[1/3] Leitfaden «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» – Die Hintergründe

In einer dreiteiligen Artikelserie werde ich einige Aspekte rund um die Entstehung des Leitfadens «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» beleuchten. Im ersten Teil geht es um Erfahrungen, die ich während der Arbeit am Projekt gemacht habe, sowie politisch-historische Hintergründe.

Für den Leitfaden habe ich mit vielen verschiedenen Menschen gesprochen (potentiellen Geldgebern, Mitarbeiter·innen von Eingliederungsinstitutionen, Expert·innen, Job Coaches, Betroffenen usw.). Nachdem ich jeweils mein Vorhaben erklärt hatte, erlebte ich regelmässig folgende drei Reaktionen:

  • «Von welcher Organisation (oder Institution) sind Sie?» Beziehungsweise: «In wessen Auftrag schreiben Sie diesen Leitfaden?» War die Frage, die mir von der Vorstellung des Konzeptes bis zur Distribution der fertigen Broschüren am häufigsten gestellt wurde. Meine Antwort, dass es sich dabei um mein eigenes Projekt handle (selbstverständlich fachlich von ausgewiesenen Expert·innen begleitet) sorgte regelmässig für eine gewisse Irritation beim Gegenüber. Ich hatte es offenbar versäumt, das ungeschriebene Gesetzbuch des Behindertenbereichs zu konsultieren, wonach es laut Art. 57 Absatz 3 nur Institutionen, Organisationen oder zumindest Vereinen erlaubt ist, so ein Projekt umzusetzen. Scherz beiseite; effektiv ist es tatsächlich so, das viele Stiftungen oder andere Geldgeber grundsätzlich keine Projekte von Privatpersonen unterstützen – was auch bei diesem Unterfangen eine erhebliche Hürde darstellte. (Wo kämen wir denn hin, wenn einfach «irgendwelche Leute» anfangen, Dinge zu realisieren, weil es die aus ihrer Sicht braucht – und nicht 10 weitere Jahre darauf warten, dass sich die Behindertenorganisationen dazu bequemen?!)

  • Bei der Suche nach Geldgebern hörte ich auch (mehrfach): «Das gibt es doch schon!» Bei genauerer Nachfrage konnte mir dieser «bereits existierende Leitfaden» dann jedoch nie gezeigt werden. Verwiesen wurde beispielsweise auf eine Publikation für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Dass zum einen davon ausgegangen wird, dass «für die psychisch Kranken» schon genug getan werde (die tiefen Eingliederungsquoten sprechen eine andere Sprache), während man sie zum anderen mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung gleichsetzt, ist ein nicht unbeträchtlicher Teil des Problems der nach wie vor oft suboptimal verlaufenden beruflichen Eingliederung bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung (Ich werde im zweiten Artikel nochmal darauf zurückkommen).

  • Die für ihre Expertise kontaktierten Fachpersonen begrüssten es grösstenteils, dass es – endlich – einen Leitfaden geben sollte, der sich all den Fragen widmen würde, die ihnen von ihren Klient·innen regelmässig gestellt werden. Vereinzelt war allerdings auch eine gewisse Konsternation darüber spürbar, dass man nicht selbst auf diese Idee gekommen war und dass die Publikation nicht unter dem Lead und dem Namen *ihrer* Organisation veröffentlicht werden würde. Das wäre doch gut für’s Image der eigenen Organisation/Institution gewesen, wenn man so etwas herausgegeben hätte. Ja, wäre, hätte, Fahrradkette. Hier liegt ein weiterer Teil des Problems: Wenn einem erst einfällt, dass man etwas hätte machen sollen, weil es dem Ansehen der eigenen Organisation nützt, und es nicht schon vorher von sich aus gemacht hat, weil es den Betroffenen nützt, läuft etwas grundlegend falsch.

Der teils immer noch fehlende Wille, beim Thema Eingliederung die Erfahrungen, Schwierigkeiten und Befürchtungen von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung wirklich wahr- und ernst zu nehmen, betrifft allerdings nicht nur die Organisationen. Dieses Defizit zieht sich durch die gesamte Sozialpolitik der vergangenen Dekade. Im Folgenden werfe ich deshalb einige Blick zurück, wie die berufliche Eingliederung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung bisher angegangen wurde.

Hehre Ziele

Als der heutige IV-Chef Stefan Ritler im Mai 2010 sein Amt antrat, waren die Arbeiten für IV-Revision 6a in vollem Gange. Aufgrund der angespannten finanziellen Lage der Invalidenversicherung standen dabei strengere Zugangsbedingungen bzw. die Streichung von IV-Renten aufgrund von bestimmten – angeblich unklaren – Krankheitsbildern im Vordergrund. Verkauft wurde das Ganze unter dem wohlklingenden Titel: «Bessere Instrumente für die Eingliederung». Speziell bei Versicherten mit psychischen Erkrankungen sollten die neuen «Instrumente» eingliederungstechnische Wunder bewirken. Im August 2010 erschien in der Aargauer Zeitung ein Interview mit Ritler. Ein kurzer Auszug:

Das grosse Ziel der 6. IV-Revision ist die Wiedereingliederung von 17’000 Personen in den Arbeitsmarkt. Ist diese Zielsetzung angesichts der Wirtschaftslage überhaupt realistisch?

Ritler: Ja.

Wie soll das aufgehen? Derzeit sind in der Schweiz nur 17’000 freie Stellen ausgeschrieben.

Ritler: Mit der 4. und 5. IV-Revision wurde bei den IV-Stellen ein Kulturwandel eingeläutet. Uns wurde bewusst, dass wir viel mehr Face-to-face-Arbeit leisten und die Wiedereingliederung planen müssen. Meine Erfahrung in Solothurn hat mich gelehrt: Wir müssen bei Fachleuten und Firmen Klinken putzen, für die Problematik sensibilisieren, an die soziale Verantwortung appellieren und so die IV-Bezüger quasi wieder in den Arbeitsmarkt hineinmassieren.

Im darauf folgenden Dezember wurde in der nationalrätlichen IV-Debatte auch über eine moderate «Behindertenquote» für Grossunternehmen diskutiert. Der damalige FDP-Nationalrat Pierre Triponez wehrte sich strikte (und erfolgreich) gegen solche «Zwangsmassnahmen», diese seien absolut der falsch Weg. Denn, so Triponez: «Man will ja beide Parteien mit Liebe und Vertrauen zueinander führen».

Dieses mit «mit Liebe hineinmassieren und mit Vertrauen zueinander führen» sah dann konkret so aus, dass in der IV-Revision 6a für die Versicherten massiv verstärkte Mitwirkungspflichten verankert und für die Arbeitgeber ganz viele Lockangebote geschaffen wurden. Siehe dazu auch: «Sie sind Arbeitgeber und suchen eine Gratisarbeitskraft, für die Sie 1’700 Franken pro Monat erhalten? Stellen Sie einen IV-Bezüger ein!».

Zimmerpflanzen

Nachdem die IV-Revision 6a am 1. Januar 2012 in Kraft getreten war, schrieb ich im Februar 2012: «Behindert sein ist keine Qualifikation».
Einige Auszüge aus dem damaligen Artikel:

Ich habe ein klitzekleines Problem mit der aktuellen Arbeitgeber-Umgarnungsaktion der Invalidenversicherung. «Behinderte bzw. IV-Bezüger einstellen» klingt in meinem Ohren nämlich immer irgendwie wie: «Wir haben jetzt einen Hund (oder ein paar Zimmerpflanzen) in unserer Firma, das ist gut für Betriebsklima». (…)

Aber eine Behinderung alleine ist keine Qualifikation. Trotzdem zielen die ganzen Arbeitgeber-Umgarnungsaktionen der IV aber genau auf diese Zimmerpflanzen-Analogie ab. Ganz nach dem Motto: Gibt es nicht irgendeine kleine Nische, wo ihr die Zimmerpflanze reinstellen könnt? Wir bezahlen nicht nur die Miete für den Stellplatz, sondern auch jemanden, der regelmässig vorbeikommt und die Pflanze giesst, düngt und gegebenenfalls entlaust. Und wenn sie euch nicht gefällt, holen wir die auch wieder gratis und franko ab.
Die Zimmerpflanzen selber können sich – wie das Zimmerpflanzen eben so eigen ist – nicht gross wehren. Die haben Mitwirkungspflicht.
(…)

Die Arbeitgeber hingegen, die die Leute nicht anstellen woll(t)en, die müssen keine Mitwirkungspflichten oder Sanktionen (sprich Quoten oder ein Bonus-Malussystem) fürchten, die werden mit Samthandschuhen angefasst und kriegen all die schönen Broschüren, Medienkonferenzen und Optionen für Gratismitarbeiter mit Rückgabegarantie.
Wo sind denn die schicken Broschüren für die IV-Bezüger/innen, die gerne arbeiten möchten?
[Anmerkung 2022: Ja, das habe ich tatsächlich 2012 geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Broschüre selbst schreiben muss, aber es hat’s ja unterdessen sonst niemand gemacht. Weiter im Text von 2012:]

Hat eben jemand gelacht? Von wegen die haben eh nichts zu melden? Und die müssten froh sein, wenn sie überhaupt jemand einstellt?

Und genau da liegt das Problem: Wäre dieses ganze Affentheater um die Eingliederungen ernst gemeint, würde man die einzugliedernden IV-Bezüger als zukünftige Arbeitnehmer behandeln und nicht wie die letzten Deppen. Denn Arbeitgeber suchen keine «Behinderten», sie suchen qualifizierte, zuverlässige Mitarbeiter. Eine Einstellung muss sich für sie lohnen. Es schafft auch niemand extra Arbeitsplätze einfach so, «weil er sich ein bisschen sozial fühlt». In einen Unternehmen fällt ein gewisses Volumen an Arbeit an und dafür werden Mitarbeitende gesucht, die diese Arbeit gut ausführen können. Alles andere ist Sozialromantik.

Eingliederung hat nicht funktioniert. Warum?

Dass die 17’000 IV-Beziehenden mit vorwiegend somatoformen bzw. psychischen Erkrankungen grösstenteils nicht wie vorgesehen in den Arbeitsmarkt hineinmassiert werden konnten und auch die Eingliederungmassnahmen vor Rente laut dem BSV-Forschungsbericht «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten» (2018) bei psychisch kranken Versicherten nur in 25% der Fälle erfolgreich verlaufen, liegt natürlich nicht (nur) an den fehlenden Broschüren für die Betroffenen. Je nachdem, wen man fragt, liegt es an den fehlenden Nischenarbeitsplätzen, der fehlenden Motivation der Betroffenen oder an einer Reihe weitere Gründe. Unter diesen weiteren Gründen könnte ein Faktor für die oft so harzig verlaufende berufliche Integration allerdings tatsächlich darin bestehen, dass man die Versicherten wie hineinzumassierende Objekte behandelt, statt sie als erwachsene eigenständige Personen in ihrer Situation ernst zu nehmen. Aus dem oben erwähnten Forschungsbericht zur Versichertenperspektive:

Im IV-Eingliederungsprozess stehen die Arbeitsfähigkeit und Potentiale respektive die krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen, die Behinderung also, im Vordergrund – und nicht die Krankheitssymptome als solche. Die Fragebogenresultate wie auch die Interviews verdeutlichen jedoch, dass Symptome und Belastungen in einem sehr engen Zusammenhang stehen mit den Funktionseinschränkungen und damit auch mit dem Eingliederungserfolg. Dies ist an sich nicht überraschend, aber es weist auf ein häufiges Missverständnis in der arbeitsrehabilitativen Praxis hin, wo häufig „Ressourcen“ und „Defizite“ als unterschiedlich wichtig angesehen werden (in der Eingliederung würden die Ressourcen einer Person interessieren, in der medizinischen Behandlung gehe es um die Defizite). Diese Polarisierung wird von den vorliegenden Resultaten widerlegt. (…) Vereinfacht gesagt lässt sich die Situation der Befragten nicht verstehen und lässt sich auch keine fundierte Eingliederungsplanung vornehmen, solange man Krankheit und subjektives Leiden ausblendet.

