In einer dreiteiligen Artikelserie werde ich einige Aspekte rund um die Entstehung des Leitfadens «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» beleuchten. Im ersten Teil geht es um Erfahrungen, die ich während der Arbeit am Projekt gemacht habe, sowie politisch-historische Hintergründe.
Für den Leitfaden habe ich mit vielen verschiedenen Menschen gesprochen (potentiellen Geldgebern, Mitarbeiter·innen von Eingliederungsinstitutionen, Expert·innen, Job Coaches, Betroffenen usw.). Nachdem ich jeweils mein Vorhaben erklärt hatte, erlebte ich regelmässig folgende drei Reaktionen:
- «Von welcher Organisation (oder Institution) sind Sie?» Beziehungsweise: «In wessen Auftrag schreiben Sie diesen Leitfaden?» War die Frage, die mir von der Vorstellung des Konzeptes bis zur Distribution der fertigen Broschüren am häufigsten gestellt wurde. Meine Antwort, dass es sich dabei um mein eigenes Projekt handle (selbstverständlich fachlich von ausgewiesenen Expert·innen begleitet) sorgte regelmässig für eine gewisse Irritation beim Gegenüber. Ich hatte es offenbar versäumt, das ungeschriebene Gesetzbuch des Behindertenbereichs zu konsultieren, wonach es laut Art. 57 Absatz 3 nur Institutionen, Organisationen oder zumindest Vereinen erlaubt ist, so ein Projekt umzusetzen. Scherz beiseite; effektiv ist es tatsächlich so, das viele Stiftungen oder andere Geldgeber grundsätzlich keine Projekte von Privatpersonen unterstützen – was auch bei diesem Unterfangen eine erhebliche Hürde darstellte. (Wo kämen wir denn hin, wenn einfach «irgendwelche Leute» anfangen, Dinge zu realisieren, weil es die aus ihrer Sicht braucht – und nicht 10 weitere Jahre darauf warten, dass sich die Behindertenorganisationen dazu bequemen?!)
- Bei der Suche nach Geldgebern hörte ich auch (mehrfach): «Das gibt es doch schon!» Bei genauerer Nachfrage konnte mir dieser «bereits existierende Leitfaden» dann jedoch nie gezeigt werden. Verwiesen wurde beispielsweise auf eine Publikation für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Dass zum einen davon ausgegangen wird, dass «für die psychisch Kranken» schon genug getan werde (die tiefen Eingliederungsquoten sprechen eine andere Sprache), während man sie zum anderen mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung gleichsetzt, ist ein nicht unbeträchtlicher Teil des Problems der nach wie vor oft suboptimal verlaufenden beruflichen Eingliederung bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung (Ich werde im zweiten Artikel nochmal darauf zurückkommen).
- Die für ihre Expertise kontaktierten Fachpersonen begrüssten es grösstenteils, dass es – endlich – einen Leitfaden geben sollte, der sich all den Fragen widmen würde, die ihnen von ihren Klient·innen regelmässig gestellt werden. Vereinzelt war allerdings auch eine gewisse Konsternation darüber spürbar, dass man nicht selbst auf diese Idee gekommen war und dass die Publikation nicht unter dem Lead und dem Namen *ihrer* Organisation veröffentlicht werden würde. Das wäre doch gut für’s Image der eigenen Organisation/Institution gewesen, wenn man so etwas herausgegeben hätte. Ja, wäre, hätte, Fahrradkette. Hier liegt ein weiterer Teil des Problems: Wenn einem erst einfällt, dass man etwas hätte machen sollen, weil es dem Ansehen der eigenen Organisation nützt, und es nicht schon vorher von sich aus gemacht hat, weil es den Betroffenen nützt, läuft etwas grundlegend falsch.
Der teils immer noch fehlende Wille, beim Thema Eingliederung die Erfahrungen, Schwierigkeiten und Befürchtungen von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung wirklich wahr- und ernst zu nehmen, betrifft allerdings nicht nur die Organisationen. Dieses Defizit zieht sich durch die gesamte Sozialpolitik der vergangenen Dekade. Im Folgenden werfe ich deshalb einige Blick zurück, wie die berufliche Eingliederung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung bisher angegangen wurde.
