage als Ganzes zurück an den Absender funktioniert in diesem Fall also nicht, weshalb die FMH dann auch zu den einzelnen Punkten dezidiert Stellung bezieht, beispielsweise zum Thema Haftung der IV für von ihr verordnete medizinischen Massnahmen: «Wenn jemand Operationsrisiken auf sich nimmt, um seine Erwerbsfähigkeit zu verbessern, gehört es zur Fairness in der IV, dass die Invalidenversicherung im Fall allfälliger Komplikationen den Schaden deckt – wie in der Unfallversicherung. Deshalb schlagen wir folgende Ergänzung vor:
Art. 7 Abs. 3 (neu)
Die Invalidenversicherung bestätigt durch Verfügung, dass eine medizinische
Massnahme gemäss Abs. 2 lit. d. geeignet erscheint, die Erwerbsfähigkeit zu
verbessern.
Art. 7 Abs. 4 (neu)
Die Invalidenversicherung haftet für die Schädigungen, die dem Versicherten
bei der Durchführung einer medizinischen Massnahme gemäss Abs. 2 lit. d zugefügt werden.

Des weiteren begrüsst die FMH zwar die Abschaffung des bisherigen grob abgestuften Rentensystems «hält es jedoch für sozialpolitisch unfair und letztlich auch Augenwischerei, erst ab 80% Erwerbsunfähigkeit eine volle IV-Rente auszurichten; auch wer nominell noch zu 30% erwerbsfähig ist, findet oft keine seine Fähigkeiten entsprechende Arbeit.»

Besonders hoch kocht das Blut bei den Ärzten verständlicherweise, wenn es um die «Regionalen Ärztlichen Dienste als alleinige Verkünder der Wahrheit» geht: «Die ausschliessliche Massgeblichkeit der RAD-Beurteilung ist sowohl sachlich wie rechtsstaatlich unzulässig, die FMH kann dieser Zumutung nicht zustimmen.
Die Verpflichtung des Richters auf bestimmte Beweisregeln („Durch zweier Zeugen Mund wird allwegs die Wahrheit kund“, etc.) kennzeichnete das Mittelalter. Die Einführung der freien Beweiswürdigung – also des Rechts und der Pflicht der rechtsanwendenden Stelle, alle potentiell relevanten Beweise abzunehmen und zu würdigen – ist ein Fortschritt, den wir der Aufklärung verdanken. Art. 54a führt nun wieder ins Mittelalter zurück. Auch die Erläuterungen sind nicht geeignet, Vertrauen zu wecken. Dass sogar das Bundesgericht in seinem Geschäftsbericht die medizinischen Abklärungen in der IV deutlich kritisiert, ist ein Alarmzeichen, das Bundesrat und Gesetzgeber zum Anlass nehmen sollten, die Situation zu verbessern, und nicht den Rechtsstaat noch mehr abzuschaffen.
Beim RAD handelt es sich um von der IV angestellte Versicherungsärzte. Sie sind damit von der IV wirtschaftlich abhängig. Ein Rechtsgutachten von Prof. em. Jörg Paul Müller kommt zum Schluss, dass schon die MEDAS nicht so unabhängig sind, wie dies Art. 6 EMRK verlangt. Dies gilt umso mehr für die RAD-Ärztinnen und Ärzte.»

Vielleicht könnte man auch sagen «not amused» mit leichter Tendenz zu «totally pissed off». Die vollständige Stellungnahme der FMH ist als PDF downloadbar