Im nächsten Artikel wird es darum gehen, inwiefern bei verschiedenen – unter anderem von BSV subventionierten Eingliederungsprojekten – «Krankheit und subjektives Leiden» von psychisch kranken Menschen ernst genommen worden sind.

Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern [2/3]


«Die IV war gar nie für psychisch Kranke gedacht»


Da die Dossieranalyse zum Code 646 erst 2009 und der Forschungsbericht zur eingliederungsorientierten Rentenrevision 2015 veröffentlicht wurden, konnten Murer und Cardinaux 2003 natürlich noch nicht wissen, dass die überwiegende Mehrheit der aus psychischen Gründen Berenteten gar nicht an «unklaren» Krankheitsbildern leidet und dass deren Krankheitslast zudem meist so gross ist, dass eine Eingliederung nicht möglich ist. Die Frage ist einfach, ob die Herren Juristen das überhaupt wissen wollten. Oder ob es ihnen eh schlicht egal war, weil es nämlich vielmehr darum ging, psychisch Kranken generell den Zugang zu IV-Leistungen zu verwehren, weil diese – historisch gesehen – ja sowieso kein Anrecht darauf hätten:

Für den historischen Gesetzgeber der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts standen praktisch ausschliesslich die physischen und geistigen Gesundheitsschäden im Vordergrund. Die psychischen Störungen kannte er kaum.

Murer, Erwin und Cardinaux, Basile: Notwendige Weichenstellungen in der IV. In: Soziale Sicherheit 6/2003, S. 337–339.

Murer/Cardinaux konstruieren aus der Tatsache, dass bei der Einführung der Invalidenversicherung im Gesetzestext nur «körperliche» und «geistige» Gesundheitsschäden erwähnt werden, einen faktischen Ausschluss von psychischen Erkrankungen. Psychische Erkrankungen wurden aber damals – dem Zeitgeist entsprechend – als Geisteskrankheiten bezeichnet und waren von Anfang an in der IV eingeschlossen.

Zu verdanken ist dies dem grossen Engagement von Psychiatern, die sich schon Jahre vor der Einführung der Invalidenversicherung dafür einsetzten, dass auch psychische Erkrankungen anerkannt wurden. Die Historikerin Daniela Jost zeigt dies in ihrer Masterarbeit «Charakterschwach» oder doch krank? – Psychische Krankheiten in der Geschichte der Eidgenössischen Invalidenversicherung» (2019) anhand von historischen Dokumenten (Briefwechsel, Publikationen, Protokolle von BSV-Expertengruppen ect.) auf. «Der Gesetzgeber der Fünfzigerjahre» kannte die psychischen Störungen also sehr wohl:

(…) dass das Bundesamt für Sozialversicherung der Ansicht sei, dass der Einbezug der geistig Invaliden in die Versicherung bejaht werden sollte.* Als Grund für die Position des BSV nennt er die Konsultation der «Eingabe der Psychiater, in welcher klar dargelegt wird, dass die Probleme hinsichtlich geistiger Invalidität sich nicht wesentlich von jenen der körperlichen Invalidität unterscheiden.

*Kaiser, Ernst: Einleitendes Referat an der ersten Sitzung der Eidgenössischen Expertenkommission für die Einführung der Invalidenversicherung vom 3.-7. Oktober 1955, Referat, Bd. 1, in: Protokolle der Eidgenössischen Expertenkommission für die Einführung der Invalidenversicherung


Lobbyierende Psychiater


Es würde den Rahmen sprengen, die in der Masterarbeit von Daniela Jost dokumentierte Lobbyarbeit der Psychiater detailliert nachzuzeichnen, aber folgende Auszüge zu den wichtigsten Protagonisten, ihren Argumenten und Forderungen zeigen, mit welcher Klarheit und Entschiedenheit die Psychiater die Gleichberechtigung von psychisch Kranken forderten:

Maurice Rémy, Direktor der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Marsens FR, Präsident der Vereinigung der Direktoren der Psychiatrischen Kliniken und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie SGP, hielt 1958 fest,

dass die Schweiz mehr als 20’000 hospitalisierte Psychiatriefälle aufweise. Der Grossteil dieser Kranken stamme aus armen Verhältnissen, weshalb 80% auf öffentliche Fürsorgegelder angewiesen seien.

Maurice Remy an Nationalrat Max Aebischer: Geisteskranke in der Invalidenversicherung, Stellungnahme 17.11.1958

Henri Bersot, Direktor der privaten psychiatrischen Heilanstalt Bellevue in Le Landeron und Generalsekretär des Komitees für geistige Hygiene:

Die Idee, öffentliche Mittel nur den körperlich Invaliden zukommen zu lassen, bezeichnet Bersot als willkürlich und ungerecht. Er weist ausserdem darauf hin, dass körperlich Behinderte aufgrund ihres Handicaps zumeist auch unter psychischen Problemen oder Störungen des Nervensystems litten. Ein weiteres Anliegen ist Bersot die Gleichstellung von körperlich und geistig Behinderten in der beruflichen Eingliederung. So fordert er nicht nur generell Eingliederungsmöglichkeiten für geistig Behinderte – also auch psychisch Kranke – sondern explizit dieselben Eingliederungsmöglichkeiten wie für körperlich Kranke, und dies auch am selben Ort, also in denselben Ateliers oder Werkstätten.

Bersot, Henri: Les invalides mentaux doivent être compris dans l’aide qu’on demande à la Confédération d’instituer en faveur des invalides, Bericht ans BSV 07.1955

André Repond, Präsident des Komitees für geistige Hygiene sowie Direktor der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Malévoz VS und Mitglied internationaler Gremien der WHO:

Repond weist darauf hin, dass die Pro Infirmis zwar die Geistesschwachen vertreten würde, psychisch Kranke aber gemäss ihren Statuten kategorisch aus ihren Aktivitäten ausschliesse. Er kündigt daher an, dass verschiedene bestehende Psychiatrieorganisationen die Gründung einer Dachorganisation in Erwägung ziehen, welche die Interessen der psychisch kranken Invaliden gegenüber dem BSV vertreten soll. Diesen Schritt erachtet Repond aus verschiedenen Gründen als zwingend notwendig:

«Cette représentation nous paraît d’autant plus nécessaire que les invalides et malades mentaux ne peuvent se défendre eux-mêmes, alors que toutes les autres catégories d’invalides en sont capables. Dès l’abord aussi je dois vous dire que les psychiatres sont opposés à ce que la […] SAEB représente les questions de réintégration professionnelle des invalides mentaux. Cette Association n’a montré aucun intérêt quelconque pour ces problèmes et, de plus, elle nous paraît totalement dépourvue de compétences pour le faire.»*

*André Répond an Bundesamt für Sozialversicherung – Direktor Arnold Saxer: Anfrage betreffend Dachorganisation, Korrespondenz 22.03.1957

Aus diesen Auszügen wird auch klar, weshalb die Psychiater diese Lobbyarbeit übernahmen. Die Pro Mente Sana gab es noch nicht und die bereits existierenden Behindertenorganisationen kümmerten sich explizit nicht um psychisch Kranke bzw. zeigten diesbezüglich weder Interesse noch Kompetenz (Das kommt einem auch noch über 60 Jahre später irgendwie bekannt vor).

Die Psychiater erreichten jedenfalls, dass auch psychische Leiden grundsätzlich von der IV anerkannt wurden. Die gesellschaftlichen, medizinischen und juristischen Debatten darüber, welche Leiden nun genau versichert sein sollten und wo die Grenzen zwischen «Simulation», Krankheit und «Charakterschwäche» verlaufen, hatten allerdings schon vor der Einführung der IV begonnen und dauern bis heute an.


IV-Codierung basiert immer noch auf dem ICD aus den 50er Jahren


Bei der Einführung der IV existierte noch keine Gebrechensliste. Erst ab 1966 wurde eine Aufschlüsselung nach Invalidiätsursachen vorgenommen. Bei der Ausarbeitung dieser Liste stützte man sich auf die in den 50er Jahren gültige Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD 6). Folgende Übersicht aus der «Allgemeinen Systematik der Krankheiten und Todesursachen» diente offensichtlich als Vorlage für die Codierung der psychischen Erkrankungen:

Man beachte, dass im ICD 6 «Schwachsinn» (also geistige Behinderung) im selben Kapitel gelistet ist, wie die psychischen Erkrankungen. Das ist auch im aktuell gültigen ICD 10 noch so (allerdings heisst es mittlerweile nicht mehr «Schwachsinn», sondern «Intelligenzminderung»). Aus dem IV-Kreisschreiben von 1965 ist ersichtlich, dass die IV davon abwich und die geistigen Behinderungen dem Kapitel «Angeborene Leiden» zuwies («siehe unter XXI»). Der Gesetzgeber kannte – und machte – damals also durchaus einen sehr deutlichen Unterschied zwischen «geistigen» und «psychischen» Behinderungen:

Quelle: Bundesamt für Sozialversicherung 12.1965 – Kreisschreiben über die Durchführung der Gebrechensstatistik in der Invalidenversicherung, 12.1965 (Abbildung aus der Masterarbeit von Daniela Jost)

Der Vergleich mit den aktuellen Codes zur Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS-C) zeigt, dass die Codierungsgrundlagen der psychischen Krankheiten seit 1965 (abgesehen von einigen kosmetischen Details) praktisch nicht verändert wurde:

XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
641 Schizophrenie
642 Manisch-depressives Kranksein (Zyklothymie)
643 Organische Psychosen und Leiden des Gehirns
644 Übrige Psychosen (seltenere Fälle, die nicht unter 641–643 bzw. 841–843 eingereiht werden können, wie Mischpsychosen, sog. schizoaffektive Psychosen, Pfropfschizophrenie usw.); Involutionsdepressionen
645 Psychopathie
646 Psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline cases (Grenzbereich Psychose – Neurose); einfache psychische Fehlentwicklungen z.B. depressiver, hypochondrischer oder wahnhafter Prägung; funktionelle Störungen des Nervensystems und darauf beruhende Sprachstörungen, wie Stottern; psychosomatische Störungen, soweit sie nicht als körperliche Störungen codiert werden
647 Alkoholismus
648 Übrige Süchte (Toxikomanie)
649 Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen)
Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI

Die Codierung der psychischen Krankheiten erfolgt also anno 2020 noch immer nach einem in den 60er Jahren eingeführten Klassifizierungssystem. Das ist an sich durchaus sinnvoll, da man dadurch zeitliche Entwicklungen abbilden kann bzw. könnte. Wenn die statistischen Daten denn einigermassen aussagekräftig wären. Wie im vorangehenden Artikel aufgezeigt, wird allerdings die Hälfte der rund 100’000 psychisch bedingten IV-Renten mit dem Code 646 versehen, der für eine grosse Bandbreite von psychischen Krankheiten vergeben wird. Aus der Dossieranalyse von 2009 war ersichtlich, dass der häufigste Berentungsgrund in der Kategorie 646 damals mit 30% Persönlichkeitsstörungen darstellten, gefolgt von Depressionen (15%), und somatoformen Störungen (12,5%). Wie sich die Zusammensetzung dieser Gruppe vor oder nach 2009 verändert hat, kann allerdings niemand sagen.