Hehre Ziele
Als der heutige IV-Chef Stefan Ritler im Mai 2010 sein Amt antrat, waren die Arbeiten für IV-Revision 6a in vollem Gange. Aufgrund der angespannten finanziellen Lage der Invalidenversicherung standen dabei strengere Zugangsbedingungen bzw. die Streichung von IV-Renten aufgrund von bestimmten – angeblich unklaren – Krankheitsbildern im Vordergrund. Verkauft wurde das Ganze unter dem wohlklingenden Titel: «Bessere Instrumente für die Eingliederung». Speziell bei Versicherten mit psychischen Erkrankungen sollten die neuen «Instrumente» eingliederungstechnische Wunder bewirken. Im August 2010 erschien in der Aargauer Zeitung ein Interview mit Ritler. Ein kurzer Auszug:
Das grosse Ziel der 6. IV-Revision ist die Wiedereingliederung von 17’000 Personen in den Arbeitsmarkt. Ist diese Zielsetzung angesichts der Wirtschaftslage überhaupt realistisch?
Ritler: Ja.
Wie soll das aufgehen? Derzeit sind in der Schweiz nur 17’000 freie Stellen ausgeschrieben.
Ritler: Mit der 4. und 5. IV-Revision wurde bei den IV-Stellen ein Kulturwandel eingeläutet. Uns wurde bewusst, dass wir viel mehr Face-to-face-Arbeit leisten und die Wiedereingliederung planen müssen. Meine Erfahrung in Solothurn hat mich gelehrt: Wir müssen bei Fachleuten und Firmen Klinken putzen, für die Problematik sensibilisieren, an die soziale Verantwortung appellieren und so die IV-Bezüger quasi wieder in den Arbeitsmarkt hineinmassieren.
Im darauf folgenden Dezember wurde in der nationalrätlichen IV-Debatte auch über eine moderate «Behindertenquote» für Grossunternehmen diskutiert. Der damalige FDP-Nationalrat Pierre Triponez wehrte sich strikte (und erfolgreich) gegen solche «Zwangsmassnahmen», diese seien absolut der falsch Weg. Denn, so Triponez: «Man will ja beide Parteien mit Liebe und Vertrauen zueinander führen».
Dieses mit «mit Liebe hineinmassieren und mit Vertrauen zueinander führen» sah dann konkret so aus, dass in der IV-Revision 6a für die Versicherten massiv verstärkte Mitwirkungspflichten verankert und für die Arbeitgeber ganz viele Lockangebote geschaffen wurden. Siehe dazu auch: «Sie sind Arbeitgeber und suchen eine Gratisarbeitskraft, für die Sie 1’700 Franken pro Monat erhalten? Stellen Sie einen IV-Bezüger ein!».
Zimmerpflanzen
Nachdem die IV-Revision 6a am 1. Januar 2012 in Kraft getreten war, schrieb ich im Februar 2012: «Behindert sein ist keine Qualifikation».
Einige Auszüge aus dem damaligen Artikel:
Ich habe ein klitzekleines Problem mit der aktuellen Arbeitgeber-Umgarnungsaktion der Invalidenversicherung. «Behinderte bzw. IV-Bezüger einstellen» klingt in meinem Ohren nämlich immer irgendwie wie: «Wir haben jetzt einen Hund (oder ein paar Zimmerpflanzen) in unserer Firma, das ist gut für Betriebsklima». (…)
Aber eine Behinderung alleine ist keine Qualifikation. Trotzdem zielen die ganzen Arbeitgeber-Umgarnungsaktionen der IV aber genau auf diese Zimmerpflanzen-Analogie ab. Ganz nach dem Motto: Gibt es nicht irgendeine kleine Nische, wo ihr die Zimmerpflanze reinstellen könnt? Wir bezahlen nicht nur die Miete für den Stellplatz, sondern auch jemanden, der regelmässig vorbeikommt und die Pflanze giesst, düngt und gegebenenfalls entlaust. Und wenn sie euch nicht gefällt, holen wir die auch wieder gratis und franko ab.