Diese grosse Unklarheit über die effektiven Diagnosen bietet – wie vorangehend ausgeführt – bis heute ein hervorragendes politisches Instrument, um die Zunahme der IV-Bezüger*innen mit psychischen Erkrankungen auf «unklare Fälle» oder «neue Krankheitsbilder», zurückzuführen und darauf basierend deren Ausschluss von IV-Leistungen zu legitimeren.


«Neue» Krankheitsbilder?


Das perfide am Narrativ über die angeblich «neuen» und «unklaren» Krankheiten ist, dass viele psychiatrische Krankheitsbilder weder «unklar» noch «neu» sind. Das ICD 6 aus den 50er Jahren listete nämlich bereits sehr detaillierte Differenzierungen zu den einzelnen Krankheitsbildern auf. z.B. zu verschiedenen Arten von Persönlichkeitsstörungen oder *hier bitte Trommelwirbel einfügen* zu psychosomatischen (damals noch «psychogen» genannten) Störungen:

Die Bezeichnungen mögen sich im Laufe der Zeit verändert haben, aber die Krankheitsbilder wurden nicht «neu erfunden». Dass diese u.a. vom damaligen SVP-Bunderat Christoph Blocher in die Welt gesetzte Lüge unendlich oft wiederholt wurde, macht sie nicht wahrer. Besonders fragwürdig ist auch, dass das Märchen von den «vielen neuen und unklaren psychischen Krankheitsbildern» sogar ein halbes Jahr nach der Publikation der Dossieranalyse (BSV 2009) in der Botschaft zur IV-Revision immer noch wiederholt wurde:

Die Versicherung und ihre Akteure waren – und sind z.T. heute noch – nicht in der Lage, angemessen auf die starke Zunahme der psychischen Krankheiten zu reagieren, da es sich um neue Formen psychischer Erkrankungen handelt, welche schwierig zu diagnostizieren sind und sich kaum objektivieren lassen.

Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket) vom 24. Februar 2010

Dass die Versicherung und ihre Akteure nicht in der Lage waren, angemessen zu reagieren, liegt nicht an den vermeintlich unklaren Krankheitsbildern, es liegt vor allem an der ungenauen Codierung. Und an den ganzen politischen und juristischen Scheingefechten, die auf dieser fehlenden Datengrundlage aufgebaut werden konnten.

Fortsetzung: Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern [3/3]

Realitätsverweigernde Retro-Romantiker

«Einen Nachnamen hatte er nicht. Für alle im Dorf war er einfach, selbst im hohen Alter noch, der «Walterli». Man sah ihn meistens draussen durch die Quartierstrassen streifen, und wo immer er ein Papierchen oder einen Kaugummi vor sich liegen sah, hob er den Kleinmüll seiner unachtsamen Mitbürger auf und entsorgte diesen im nächsten Abfalleimer.
Walterli mochte keine Unordnung, dafür liebte er die Frauen. Strahlend grüsste der schmächtig geratene Bauernbub seine Favoritinnen mit den Worten: «Sali, Schätzeli.» Ab und zu drückte ihm jemand einen Fünfliber in die Hand. War ein Haarschnitt fällig, marschierte Walterli beim Dorfcoiffeur ein und liess sich frisieren. Selbstverständlich kostenlos. Genauso selbstverständlich wohnte er im Bürgerheim, wo gestrandete Existenzen und Menschen mit kleinen Macken und Behinderungen Aufnahme fanden. Die Gemeinde kam für Kost und Logis auf, eine kleine IV-Rente deckte die übrigen Verpflichtungen.

Für Menschen wie Walterli wurde 1960 die Invalidenversicherung in der Schweiz eingeführt.»

Peter Keller: Ausweitung der Therapiezone, Die Weltwoche, Ausgabe 07/2013

Soweit die von SVP-Nationalrat und Weltwoche-Autor Peter Keller gezeichnete Retro-Fantasie des idealen IV-Bezügers/Behinderten: Er wird nicht nur beim Vornamen, sondern auch noch in der Diminuitiv-Form genannt, man drückt ihm ab und zu eine milde Gabe in die Hand und er wohnt dort, wo man es ihm zugewiesen hat. Kosten tut er auch nicht viel. Und überhaupt ist er irgendwie harmlos und kindlich (Stichwort: «Jöh, Behinderte!») und vor allem: für jedermann sichtbar behindert. Ein «Möngi», wie man «in der guten alten Zeit» zu sagen pflegte.

Der «liebe Möngi» oder der «heldenhafte Rollstuhlfahrer» dienen bei der Weltwoche, der SVP und allen anderen Retro-Romantikern als leuchtend heller Gegenpart zu den «dunklen Mächten» der Massen an psychisch Kranken, die die IV mit angeblich vorgespielten Krankheiten finanziell in den Ruin treiben. So auch im eingangs zitierten Artikel von Keller. Ich habe diese «Gut gegen Böse» Inszenierung der Weltwoche vor drei Jahren unter dem Titel «Der sympathische Projektmanager im Rollstuhl mit der Katze vs. die anonyme psychisch kranke Kantinenmitarbeiterin mit Migrationshintergrund» aufgezeigt.

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Aus der Luft gegriffene Zahlen, aber egal…

Man würde ja denken, irgendwann langweilt dieses ewig gleiche Narrativ auch den hartgesottensten Weltwocheleser. Leider ist das nicht so. Der gemeine Weltwochleser liest offenbar gerne immer wieder dasselbe, weil es ihn bei jedem Mal Lesen noch mehr überzeugt, dass etwas wirklich wirklich wahr ist. Auch wenn es falsch ist.

So schrieb denn Ende letzten Jahres Weltwocheautor Markus Schär anlässlich des Nichteintretenentscheides des EGMR im Fall Spycher den gefühlt hundertsten Artikel zum Thema «Schleudertrauma». Eimal mehr garniert mit tendenziösen Behauptungen:

«(…) bis 2005 sprang die Zahl der IV-Rentner von 150’000 auf 300’000, und zwei Drittel der Neurentner litten an an Gebrechen mit «unklarer Kausalität» – zu Deutsch: Ohne nachvollziehbaren Grund.»

Markus Schär: Ohrfeige für Menschenrechtler, Die Weltwoche, Ausgabe 51/2015

Auf die Frage nach einer seriösen Quelle für diese «Zwei Drittel Neurentner ohne nachvollziehbaren Grund» nannte mir Schär einen Artikel von SVP-Alt-NR Bortoluzzi in der von SVP-Alt-NR Ulrich Schlüer herausgegebenen nationalkonservativen Zeitschrift «Schweizerzeit». Also keine offizielle IV-Statistik. Er hätte dabei bloss seinen Redaktionskollegen Alex Baur fragen brauchen, der weiss nämlich genau, mit welchem Trick man diese zwei Drittel angeblich «unklare Beschwerden» aus der offiziellen IV-Statistik herausbekommt. Ich hatte das 2010 – anlässlich eines irreführenden Artikels von Alex Baur – von schon mal aufgezeigt: Baur zählte darin einfach alle IV-Bezüger mit psychischen Krankheiten und diejenigen mit «Krankheiten an Knochen und Bewegungsapparat» zusammen und fertig sind die zwei Drittel «diffuse Störungen». Dass unter der zweiten Kankheitskategorie auch mit bildgebenden Verfahren objektivierbare Erkrankungen wie z.B. Morbus Bechterew figurieren, ist nur ein völlig unwichtiges Detail am Rande.

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Relevant ist nicht der «Schaden», sondern seine Auswirkung

Ebenfalls ein komplett unwichtiges Detail am Rande ist für die Retro-Romatiker der Teil im ATSG, der vor dem «objektiv überwindbar» kommt:

Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.

Also nochmal für die Weltwocheredakteure und -leser zum mitschreiben: Nicht der gesundheitliche Schaden (welcher Art auch immer) an sich ist versicherungsrechtlich relevant, sondern welche Folgen der «Schaden» konkret auf die Erwerbsfähigkeit hat. Angesichts eines Nationalrates wie Christian Lohr, der trotz deutlich sichtbarerer Behinderung keine IV-Rente beziehen muss, könnte man sich jetzt auch ganz trefflich über das «objektiv» in zweiten Teil streiten. Die selben Stammtisch-Diagnostiker, die auf den ersten Blick wissen, dass der «Heiri» «Ali» doch nur ein Sozialschmarotzer ist, der ganz sicher keine schwere psychische Störung hat, würden nämlich genauso zielsicher Christian Lohr eine IV-Rente «zuerkennen», wenn sie nicht wüssten, wer er ist. Und selbst im Wissen darum, dass Lohr als Nationalrat arbeitet, sind viele Leute überzeugt, dass er eine IV-Rente erhält. Was zeigt: der Stammtisch denkt, eine IV sei eine «Behinderten-» und keine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Und darum überlässt man solche Abklärungen und Entscheide qualifizierten Fachleuten und nicht dem Stammtisch oder der Weltwoche.

In ihrer absoluten Besessenheit mit der «Objektivierbarkeit» verweigern sich die Retro-Romantiker nämlich der Tatsache, dass kein Röntgenapparat, kein MRI und kein Labor einen Zettel mit einer prozentgenauen Erwerbs(un)fähigkeitsbescheinigung ausspuckt.

Auch bei mittels Laboranalyse und/oder bildgebenden Verfahren diagnostizierbaren Krankheiten ist der Arzt auf so genannt «subjektive» Angaben des Patienten angewiesen (z.B. Wie schnell ermüden Sie bei gewissen Tätigkeiten, wie stark sind die Schmerzen u.s.w.) um schliesslich unter Einbezug weiterer Parameter (eigene Beobachtung des Verhaltens des Patienten, Krankengeschichte, evtl. auch Angaben von Angehörigen) ein Gutachten erstellen zu können, aus dem das Ausmass der Erwerbs(un)fähigkeit schlüssig und (Achtung Herr Schär!) nachvollziehbar hervorgeht.

Und genau gleich ist es bei den psychischen Erkrankungen. Anhand der Krankengeschichte kann beispielsweise nachvollzogen werden, ob und wie lange sich jemand bereits einer Therapie unterzieht, ob Klinikaufenthalte stattgefunden haben u.s.w. Da beim überwiegenden Teil der psychisch Erkrankten bereits in Kindheit und Jugend erste Symptome und Auffälligkeiten auftreten und sich dadurch häufig Schwierigkeiten in Schule und Ausbildung ergeben, kann durch eine genaue Anamnese durchaus erfasst werden, ob jemand «mal schnell eine psychische Krankheit simuliert» oder ob die Problematik schon lange besteht. Wenn man sehr bösartig ist, kann man natürlich behaupten, die Betroffenen hätten eben schon als Kind «Sozialschmarotzer» werden wollen.

Kann man natürlich machen.

Oder man könnte mal einen aktuellen SANP-Fachartikel darüber lesen, wie  beispielsweise eine «Versicherungsmedizinische Begutachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung» lege artis vorgenommen werden sollte. Wer danach immer noch meint, ein Weltwochejournalist sei gleich qualifiziert, eine Erwerbs(un)fähigkeit zu berurteilen, wie eine medizinische Fachperson, kann sich dann ja auch bei Gelegenheit von Herrn Köppel den Blinddarm operieren lassen.

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Subjektive Objektivität

Selbstverständlich gib es bei den IV-Begutachtungen durchaus Verbesserungspotential und auch Fachleuten passieren Fehler. Allerdings nicht in dem von rechten Politikern und ihren journalistischen Adlaten ständig suggerierten «immensen Ausmass». Dann würde man nämlich bei der mittlerweile sehr engmaschigen Missbrauchsbekämpfung bei der IV eine deutlich höhere Missbrauchsquote finden als nur ein knappes Prozent. Und ein kürzlich veröffentlichter BSV-Forschungsbericht müsste nicht konstatieren, dass bei vielen psychisch kranken IV-Bezügern Integrationsmassnahmen abgebrochen oder gar nicht erst zugesprochen werden, weil die Betroffenen schlicht zu krank dafür sind.

Diese Tatsachen werden aber von Retro-Romantikern komplett ignoriert, weil sie nicht bereit sind, anzuerkennen, dass auch unsichtbare Behinderungen sehr relevante Auswirkungen auf die Funktions- und damit Erwerbsfähigkeit haben können. Und dass Fachleute diese Auswirkungen sehr wohl erkennen, darstellen und begründen können. Des weiteren wird ständig von einer «Diagnoseflut» geschwafelt, die daran schuld sei, dass heute ja «jeder psychisch krank sei». Psychische Krankheiten haben aber nicht zugenommen (sie waren schon immer weit verbreitet), sie wirken sich heute – wo viel mehr geistig gearbeitet wird und erhöhte Flexibilität gefragt ist – einfach nur häufiger «behindernd» aus als früher.

Umgekehrt können heute viele körperliche Krankheiten/Behinderungen aufgrund des medizinischen und technischen Fortschrittes besser behandelt und kompensiert werden. Und durch gesellschaftliche Veränderungen kann sogar jemand mit einer so deutlich sichtbaren Behinderung wie Christian Lohr als Nationalrat oder der blinde Jurist Manuele Bertoli im Tessin als Staatsrat arbeiten (ich nehme jetzt einfach diese plakativen Beispiele zur Illustration, es gibt natürlich auch noch viele andere).

Früher hätte es sowas nicht gegeben. Und daraus ergibt sich für den Retro-Romantiker eine innere Dissonanz, die er dadurch auflöst, dass er die Betreffenden als «Superhelden» glorifiziert. Dass mit seiner «Objektivität» etwas nicht stimmt und auch eine sichtbare Behinderung nur sehr beschränkt etwas über die effektive Leistungs-/Erwerbsfähigkeit aussagt, kommt den Retro-Romantiker nicht in den Sinn. Auch nicht, dass seine althergebrachte Sichtweise gegenüber Menschen mit einer sichtbaren Behinderung («Da sieht man ja gleich, dass die nix können») diskriminierend sein könnte.

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Protest gegen einheitliche Begutachtung

Der Tatsache, dass die Sicht- oder Nichtsichtbarkeit einer Behinderung/Erkrankung nur sehr rudimentär über die sich daraus ergebende Erwerbs(un)fähigkeit Auskunft gibt, hat das BSV im IV-Rundschreiben Nr. 339 zu medizinischen IV-Gutachten im September 2015 folgendermassen Rechnung getragen:

Der Auftrag ist für alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr macht, zwischen psychosomatischen und anderen Leiden zu differenzieren.

Das ruft natürlich die Retro-Romantiker auf den Plan. In diesem Fall den FDP-Nationalrat Ignazio Cassis, der in einer Interpellation u.a. folgendes fragt:

Sind unterschiedliche Abklärungsmethoden in der IV von Personen mit organischen Beschwerden und solche mit psychischen Beschwerden unrechtmässig?

Ganz zufälligerweise spricht Cassis genau wie die Weltwoche nicht von «psychosomatischen» Beschwerden (also den sog. Päusbonogs)», sondern von «organischen» und «nicht organischen (= psychischen) Beschwerden» und ganz zufälligerweise hat Cassis bereits 2009 eine Motion eingereicht, die fordert, dass bei «schwer definierbaren psychischen Störungen» (die Cassis mit dem IV-Code 646 gleichsetzt) grundsätzlich keine Rente gesprochen soll. Notabene einige Monate nachdem eine BSV-Studie bereits aufgezeigt hatte, dass der Hauptanteil der 646-IV-Bezüger an «klassischen» und klar diagnostizierbaren psychischen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, Depressionen u.s.w. leiden und diese Erkrankungen – (auch wenn sie von Laien nicht erkannt werden) mit schweren Einschränkungen im Erwerbsleben verbunden sein können.

Aus Cassis‘ damaliger (wie auch der kürzlichen) parlamentarischen Eingabe spricht also eine komplette Realitätsverweigerung. Und zwar mit System.

Und Inclusion Handicap (die jetzt zwar einen modernen Namen tragen, aber ansonsten offenbar immer noch nicht begriffen haben, dass sich auch die Zusammensetzung ihrer Klientel gewandelt hat) kommentiert das IV-Rundschreiben erstaunlich deckungsgleich mit Cassis (Das subtile «heiliger St. Florian-Prinzip» von Inclusion Handicap kennt man ja bereits von deren Stellungnahme zur Rechtsprechung bei Cancer related Fatigue):

«Die Ausdehnung auf alle Arten von Gesundheitsschädigungen und somit auch auf die rein körperlichen Beeinträchtigungen entspricht daher kaum der Absicht des Bundesgerichts. Hinzu kommt, dass unter Umständen nicht jeder Gutachter oder jede Gutachterin gleichermassen in der Lage ist, die Ressourcenfrage zu beantworten: Ist hierfür in der Regel nicht eine psychologisch-psychiatrische Beurteilung notwendig? Würde dies insbesondere dann, wenn lediglich körperliche Beeinträchtigungen vorliegen, nicht den Sinn des Abklärungsverfahrens sprengen?»

Behinderung und Recht 4/15

Dazu muss man wissen, dass bei manchen körperlichen Behinderungen die Rentenzusprache nicht so sehr über eine detaillierte Einzelfallabklärung, sondern eher eine Art «Automatismus» geregelt wird. Das merken Betroffene dadurch, dass sie sich regelrecht dagegen wehren müssen, wenn sie eine tiefere IV-Rente als für ihre Diagnose «vorgesehen» erhalten möchten. Solche pauschalen Regelungen haben natürlich gewisse Vorteile. Und gegen die Aufhebung dieser Bevorzugung wehrt sich nun eben Inclusion Handicap. Oder kann mir vielleicht jemand erklären, warum sich eine Behindertenorganisation sonst gegen eine für alle Behinderungsarten gleich gestaltete Abklärung wehren sollte?

Für eine Eingliederungsversicherung sollte es selbstverständlich sein, die vorhandenen Ressourcen bei jeder Person individuell abzuklären. Eine IV-Rente darf keinesfalls eine Art automatische «Belohnung» für eine gewisse Krankheit/Behinderung darstellen, sondern muss in jedem Fall die effektive Erwerbs(un)fähigkeit widerspiegeln. Denn auch bei sogenannt «rein» körperlichen Erkrankungen können (psychische) Ressourcen bei der Krankheitsbewältigung eine positive oder (bei deren Fehlen) eine negative Rolle spielen.

. . . .

Willkommen in der Realität

Angesichts der aktuell 45% der IV-Bezüger, bei denen die Erwerbsunfähigkeit auf psychische Ursachen zurückzuführen ist, sollten sich auch hardcore-Retro-Romantiker endlich der halt nicht ganz so schönen Realität stellen, dass die Psychiatrie (wie die somatische Medizin übrigens auch) leider nicht immer heilen, sondern vielfach bestenfalls behandeln kann. Das heisst; gewisse krankheitsbedingte Einschränkungen bleiben dann eben bestehen. Durch frühzeitige Intervention und mit geeigneten Arbeitsplatzanpassungen könnten aber mehr Betroffene künftig trotzdem (teil)erwerbstätig bleiben.

Wenn man allerdings wie die Weltwocheredakteure seit Jahren Menschen mit psychischen Störungen durch tendenziöse Artikel in das nur schlechtestmögliche Licht rückt, darf man sich gerne auch mal an der eigenen Nase nehmen, wenn laut einer Umfrage des BSV nur 10% der Arbeitgeber bereit sind, Menschen mit einer psychischen Störung anzustellen. Oder noch weniger Arbeitgeber psychisch beeinträchtigte Jugendliche ausbilden würden. Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als krank, sondern als «faule Simulanten» gelten, will dann halt auch niemand anstellen/ausbilden.

Kommt dazu; Mitarbeiter mit gewissen Persönlichkeitsstörungen (die einen grossen Anteil unter den psychisch kranken IV-Bezügern ausmachen) können durch ihre krankheitsbedingten starren Verhaltensmuster für ihr Arbeitsumfeld in der Tat sehr anstrengend sein. Laut der BSV-Studie «Schwierige Mitarbeiter» werden «Probleme» mit solchen Mitarbeitern in neun von zehn Fällen mit einer Kündigung «gelöst» (Und am nächsten Arbeitsplatz geht die Problematik wieder von vorne los).

Man kann sich diesen Tatsachen natürlich weiterhin komplett verweigern und stattdessen in rosafarbenen retro-romantischen Träumen vom «Walterli» schwelgen.

Von Journalisten und Nationalräten, von denen die meisten immerhin ein Studium absolviert haben, würde man aber eigentlich erwarten, dass sie fähig sind, der Komplexität aktueller Probleme (und 100’000 IV-Bezüger mit psychischen Erkrakungen sind in der Tat ein grösseres nicht nur finanzielles, sondern auch gesellschaftliches Problem) differenziertere Analysen und Problemlösungsvorschläge entgegenzusetzen, die über eine simple Stammtischlogik hinausgehen.

Die Stammtischlogik à la «Alles Scheininvalide! Die können alle arbeiten!» mit der man bei der IV-Revision 6a «argumentierte» hat den Realitätscheck nämlich leider leider nicht bestanden.

Darüber berichtet heute übrigens auch der Tages Anzeiger: IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit

Integration aus Rente – Die ganz ganz grosse Lüge

Als das Parlament in einer Art Blutrausch (vor allem ausgelöst durch die jahrelang eingepeitschte Scheininvalidenpropaganda der SVP) im Rahmen der IV-Revision 6a beschloss, die Invalidenversicherung unter anderem mit der Reintegration von 17’000 IV-Bezügern (mit Schmerzkrankheiten und anderen psychischen Beeinträchtigungen) finanziell zu entlasten, wusste jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier, dass das nie und nimmer funktionieren würde.

Exemplarisch dazu die Aussagen des damaligen (mittlerweile verstorbenen) SVP-Nationalrates This Jenny in der Fernsehsendung Arena vom 17. Dezember 2010:

Die könnten alle arbeiten, die mit den «komischen Krankheiten»

Kurz darauf:

Aber die mit den «komischen Krankheiten», die will ich nicht in meinem Betrieb haben – die will keiner

Komplett egal, wo die Betroffenen landen – an zwei Orten wollen wir sie jedenfalls nicht: In der IV bzw. den Privatversicherungen («Die können alle arbeiten!») und in der Arbeitswelt («Aber doch nicht bei uns!»). Beziehen die «gar nicht Kranken» vermehrt Sozialhilfe, kommt uns das allerdings auch gelegen, dann können wir nämlich ein paar Jahre später über die vielen arbeitsscheuen Langzeitfälle in der Sozialhilfe schnöden ( SVP Positionspapier zur Sozialhilfe, Juni 2015: «Missbrauch und ausufernde Sozialindustrie stoppen»)

Dass zwei Drittel der Langzeitbezüger in der Sozialhilfe gesundheitliche Probleme haben und bei Sozialhilfebezügern die Wahrscheinlichkeit einer stationären psychiatrischen Behandlung 7,5-mal grösser ist als bei der Durchschnittsbevölkerung sind Details, die niemanden interessieren hoffentlich niemand mitbekommt.