Die Zimmerpflanzen selber können sich – wie das Zimmerpflanzen eben so eigen ist – nicht gross wehren. Die haben Mitwirkungspflicht. (…)
Die Arbeitgeber hingegen, die die Leute nicht anstellen woll(t)en, die müssen keine Mitwirkungspflichten oder Sanktionen (sprich Quoten oder ein Bonus-Malussystem) fürchten, die werden mit Samthandschuhen angefasst und kriegen all die schönen Broschüren, Medienkonferenzen und Optionen für Gratismitarbeiter mit Rückgabegarantie.
Wo sind denn die schicken Broschüren für die IV-Bezüger/innen, die gerne arbeiten möchten? [Anmerkung 2022: Ja, das habe ich tatsächlich 2012 geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Broschüre selbst schreiben muss, aber es hat’s ja unterdessen sonst niemand gemacht. Weiter im Text von 2012:]
Hat eben jemand gelacht? Von wegen die haben eh nichts zu melden? Und die müssten froh sein, wenn sie überhaupt jemand einstellt?
Und genau da liegt das Problem: Wäre dieses ganze Affentheater um die Eingliederungen ernst gemeint, würde man die einzugliedernden IV-Bezüger als zukünftige Arbeitnehmer behandeln und nicht wie die letzten Deppen. Denn Arbeitgeber suchen keine «Behinderten», sie suchen qualifizierte, zuverlässige Mitarbeiter. Eine Einstellung muss sich für sie lohnen. Es schafft auch niemand extra Arbeitsplätze einfach so, «weil er sich ein bisschen sozial fühlt». In einen Unternehmen fällt ein gewisses Volumen an Arbeit an und dafür werden Mitarbeitende gesucht, die diese Arbeit gut ausführen können. Alles andere ist Sozialromantik.
Eingliederung hat nicht funktioniert. Warum?
Dass die 17’000 IV-Beziehenden mit vorwiegend somatoformen bzw. psychischen Erkrankungen grösstenteils nicht wie vorgesehen in den Arbeitsmarkt hineinmassiert werden konnten und auch die Eingliederungmassnahmen vor Rente laut dem BSV-Forschungsbericht «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten» (2018) bei psychisch kranken Versicherten nur in 25% der Fälle erfolgreich verlaufen, liegt natürlich nicht (nur) an den fehlenden Broschüren für die Betroffenen. Je nachdem, wen man fragt, liegt es an den fehlenden Nischenarbeitsplätzen, der fehlenden Motivation der Betroffenen oder an einer Reihe weitere Gründe. Unter diesen weiteren Gründen könnte ein Faktor für die oft so harzig verlaufende berufliche Integration allerdings tatsächlich darin bestehen, dass man die Versicherten wie hineinzumassierende Objekte behandelt, statt sie als erwachsene eigenständige Personen in ihrer Situation ernst zu nehmen. Aus dem oben erwähnten Forschungsbericht zur Versichertenperspektive:
Im IV-Eingliederungsprozess stehen die Arbeitsfähigkeit und Potentiale respektive die krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen, die Behinderung also, im Vordergrund – und nicht die Krankheitssymptome als solche. Die Fragebogenresultate wie auch die Interviews verdeutlichen jedoch, dass Symptome und Belastungen in einem sehr engen Zusammenhang stehen mit den Funktionseinschränkungen und damit auch mit dem Eingliederungserfolg. Dies ist an sich nicht überraschend, aber es weist auf ein häufiges Missverständnis in der arbeitsrehabilitativen Praxis hin, wo häufig „Ressourcen“ und „Defizite“ als unterschiedlich wichtig angesehen werden (in der Eingliederung würden die Ressourcen einer Person interessieren, in der medizinischen Behandlung gehe es um die Defizite). Diese Polarisierung wird von den vorliegenden Resultaten widerlegt. (…) Vereinfacht gesagt lässt sich die Situation der Befragten nicht verstehen und lässt sich auch keine fundierte Eingliederungsplanung vornehmen, solange man Krankheit und subjektives Leiden ausblendet.
Im nächsten Artikel wird es darum gehen, inwiefern bei verschiedenen – unter anderem von BSV subventionierten Eingliederungsprojekten – «Krankheit und subjektives Leiden» von psychisch kranken Menschen ernst genommen worden sind.