Als Bundesrat Berset am 7. Dezember 2015 Vorschläge für die 7. IV-Revision Weiterentwicklung der Invalidenversicherung präsentierte (Alle Dokumente dazu beim BSV), blieb es von Seiten der SVP verdächtig ruhig. Zum einen lässt sich aus anderen Themen mit dem Schlachtruf «Missbrauch!» gerade wesentlich besser politisches Kapital schlagen (Sozialhilfe, Flüchtlinge), zum anderen haben die Verschärfungen bei der IV auch die eigene Klientel empfindlich getroffen ( Keine Sonderbehandlung der Bauern bei der IV).

Ausserdem liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der aktuellen Reform in der Früherkennung psychischer Krankheiten bei Jugendlichen, sowie deren besserer Unterstützung beim Übertritt in die Arbeitswelt. Ein Thema, das der SVP sowieso am Allerwertesten vorbeigeht, denn «solche» Mitarbeiter – siehe Herr Jenny selig weiter oben – will man ja eh nicht.

Dass diese Einstellung gegenüber Mitarbeitenden mit psychischen Krankheiten weit verbreitet ist, zeigt auch der zeitgleich mit den Reformvorschlägen veröffentliche BSV-Forschungsbericht «Evaluation der Eingliederung und der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung». Er hält u.a. fest:

Die fehlende Zahl geeigneter Arbeitsplätze (…) sowie die grundsätzlich geringe Bereitschaft der Wirtschaft, Personen mit psychischen Problemen zu integrieren, erachten viele IV-Stellen als eines der grössten Hindernisse für die Wiedereingliederung von Versicherten.

und:

Zusammengefasst lässt sich schliessen, dass aus Sicht der IV-Stellen die angestrebte Reduktion des Rentenbestandes durch die Eingliederungsorientierte Rentenrevision (EOR) an politischen Sparzielen orientiert war, ohne die Umsetzbarkeit dieses Vorhabens zu berücksichtigen. Im vorgesehenen Umfang war das Potenzial weder bei den Versicherten, noch auf dem Arbeitsmarkt vorhanden (Aufnahmebereitschaft, geeignete Stellen).

Konkret:

Bezogen auf den gesamten Rentenbestand konnten demnach innerhalb von 4 Jahren etwa bei 0.08% des Rentenbestands aufgrund einer potenzialinduzierten Rentenrevision die Rente gesenkt werden, was hochgerechnet in etwa 160 Fällen entsprechen würde. Wie erwähnt, beziehen sich die Zahlen jedoch auf Angaben von ausschliesslich 8 IVST.

Der Arbeitgeberverband erwähnt jedoch in seiner Reaktion auf die Reformvorschläge mit keinem Wort die furios gescheiterte Reintegration von tausenden IV-Bezügern, sondern klopft sich selbst auf die Schulter:

So sorgten die Arbeitgeber zusammen mit der IV letztes Jahr dafür, dass 20’000 Menschen mit gesundheitlichen Problemen ihren Job behalten oder eine neue Stelle finden konnten.

und fordert weitere Sparmassnahmen.

Auch der NZZ-Journalist Michael Schoenenberger ignoriert komplett, dass die Sanierung der IV auch deshalb nur zögerlich vorangeht, weil die angestrebte versprochene «Integration aus Rente» überhaupt nicht funktioniert hat und fordert unter dem Titel «Gut, aber zu wenig»  am 7.12.2015:

Der Bundesrat wäre dem Volk, das 2009 der Zusatzfinanzierung nur unter Vorbehalt von strukturellen Reformen zustimmte, Antworten schuldig, wie er die IV nachhaltig finanzieren möchte.

Im Tages Anzeiger ist noch ein weiteres Müsterchen bürgerlicher Ignoranz zu lesen:

Umstritten wird jedoch wie schon 2013 sein, ob es für eine Vollrente neu eine 80-prozentige Invalidität braucht oder wie heute eine 70-prozentige. Arbeitgeber und Bürgerliche wollen eine Anhebung auf 80 Prozent, weil für einen Teil der Rentner der Anreiz erhöht werde, ein kleines Arbeitspensum anzunehmen.

Zum Thema «Restarbeitsfähigkeit nutzen» ein Auszug aus den kürzlich veröffentlichen Vernehmlassungsunterlagen zur Reform der Ergänzungsleistungen

Bei rund 60 % dieser [alleinstehenden] teilinvaliden EL-beziehenden Personen (5500 Versicherten) muss auf die Anrechnung des Mindesteinkommens verzichtet werden, weil sie den Beweis erbringen, dass sie ihre Resterwerbsfähigkeit aus arbeitsmarktlichen, gesundheitlichen oder andern Gründen nicht nutzen können. 2000 EL- beziehende Personen (20 % der teilinvaliden EL-beziehenden Personen) sind in der Lage, ein Erwerbseinkommen über dem Mindesteinkommen zu erzielen.

Bereits heute können also nicht besonders viele teilinvalide BezügerInnen von Ergänzungsleistungen ihre (angebliche) Restarbeitsfähigkeit nutzen. Und für diejenigen, die es können, ergibt sich ein spezielles Ärgernis: Arbeitseinkommen wird – im Gegensatz zu Ergänzungsleistungen – besteuert. Der Nationalrat hat diesen Herbst nach langem hin und her die Besteuerung von Sozialleistungen grossmehrheitlich (einzig Grünliberale und BDP waren dafür) abgelehnt. WAK-Kommissionssprecher Adrian Amstutz (SVP) meinte dazu:

Ausserdem besteht bei Bezügern von AHV- und IV-Ergänzungsleistungen das Problem der negativen Arbeitsanreize ohnehin nicht.

Bei AHV-BezügerInnen wohl eher weniger, bei IV-Bezügern aber sehr wohl. Und bei nächster Gelegenheit (Ganze IV-Rente ab 70 oder 80% bzw. Reform der Ergänzungsleistungen) werden genau diese negativen Arbeitsanreize bzw. Schwelleneffekte auf ganz wundersame Weise auf einmal wieder bestehen – und selbstverständlich mit einer härteren Gangart gegenüber den Betroffenen rigoros zu bekämpfen sein.
Mit der Ablehnung der Besteuerung von Sozialleistungen haben sich die Rechts-Bürgerlichen (mit grosszügiger Unterstützung der Linken, die die Besteuerung der Ärmsten und Schwächsten ja sooo gemein finden) ein ganz wunderbares Geschenk gemacht: Nun können nämlich bis zum St. Nimmerleinstag tiefere Sozialleistungen gefordert werden, «damit Arbeit sich auch lohne». Der Clou daran: Im direkten Vergleich wird sich Arbeit nie lohnen, da sie im Gegensatz zu Ergänzungs- oder Sozialhilfeleistungen eben besteuert wird.

Ob die Eingliederung effektiv breit abgestützt gefördert oder einfach nur politisch gewinnbringend auf den Betroffenen rumgehackt wird, darf sich nun jeder selbst ausmalen.

Hauptsache, wir sind die Leute los

Je näher die Inkraftsetzung  der IV-Revision 6a rückt, desto ehrlicher werden die Aussagen. Das Gesetz ist schliesslich unter Dach und Fach und man braucht nun nichts mehr zu verschleiern. Hier ein Auszug aus der Verordnung zur IV-Revision 6a zum Thema «Erfolg einer Wiedereingliederung»:

«In diesem Zusammenhang ist allerdings festzuhalten, dass nach dem in der Schweiz bestehenden Versicherungssystem eine Eingliederung für die Invalidenversicherung dann abgeschlossen ist, wenn die Rente herabgesetzt oder aufgehoben wird, weil sich der Invaliditätsgrad erheblich geändert hat – unabhängig davon, ob die betroffene Person nach Herabsetzung oder Aufhebung über eine Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt verfügt. Ist eine Person nach Herabsetzung oder Aufhebung der Rente arbeitslos, ist in einem nächsten Schritt die Arbeitslosenversicherung zuständig – und in einem letzten Schritt ist eine Verlagerung zur Sozialhilfe nicht auszuschliessen. An diesem System wird auch mit der Revision 6a nichts geändert, was bedeutet, dass die IV-Stellen nicht die Verantwortung dafür übernehmen können, ob eine Person nach einer Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente tatsächlich einen Arbeitsplatz hat.»

So. Und wie die Medas/RAD die «Arbeitsfähigkeit» beurteilen, wissen wir ja mittlerweile (besteht eine Arbeitsfähigkeit von 50% für eine körperlich adaptierte Tätigkeit ohne übermässigen Stress und Zeitdruck, ohne Publikumsverkehr, ohne erhöhtes Konfliktaufkommen, ohne Schichtarbeit und mit der Möglichkeit zu unüblichen Pausen anzunehmen… ect).

Und was die Gerichte sagen, wissen wir auch: «Der reale Arbeitsmarkt mag zwar keine geeigneten offenen Arbeitsplätze aufweisen, aber dies ist für die Invaliditätsbemessung irrelevant, denn damit ist die Beschwerdeführerin arbeitslos, aber nicht invalid.»

Und nun noch zum Thema «ist in einem nächsten Schritt die Arbeitslosenversicherung zuständig» ein Auszug aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Graubünden vom 11. April 2011 – Es betrifft einen 49-jährigen Mann, dem die IV-Gutachter beschieden hatten, dass er in seiner angestammten Tätigkeit als Bodenleger zu 75-80% arbeitsfähig sei. In einer adaptierten Tätigkeit bestehe eine 100%-ige Arbeitsfähigkeit. Der Mann hatte den IV-Entscheid angefochten, das Gericht wies die Beschwerde jedoch ab, unter anderem mit folgendem Argument:

«Schliesslich bringt der Beschwerdeführer vor, dass ihm der Anspruch auf Arbeitslosengelder mangels Vermittlungsfähigkeit abgesprochen worden sei. Er verstehe nicht, wie er zu 75-80%arbeitsfähig und gleichzeitig nicht vermittelbar sein sollte. Der Beschwerdeführer verkennt, dass die Beurteilung der Voraussetzungen für den Erhalt der versicherten Leistung in jedem der beiden Versicherungszweige unabhängig voneinander erfolgt und die invalidenversicherungsrechtliche Erwerbsfähigkeit nicht mit der arbeitslosenversicherungsrechtlichen Vermittlungsfähigkeit gemäss Art. 15 AVIG gleichzusetzen ist. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind Arbeitslosenversicherung und Invalidenversicherung keine komplementären Versicherungen in dem Sinne, dass sich die vom Erwerbsleben ausgeschlossene versicherte Person in jedem Fall entweder auf Invalidität oder aber auf Arbeitslosigkeit berufen könnte. Wer trotz eines schweren Gesundheitsschadens invalidenversicherungsrechtlich nicht in rentenbegründendem Masse erwerbsunfähig (invalid) ist, kann gleichwohl arbeitslosenversicherungsrechtlich gesehen vermittlungsunfähig sein.»

Möchte irgendeiner von den werten Herren Verantwortlichen sich dazu äussern? Vielleicht Alt-Nationalrat – In der Schweiz muss niemand unter einer Brücke schlafen – Wehrli? IV-Chef – Arbeit ist die beste Ablenkung vom Schmerz – Ritler? Oder BSV-Direktor – Eine IV-Rente allein macht nicht glücklich – Rossier? (Die ca. 300’000.- Lohn als BSV-Direktor machen auch nicht glücklich, aber helfen tun sie dabei schon ein bisschen, nicht wahr?).

Oder jemand von der – Die IV-Revision 6a ermöglicht die Reintegration von IV-Bezügern in den Arbeitsmarkt. „Arbeit vor Rente“ – ein Konzept der FDP – funktioniertFDP vielleicht?

Blogartikel zum Thema: Der IV-Trick: Arbeitslos statt invalid

Sie sind Arbeitgeber und suchen eine Gratisarbeitskraft, für die Sie 1700 Franken pro Monat erhalten? Stellen Sie einen IV-Bezüger ein!

Ja, da steht wirklich «1700.- erhalten» und nicht etwa »1700.- bezahlen». Für das absolut wunderbare Rundumsorglos-Paket genannt «Arbeitsversuch», welches den Arbeitgebern mit der IV-Revision 6a ab dem 1.1 2012 zur Verfügung gestellt wird, wird in einer Broschüre der IV-Stelle Schwyz u.a. mit folgenden Worten die Werbetrommel gerührt:

  • Die Firma geht kein Arbeitsverhältnis mit der betroffenen Person ein.
  • Die IV-Stelle Schwyz sorgt für das finanzielle Auskommen. Der Firma fallen keine Lohnkosten und Sozialversicherungsbeiträge an.
  • Die IV-Stelle Schwyz entschädigt die Firma für diese Betreuung pro Einsatztag und betroffene Person mit 85 Franken.
  • Der Einsatz ist befristet.
  • Die IV-Stelle Schwyz stellt eine kompetente Fachperson zur Verfügung, welche die betroffene Person kennt und der Firma zur Seite steht.

Etcetera. Das ganze nennt sich in Schwyz auch nicht «Arbeitsversuch» sondern «Trainingsarbeitsplätze». Nicht, dass potentielle Arbeitgeber etwa mit dem Gedanken verschreckt werden, man müsste die staatlich finanzierte Arbeitskraft nach erfolgreicher Ausnutzung Einarbeitung auch tatsächlich behalten. Nein, nein, nur trainieren soll man sie. Danach kann man sie wieder zurückgeben. Wohin auch immer.

Und hier noch die juristischen Details für den Arbeitsversuch:
Art. 18a (neu) Arbeitsversuch
Die Invalidenversicherung kann einer versicherten Person versuchsweise einen Arbeitsplatz für längstens 180 Tage zuweisen, um die tatsächliche Leistungsfähigkeit der versicherten Person im Arbeitsmarkt abzuklären.

Während des Arbeitsversuchs hat die versicherte Person Anspruch auf ein Taggeld; Rentenbezügerinnen und -bezügern wird die Rente weiter ausbezahlt.

Während des Arbeitsversuchs entsteht kein Arbeitsverhältnis nach dem Obligationenrecht (OR). Folgende Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts sind jedoch sinngemäss anwendbar:

a. Sorgfalts- und Treuepflicht (Art. 321a OR);
b. Rechenschafts- und Herausgabepflicht (Art. 321b OR);
c. Überstundenarbeit (Art. 321c OR);
d. Befolgung von Anordnungen und Weisungen (Art. 321d OR);
e. Haftung des Arbeitnehmers (Art. 321e OR);
f. Arbeitsgeräte, Material und Auslagen (Art. 327, 327a, 327b, 327c OR);
g. Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers (Art. 328, 328b OR);
h. Freizeit und Ferien (Art. 329, 329a, 329c OR);
i. übrige Pflichten: Kaution (Art. 330 OR), Zeugnis (Art. 330a OR), Informationspflicht (Art. 330b OR);
j. Rechte an Erfindungen und Designs (Art. 332 OR);
k. Folgen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses: Fälligkeit der Forderungen (Art. 339 Abs. 1), Rückgabepflichten (Art. 339a OR).

4 Der Bundesrat regelt die Voraussetzungen für einen möglichen vorzeitigen Abbruch des Arbeitsversuchs.

Einfach nochmal zur Verdeutlichung: Die IV kann jemanden einen Arbeitsplatz für bis zu 180 Tage zuweisen. Der IV-Bezüger hat nicht die Möglichkeit, diese «Zuweisung» abzulehnen, da ihm ansonsten eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgeworfen wird, was eine Kürzung oder gar Aufhebung seiner IV-Rente zu Folge haben kann. Oder wie der Gewerbeverband es in seiner Vernehmlassungsantwort formuliert hat: «Wir erwarten, dass beim späteren Vollzug des Gesetzes dann auch tatsächlich ein engagiertes Mitwirken der Versicherten gefordert wird und dass bei all jenen Personen, die aktiv oder passiv Widerstand gegen eine Wiedereingliederung leisten, rasch Sanktionen ergriffen werden.»

Art. 332 OR (Rechte an Erfindungen und Designs) wird wohl kaum eine wirklich grosse Anzahl an einzugliedernden IV-Bezügern betreffen, aber alleine der Gedanke, der dahinter steht, ist absolut haarsträubend: Zum einen wird so getan, als ob der IV-Bezüger/die IV-Bezügerin vollkommen unfähig wäre, für das Unternehmen innerhalb von 6 Monaten eine irgendwie wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen – alleine das ist schon mehr als fragwürdig (bei jemanden der nicht fähig ist, eine irgendwie verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen, macht eine Eingliederung ja gar keinen Sinn) dann kann der Arbeitgeber zusätzlich zur Gratisarbeit des IV-Bezügers auch noch eine Betreuungentschädigung von 1700.-/Monat geltend machen und sollte der IV-Bezüger schliesslich im Rahmen des Arbeitsversuch tatsächlich eine schützenswerte Erfindung oder ein Design nach Art. 332 OR tätigen, gehört die gleich auch automatisch dem Arbeitgeber (der – wir erinnern uns – dafür keinen roten Rappen bezahlt). Das, meine Damen und Herren, ist Sklavenarbeit. Und eine verdammte Schweinerei.

Es ist definitiv nicht die Aufgabe des Staates, den Arbeitgebern Arbeitssklaven Gratisarbeitskräfte zu finanzieren. Auch bei gesunden Arbeitnehmern gibt es eine Probezeit, während der damit zu rechnen ist, dass der Arbeitnehmer sich erst in sein Gebiet einarbeiten muss. Ich glaub ja nicht, dass ein, sagen wir mal Bundesrat, schon am ersten Tag seines Amtsantrittes die volle Leistung erbringt. Das nennt man dann aber sich ins Amt einarbeiten und für Bundesräte gelten die ersten hundert Tage als offizielle Schonfrist. Käme aber wohl keinem in den Sinn, denen während dieser Zeit keinen oder nicht den vollen Lohn zu bezahlen. Jaja, ich weiss, das ist ein Gurken-mit-Ananas-Vergleich. Ist mir Wurscht. Der Arbeitsversuch nach Art. 18a IVG ist trotzdem ne Schweinerei. Alleine aus Gründen des Respektes gegenüber den arbeitenden IV-BezügerInnen (Schon klar, Respekt ist mittlerweile ein komplettes Fremdwort geworden im Umgang mit IV-beziehenden Menschen) könnten die Arbeitgeber zumindest einen Teillohn bezahlen, aber dann würde natürlich ein Arbeitsverhältnis nach OR Artikel-weiss-ich-nicht-wieviel entstehen und damit Kündigungsfristen und so weiter. Dazu nochmal aus der Vernehmlassungsantwort zur IV-Revision 6a des Gewerbeverbandes: «Nach Ansicht des sgv reicht es nicht aus, dass Risiko des Arbeitgebers bloss zu verringern, sondern dieses muss umfassend eliminiert werden.»

Noch Fragen?

Herr Ritler erklärt, was das Wort von Bundesrat Burkhalter wert ist

Weil das Verwaltungsgericht Bern befand, «dass eine generalisierte Angststörung denselben sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen sei, wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. wie sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» hatte ich gefragt «Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat Burkhalter Denn Herr Burkhalter hatte im Rahmen der Diskussionen zur IV-Revision 6a im Dezember 2010 beteuert, dass er die klassischen psychischen Krankheitsbilder «für objektivierbar halte» und diese selbstverständlich nicht von der vorgesehenen Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern betroffen sein würden. Ich merkte damals an, dass es den Gerichten wohl einst herzlich egal sein würde, wie Herr Burkhalter persönlich den Gesetzestext auslegt, gelten würde schlussendlich einzig das was im Gesetz steht – und praktisch alle psychischen Krankheiten sind nun mal per Definition «pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage».

Und die Richter aus Bern sehen das mit der Objektivierbarkeit einer Angststörung (eine ganz klar diagnostizierbare «klassische» psychische Erkrankung) nun offenbar tatsächlich ganz anders als Herr Burkhalter.

Wie das Alles zu interpretieren ist, hat mir dann Herr Ritler, der Leiter der Invalidenversicherung, in einer Mail erklärt. Und ich hätte das wirklich gerne in wenigen Zeilen für meine Leserinnen und Leser zusammengefasst (siehe den rot eingefärbten Text weiter unten) nur: ich musste kapitulieren. Ich hab sehr sehr lange darüber nachgedacht, aber ich hab’s offenbar schlichtweg nicht verstanden.

(Hervorhebungen wie im Original)

Sehr geehrte Frau Baumann

Wir beziehen uns auf Ihr E-Mail vom 23. Mai 2011 an Herrn Crevoisier und äussern uns zu Ihren Fragen in Bezug auf die Schlussbestimmung der 6. IV-Revision wie folgt:

Wie Sie richtig schreiben, hat Bundesrat Burkhalter in der parlamentarischen Diskussion und zu Handen der Materialien ausdrücklich festgehalten, dass die Überprüfung von laufenden Renten im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a nur Beschwerdebilder umfasst, die von einem Arzt in objektiver Weise nicht erfasst werden können, d.h. Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind, wie somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrom, Neurasthenie, dissoziative Bewegungsstörung, Distorsion der HWS.

Ebenfalls ausdrücklich festgehalten hat er, dass im Rahmen der Schluss-bestimmung keine Überprüfung von Beschwerdebildern erfolgt, bei denen eine Diagnose gestützt auf klinische (psychiatrische) Untersuchungen klar gestellt werden kann, wie Depressionen, Schizophrenie, Psychosen wie Zwangsstörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen. Aus unserer Sicht sind auch die im Verwaltungsgerichtsentscheid des Kantons Bern genannten Angststörungen objektivierbar und stellen eindeutig diagnostizierbare Gesundheitsstörungen dar.

Diese Aussagen bestätigen wir und sie entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers, wie dies die Protokolle der Parlamentsdebatte deutlich zeigen. Wir versichern Ihnen, dass es nicht im Interesse des Bundesrates ist, psychisch behinderte Menschen von der IV auszuschliessen. An dieser Haltung ändert auch der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. März 2011 nichts.

In diesem Zusammenhang halten wir in genereller Art fest, dass von der Invalidenversicherung immer – und zwar unabhängig von der Art des Leidens – zu prüfen ist, ob eine Person trotz einem vorhandenen Leiden erwerbsfähig ist oder nicht und falls ja, in welchem Umfang. Dies ist in Artikel 8 Absatz 1 ATSG festgehalten:„Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit“. Diese versicherungs-rechtliche Prüfung findet in jedem Fall und unabhängig von einer Diagnose statt. Das ist nicht neu. Ebenfalls nicht neu ist, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung nicht massgebend ist. Dies entspricht einer mehrjährigen Bundesgerichtspraxis, die im Rahmen der 5. IV-Revision in Artikel 7 Absatz 2, zweiter Satz ATSG aufgenommen wurde: „Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsun-fähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.“

Im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a geht es nun darum, Beschwerdebilder, bei denen die Medizin an ihre Grenzen stösst und eine entsprechende Diagnose einzig gestützt auf subjektive Aussagen der Patienten beruht, unter den dargelegten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erneut zu überprüfen. Davon betroffen sind – wie bereits erwähnt – Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind.

In Bezug auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern können wir uns wie folgt äussern:

  • Bei diesem Entscheid handelt es sich um die erstmalige Beurteilung eines Rentengesuchs. Das Gericht kommt darin zum Schluss, dass die generalisierte Angststörung und ihre Folgen in diesem konkreten Fall mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind (versicherungsrechtliche Überprüfung).
  • Demgegenüber geht es bei den Schlussbestimmungen um die Überprüfung von laufenden Renten (während drei Jahren nach Inkrafttreten der Gesetzesrevision). Der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts ist darauf nicht anwendbar. Wir versichern Ihnen, dass der Wille des Gesetzgebers in die Umsetzungsarbeiten der Revision 6a einfliessen wird.

Wir hoffen, Ihnen mit diesen Ausführungen zu dienen und grüssen Sie freundlich

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
Geschäftsfeld Invalidenversicherung

Ich hab dann nochmal nachgefragt:

Sehr geehrter Herr Ritler

Vielen Dank für Ihre Stellungnahme vom 1. Juni 2011. Da Herr Crevoisier den Wunsch geäussert hat, Ihre Antwort möge den Weg auf meinen Blog finden, möchte ich mich kurz versichern, ob ich alles richtig verstanden habe und für meine Leser (die zum überwiegenden Teil keine Juristen sind) das Ganze folgendermassen zusammenfassen kann:

1. Das BSV hält Angststörungen bei laufenden IV-Renten für objektivierbare Gesundheitsstörungen und zählt sie deshalb ausdrücklich nicht zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage. Aus diesem Grund werden bestehende Renten aufgrund von Angststörungen im Rahmen der Schlussbestimmung zur IV-Revision 6a nicht überprüft.

2. Das BSV hält Angststörungen bei erstmaligen Rentengesuchen für nicht objektivierbare Gesundheitsstörungen* und gibt deshalb weder Weisungen an die kantonalen IV-Stellen, dass die Försterkriterien für die versicherungsrechtliche Beurteilung bei Angststörungen nicht angewandt werden dürfen, noch würde es – sollte der Entscheid des Verwaltungsgerichtes Bern vom Bundesgericht gestützt werden – intervenieren.

3. Im Falle einer Bestätigung des Berner Urteils durch das Bundesgericht wäre dann auch Punkt 1 hinfällig, da es Sinn und Zweck der Schlussbestimmung ist, alte Renten nach dem selben Massstab wie Neurenten zu behandeln.

*Die von Ihnen vorgebrachte Darstellung, dass die Berner IV-Stelle wie das Verwaltungsgericht die Angststörung nur in diesem konkreten Fall für mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar halten, ist nicht schlüssig. Denn das Gericht argumentiert, dass in diesem konkreten Fall eine «Angststörung mit primär vegetativer Symptomatik» vorläge und es dementsprechend angezeigt sei, die Rechtssprechung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage zur Anwendung zu bringen.

Da schwere Angststörungen immer mit einer starken «vegetativen Symptomatik» einhergehen (die entgegen der Darstellung des Gerichtes niemals primär, sondern immer sekundär ist, da sie ja durch die primäre psychische Erkrankung erst ausgelöst wird – und demnach einerseits sehr wohl erklärbar ist und andererseits auch gar nicht organisch bedingt sein kann) handelt es sich hier nicht um einen Einzelfallentscheid, sondern um einen Grundsatzentscheid. Nach gängiger Rechtssprechung kann die selbe Diagnose nicht einmal als objektivierbar und ein andermal als nicht objektivierbar gelten.

Es ist irrelevant, ob in diesem konkreten Fall tatsächlich eine invalidisierende Angststörung vorliegt oder nicht, es geht darum, dass zur Überprüfung der Zumutbarkeit einer Willensanstrengung (wie bei den «nicht objektivierbaren Störungen») die Försterkriterien herangezogen wurden. Und dies mutet spätestens dann vollends absurd an, wenn die «zumutbare Willensanstrengung» aufgrund einer «fehlenden psychischen Komorbidität» bejaht wird. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine psychische Komorbidität bei einer nichtorganischen Schmerzerkrankung eine zumutbare Willensanstrengung verunmöglichen sollte, während im umgekehrten Fall, nämlich bei einer psychiatrischen Haupt(!)diagnose mit körperlichen Begleitsymptomen die generelle Vermutung besteht, dass sie mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sei – und davon nur dann ausnahmsweise abzusehen wäre, wenn eine weitere psychische Krankheit bestehen sollte. (Es besteht ja bereits eine klar diagnostizierte psychische Krankheit: Eine Angststörung nämlich).

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Für eine kurze Rückmeldung zu den eingangs aufgeführten drei Punkten wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wie bereits erwähnt, möchte ich den Sachverhalt auch den Nicht-Juristen unter meinen Bloglesern verständlich und nachvollziehbar darlegen können.

Mit freundlichen Grüssen
Marie Baumann

Herr Ritler antwortete:

Guten Tag Frau Baumann

Wir haben Ihre Mail inhaltlich geprüft.
Ich bitte Sie, unseren Text vom 1. Juni 2011 für Ihren Blog zu verwenden. Auch wenn unsere Antwort und Aussagen technisch erscheinen mögen, so entspricht der Inhalt dem Sachverhalt.

Freundliche Grüsse

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung

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Ich habe deshalb vor einer Zusammenfassung kapituliert und mich entschieden, den ganzen Briefwechsel zu publizieren.
Ich möchte dazu aber noch kurz eine Aussage von Ralf Kocher, dem Leiter des Rechtsdienst der IV anfügen, welche er in einem Gespräch mit Rechtsanwalt Massimo Aliotta gemacht hatte: «(…) Das Hauptproblem sind nicht die Mitwirkungsrechte, sondern das grosse Misstrauen gegenüber der IV-Verwaltung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Anwälte potentiellen Klienten suggerieren, sie bräuchten von Anfang an einen Rechtsvertreter, sonst seien sie chancenlos.»

Also… wenn man als juristischer Laie schon beim Verstehen einer E-Mail des Leiters der Invalidenversicherung ziemlich chancenlos ist, steigert das das Vertrauen in die ganze Institution nicht unbedingt… Wenn der IV und ihren Mitarbeitenden tatsächlich etwas daran gelegen wäre, das Vertrauen in die Institution IV zu stärken, dann wäre eine transparente Informationspolitik das A und O. Die Kollegen vom EJPD haben da mal was Schönes zum Thema «offene Informationspolitik» formuliert – ob das EJPD diesen hehren Grundsätzen auch nachkommt, entzieht sich meiner Kenntnis, aber es klingt zumindest gut:

»Eine offene Informationspolitik ist nicht nur ein notwendiges Element der Meinungsbildung, sondern auch ein Instrument für Transparenz und Vertrauensbildung im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozess. Öffentlichkeitsarbeit dient nicht nur der Informationsvermittlung; sie prägt auch wesentlich das Bild mit, das sich das Publikum von Regierung und Verwaltung macht. Öffentlichkeitsarbeit ist deshalb als eine das gesamte Rechtsetzungsverfahren begleitende Daueraufgabe zu betrachten (also bereits während des Vorverfahrens) und nicht als „Anhängsel“, dessen man sich nach getaner Rechtsetzungsarbeit annimmt.»

Bei der Kommunikation zur Betrugsbekämpfung bekommt es die Invaliden-versicherung ja offenbar auch problemlos hin, das Ganze so simpel zu halten, dass es sogar der «einfache Mann von der Strasse» versteht.

Aber Menschen mit psychischen Erkrankungen genau mittels jener Argumentation von IV-Leistungen auszuschliessen, von welcher Bundesrat Burkhalter noch wenige Monate zuvor behauptet hatte, dass man sie garantiert NICHT auf klar diagnostizierbare psychische Erkrankungen anwenden würde – das ist in der Tat dem «einfachen Mann auf der Strasse» nur sehr schwer verständlich zu machen und kann auch kaum so verpackt werden, dass es als vertrauensbildende Massnahme durchgehen würde. Ich habe also durchaus Verständis für die Schwierigkeiten der Verantwortlichen bei der Invalidenversicherung dies logisch nachvollziehbar zu kommunizieren: Weil es nämlich (zumindest für mich) auch nach dem x-ten mal Durchdenken schlichtweg nicht logisch nachvollziehbar ist. Oder ich steh einfach wirklich ganz furchtbar auf der Leitung.

Der exemplarische Gesinnungswandel des Herrn W. aus S.

Ich könnte sehr sehr viel über die Art und Weise schreiben, mit welcher abgrundtiefen Menschenverachtung in den letzten Jahren viele Parlamentarierer die IV-Gesetzgebung an die Hand genommen haben.
Ich wähle dafür stellvertretend nur ein Beispiel aus – und nein, es ist kein Exponent der SVP, denn alleine hätte die SVP all die Forderungen aus ihren IV-Positionspapieren  gar nie durchsetzen können. Sie hatten fleissige und willfährige Helfer, die sich anfangs noch etwas widerborstig gaben, aber schliesslich nicht nur spurten, sondern geradezu Gefallen an der Sache fanden.

Besonders hervorgetan hat sich hierbei Nationalrat Reto Wehrli (CVP/SZ). Er ist Mitglied der SGK-NR und war bei der Behandlung der 5. IV-Revision im Parlament deren Kommissionssprecher. Den Antrag der Kommissionsminderheit (Federführend damals: NR Bortoluzzi), die bereits mit der 5. IV-Revision die Überprüfung und gegebenenfalls Streichung von bisherigen Renten im Gesetz verankern wollte, kommentierte Rechtsanwalt Wehrli anno 2006 noch folgendermassen: «Die Kommissionsminderheit hat hier zum Zweihänder gegriffen. Bei allem Verständnis für das Bedürfnis, komplexe Probleme einfach zu lösen: So geht es wohl nicht. (…) Eine Anpassung der laufenden Renten an die neue Rechtslage bei gleichbleibendem Sachverhalt würde zu einer unzulässigen echten Rückwirkung des neuen IVG führen. Das ist rechtsstaatlich nicht haltbar(…)».

Das war wie gesagt anno 2006. Eine Mehrheit des Nationalrates sprach sich damals denn auch gegen die Anpassung laufender Renten aus.

Man weiss nicht genau, was in den nächsten drei Jahren passiert ist: Amnesie? Ziegelstein auf Kopf gefallen? Im Ratssaal und in der Kommission zu oft SVP-Parolen anhören müssen und irgendwann selbst geglaubt? Vergessen, dass man eigentlich Jurist ist?

Man weiss es nicht.

Jedenfalls hat ausgerechnet Wehrli 2009 die Motion «Neuüberprüfung von laufenden IV-Renten. Rechtsstaatlich klare Regelung» eingereicht, in der er fordert, dass auch laufende IV-Renten einer vollständigen Neubeurteilung zu unterzogen werden können.

Was Wehrli drei Jahre zuvor noch als «rechtsstaatlich nicht haltbar» verurteilt hatte, forderte er nun plötzlich selbst. (Der Eingang dieser Forderung in die IV-Revision 6a und und deren Gutheissung durch das Parlament war dann nur noch Formsache).

Falls jemand eine plausible Erklärung für Wehrlis Neuinterpretation von Rechtsstaatlichkeit parat hat: Bitte in den Kommentaren kundtun. Ich bin gespannt.

Das wirklich Traurige an der Sache ist aber, dass Wehrli kein Einzelfall ist. Es ist mittlerweile ganz offenbar absolut salonfähig, Menschen die gesundheitlich beeinträchtigt sind, zu behandeln wie den letzten Dreck. Respekt? Rechtsstaatlichkeit? Faire Begutachtung? Faire Verfahren? Alles unnötig. Sind ja nur Menschen dritter Klasse…

David Siems hatte in Anlehung an Martin Niemöller nach der Annahme der Minarettinitiative folgendes geschrieben:

Als sie von Asylmissbrauch sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Asylant.
Als sie von Scheininvaliden sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Invalider.
Als sie von Islamisten sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Moslem.
Als sie von Perversen sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja nicht homosexuell.
Als sie auf MICH losgingen, war keiner mehr da,
der etwas hätte sagen können.

Es hat an Aktualität nichts eingebüsst, tragischerweise nur noch dazugewonnen.

Und wenn dann (als ein Beispiel unter vielen) der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli heute im Tagesanzeiger sagt «Die SVP missachtet die Gewaltenteilung konsequent – und dies auf extensive Weise.» Ein Beispiel dafür sei der Umstand, dass SVP-Richter regelmässig in der Partei zum Rapport antraben müssten, was eigentlich höchst unzulässig sei, selbst wenn die Vorladungen offiziell unter dem Deckmantel «Information» vorgenommen würden.»

Dann ist das mehr als nur ein Warnzeichen. Denn das Gedankengut der SVP hat sich mittlerweile wie eine Infektion weit über deren Parteigrenzen hinaus ausgebreitet. Und dieses Gedankengut ist eine ernsthafte Bedrohung unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates. Eine Partei mag pointierte Meinungen haben, das gehört zu einer Demokratie dazu. Eine Partei aber, die sich immer wieder über bestehende Gesetze hinwegsetzt, die Gewaltenteilung nicht akzeptiert und für sich selbst jedes Recht herausnimmt bei gleichzeitiger Beschneidung der Rechte derjenigen, die sie als minderwertig brandmarkt (Ausländer, Muslime, Empfänger staatlicher Leistungen ect.) – eine solche Partei ist nicht einfach der lustige Pausenclown, damit das Newsnetz regelmässig eine gute Schlagzeile hat. Das Newsnetz und alle anderen Medien, die der Gesinnung der SVP immer wieder noch so gerne eine grosse Bühne bieten (die Klickraten!) machen sich mitschuldig an der Verbreitung dieses gefährlichen Gedankengutes.

Denn dass die Menschen die Propaganda der SVP irgendwann glauben, wenn man sie ihnen nur oft genug serviert, dass sehen wir exemplarisch an der IV-Gesetzgebung. Aber nicht nur dort, dass sehen wir auch dann, wenn wir selbst uns dabei ertrappen, wie wir genervt reagieren ob der Frau mit dem Kopftuch, dem deutschen Arzt am Unispital oder uns ein bisschen mulmig fühlen, wenn uns nachts auf der Strasse eine Gruppe ausländischer Jugendlicher begegnet. Es sind nur kurze Momente der Irritation und wenn wir genauer reflektieren wissen wir, woher es kommt: es wurde uns über die letzten Jahre über alle Kanäle eingebläut: Dass von diesen Menschen eine Bedrohung der einen oder anderen Art ausgeht.

Und was der Mensch immer wieder hört, das glaubt er irgendwann. Schlimmer noch, er nimmt irgendwann nur noch alle Begebenheiten wahr, die seine Sichtweise bestätigen. Was man an diesem Blog übrigens auch sehr gut beobachten kann: Ich sehe auch (fast) nur noch das, was sich gegen Menschen mit Behinderungen/chronischen Krankheiten richtet… Allerdings sehe ich darin auch oft Metaphern, die weit über die Thematik Krankheit/Behinderung/Invalidenversicherung hinausgehen. Man könnte sie wahrscheinlich anhand einer anderen Thematik genau so gut aufzeigen.

Burkhalter: Bei der IV sparen, um die AHV zu finanzieren

Wer am Freitag Abend das Echo der Zeit von DRS 1 hörte, traute seinen Ohren kaum, da wurde davon gesprochen, dass – wenn Burkhalters Berechnungen für die IV aufgehen und alle Sanierungsmassnahmen funktionieren – die Invalidenversicherung im Jahr 2025 eine Milliarde Franken im Plus wäre. Und Bundesrat Burkhalter hätte auch schon Verwendung für dieses Geld, er sagte wortwörtlich folgendes: «Das wäre wahrscheinlich eine Hilfe für die AHV, wir haben dann mit der IV nicht mehr ein Problem, sondern vielleicht eine Lösung»(Echo der Zeit 1. Teil). Laut Echo der Zeit (2. Teil) denkt Bundesrat Burkhalter laut darüber nach, in vierzehn, fünfzehn Jahren die Lohnabzüge für die IV zu senken und sie um das Gleiche bei der AHV zu erhöhen.

Die Herren in Bern haben ja wiedermal echt Humor. Am Samstag Morgen erklärte nämlich der Direktor des BSV, Yves Rossier, in den News von Radio DRS warum die rigorosen Sparmassnahmen absolut notwendig wären (im Beitrag ab 6.28). Moderator: «Ein umstrittenes Thema ist auch die Reduktion der Kinderrenten, hier übt zum Beispiel auch die CVP Kritik. Entstehen da jetzt nicht zusätzliche Härtefälle?»

Rossier: «Es ist immer schwierig, wenn eine laufende Leistung gekürzt wird, es ist aber aber sicher mit 15 Milliarden Schulden und mit einer Milliarde Defizit, Sie können nicht die IV sanieren nur durch Eingliederung. Eingliederung kann einen grossen Teil dazu beitragen, Eingliederung ist richtiger, menschlicher und lohnt sich auch mittelfristig. Aber das reicht nicht, das finanzielle Loch ist zu gross, es braucht auch Sparmassnahmen, die eben wie sie geschildert haben die laufenden heutigen Leistungen betreffen. Nun, es sind harte Entscheide, das stimmt, aber wenn man ohnehin wegen dieser finanziellen Situation sparen muss – ich würde sagen, das ist der Ort wo man sparen kann und wo es am wenigsten wehtut.»

Genau, bei den Behinderten tut Sparen am wenigsten weh. (Praktischerweise wehrten sich nicht mal deren Organisationen gegen die Sparmassnahmen der IV-Revision 6a, also kann man da ungehindert weitersparen) Und bei der AHV will niemand sparen, weil jeder denkt, er wird zwar mal alt, aber sicher nicht behindert. Also sparen wir bei den Behinderten, damit wir die AHV einst finanzieren können.

IV-Revision 6b: PR-mässig durchorchestriert

Heute kurz nach Mittag war bei Newsnetz unter dem Titel «Bundesrat krebst bei IV-Revision zurück» unter anderem zu lesen: «Die Korrekturen seien keine Reaktion auf die Kritik in der Vernehmlassung, sondern auf die Entwicklungen bei der Invalidenversicherung, sagte Burkhalter. Die bisherigen Revisionen zeigten Wirkung».

«Charmant wie immer der Herr Burkhalter» dachte man sich, er hätte auch sagen können: «Die Vernehmlassungsantworten der Behindertenverbände zur IV-Revision haben wir gar nicht gelesen, die interessieren uns nämlich sowieso nicht». Kurz darauf beim nochmaligen Anklicken zwecks Erstellung dieses Artikels stand da auf einmal: «Burkhalter, der noch letzten Februar das ursprüngliche Sparziel von 800 Mio CHF verteidigt hatte, wich Fragen aus, inwieweit die Regierung mit ihren Anpassungen der Kritik Rechnung trug.»

Ooops….? Kann ja nicht sein. Bisschen später nochmal gucken und dann steht da mittlerweile tatsächlich: «Bei der nächsten Etappe der 6. IV-Revision trägt der Bundesrat der Kritik von Behindertenverbänden und Parteien Rechnung.»

Innerhalb von knapp 2 Stunden mal schnell einen Imagewechsel vom ignoranten und arroganten zum totaaal (naja) behindertenfreundlichen Bundesrat? Da hat die PR-Abteilung des EDI wohl ganze Arbeit geleistet. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die IV-Revision 6b sei insgesamt auch eine Art PR-Meisterstück. Erstmal werden total überissene Sparmassnahmen angekündigt (die von genügend Wirtschaftsverbänden und Parteien fröhlich händeklatschend begrüsst werden) und dann merkt man (welch ein Zufall), dass man sich ja doch etwas «humaner» geben kann. Wobei «human» hier sehr relativ ist – denn natürlich sind die vorgesehenen Sparmassnahmen immer noch komplett überrissen, aber man kann dann natürlich den Behindertenorganisa-tionen aufs Butterbrot streichen, man wäre ihnen schliesslich grosszügig entgegengekommen und es wäre dann schon sehr undankbar von ihnen, wenn sie trotzdem das Referendum zu ergreifen würden.

Die Pro Infirmis lässt sich von solchen Spielchen nicht beeindrucken und äussert sich folgendermassen auf ihrer Website:

  • Die Sanierung der IV einzig durch dauernden Leistungsabbau bei heutigen Anspruchsberechtigten ist inakzeptabel.
  • Keine Kriterien für Nachhaltigkeit der (angeblich) zusätzlich geglückten Eingliederungen: eine reine Behauptung!
  • Nach wie vor keinerlei Verpflichtungen für Arbeitgeber: die Eingliederungsziele sind völlig unrealistisch
  • Stufenloses Rentensystem wird begrüsst, doch ist die Verwertung der Restarbeitsfähigkeit fraglich bis fragwürdig.
  • Die Höhe des Sanierungsbedarfs ist fraglich
  • Der Mechanismus Schuldenbremse (ähnlich wie ALV) ist grundsätzlich zu begrüssen.
  • Die Behindertenorganisationen sind nicht grundsätzlich gegen alle Sparmassnahmen, doch nur im Verbund mit (befristeten?) Zusatzeinnahmen.
  • Der Rückgang der Neurenten ist nicht auf zusätzliche Eingliederungen zurückzuführen, sondern auf eine höchst restriktive Praxis (v.a. bei der medizinischen Beurteilung).

FAZIT: Diese Vorlage muss an den Bundesrat zurückgewiesen werden. Falls dies nicht gelingt, wird ein Referendum gegen diese für den Sozialstaat Schweiz – im negativen Sinne – einzigartige Vorlage leider unumgänglich sein.

Kleine Bemerkung meinerseits am Rande: Perfides Spiel liebes BSV übrigens auch, dass ihr die Kinderrenten in allen neuen Unterlagen nun «Elternrenten» nennt. Das war auch so eine grandiose Idee eurer PR-Menschen, nicht wahr? Mit irgend einer lustigen Begründung von der Art, dass dann Kürzungen leichter durchzusetzen wären, weil beim Wort «Kinderrenten» der Mitleidsfaktor zu gross wäre, aber bei «Elternrenten» die Leute denken, dass das ja wohl sowieso eine Frechheit wäre, dass Behinderte auch noch Renten für’s Elternsein bekommen, schliesslich bekommen Gesunde auch keine Elternrenten (und überhaupt: warum müssen Behinderte überhaupt Kinder bekommen.).

Eine ganz perfide Nummer ist das. Und ich bin mir sicher, in der Vorlage sind noch eine ganze Menge solcher hübsch verpackter Ostereier versteckt.

Die kann man beim BSV suchen gehen.