[4/7] Ausser es betrifft einem selbst, dann ist natürlich alles anders. Ganz anders.

Im Pharma-kritischen polemischen Spiegelartikel von 2003, aus dem die SVP die angeblichen IV-Gründe («Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel» ect.) entlehnte, hatte der Journalist Blech auch aufgezeigt, wie Medikamente für diese «erfundenen Krankheiten» beworben werden. Zum Beispiel für ADHS:

[Einschlägige Pharma-Firmen] halten Psychopillen für zappelige Kinder bereit, damit diese in Familie und Schule besser funktionieren, als die Natur sie geschaffen hat. Aggressiv buhlen sie um die jungen Patienten.
Die Firma Novartis mit Sitz in Nürnberg hat sogar ein Bilderbuch zum Thema ADHS herausgebracht. Das Pharma-Märchen erzählt die Geschichte des Kraken Hippihopp, der „fürchterlich ausgeschimpft“ wird, weil er „überall und nirgends ist“ und ihm viele Missgeschicke passieren. Glücklicherweise erkennt Doktorin Schildkröte, was Hippihopp hat: „ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“! Und sie weiß auch, was er braucht: „eine kleine weiße Tablette“.

(jörg Blech: Die Abschaffung der Gesundheit, Spiegel 2003)

Zehn Jahre später (2013) – die Bullshit-Maschinerie bei der Weltwoche läuft immer noch – mokiert sich SVP-Nationalrat Peter Keller unter dem Titel «Ausweitung der Therapiezone» über «erfundene psychische Krankheiten» und die daraus angeblich resultierenden «massenhaften» IV-Fälle:

Was früher salopp als «Zappelphi­lipp» bezeichnet und in der Allgemeinheit vor allem als Ausdruck mangelnder Erziehung wahrgenommen wurde, gilt heute als medizinische Diagnose, die haufenweise Kinder und Schüler erfasst und bei der Ritalin verschrieben wird. (…) Mit etwas Geschick kann sich der Zappelphilipp bis zur Pensionierung als IV-Rentner durchschlagen.

Ausweitung der Therapiezone, Weltwoche 7/2013

Wie kommt Keller darauf, dass… ach so ja, 2012 erregten der damalige RAD-Arzt (sic!) Oskar Bänziger und die Psychologin Barbara Gölz mit ihrer e-MBA-Masterarbeit «Junge Erwachsene mit psychischer Behinderung und ihr Berufseinstieg. Ausserordentliche IV-Rente – ein fragwürdiger Anreiz» Aufsehen, in der sie schrieben:

Der behandelnde Arzt gibt dem Problem unruhiger, unkonzentrierter Störenfriede mit der Diagnose ADHS (und sei sie auch falsch oder nur teilweise richtig!) einen sozial anerkannten Namen / Anstrich. Die Medikalisierung entlastet Eltern und Pädagogen von ihrer erzieherischen und pädagogischen Verantwortung und stellt die Kinder mit medikamentöser Therapie durch das Psychopharmazeutikum Ritalin weitgehend ruhig.

Bänziger/Gölz suggerierten weiter, ein Grossteil der «psychischen» Jungrentner hätten die «Modediagnose» ADHS – die Aargauerzeitung machte daraus dann: «Wegen ADHS: Es gibt immer mehr junge IV-Rentner».

Diese Spekulation Lüge wurde allerdings 2016 durch die BSV-Studie «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» widerlegt. Die häufigsten Diagnosen bei den «psychischen» Jungrentnern sind «geistige Behinderung» (27%), Schizophrenie (22%) und Persönlichkeitsstörungen (21%). Die Diagnose ADHS kommt nur bei einem geringen Anteil der Jungrentner vor, und wenn, dann meist in Kombination mit zusätzlichen Diagnosen (Häufig Persönlichkeitsstörungen). Der Hauptanteil der jungen IV-Bezüger sind also nicht Jugendliche mit ADHS. Ist schliesslich auch nur so eine erfundene Krankheit um – laut Weltwoche und RAD-Arzt – zu vertuschen, dass die Eltern ihre Kinder einfach schlecht erzogen haben. Und für sowas gibt es keine Rente und man braucht man auch keine Medikam…

Oh Moment…

Für Ärzte ist klar: ADHS ist keine gesellschaftliche Fehlentwicklung, sondern eine Krankheit. Und nur weil sie im Kopf ist, bringt man sie nicht einfach mit gutem Willen weg. Wir deuteten die Zappeligkeit und Wutanfälle bei nichtigstem Anlass im Kindergartenalter bei unserem Sohn noch als normales Kindsein. Spaghetti-Teller, die an die Wand flogen, wurden mit „ohne Znacht ins Bett“ bestraft. Die Schule ging zunächst gut; auch andere Kinder verlieren die Jacke oder lassen den Thek im Tram stehen. In der zweiten Klasse aber löste sich das Schriftbild unseres Älteren auf, er schaffte einfache Legomodelle nicht mehr, Anrufe der sehr verständnisvollen Lehrer wurden häufiger, Kameraden wandten sich ab, sein Selbstvertrauen zerfiel.

Ein befreundeter Arzt empfahl uns den Jugendpsychiatrischen Dienst. Familiengespräche, Abklärungen, Verhaltenskurs und die Diagnose: ADHS. Ganz zuletzt die verzweifelte Hoffnung namens Ritalin. Und tatsächlich: Unser Sohn ist heute ein immer noch zappeliger und zerstreuter Sechstklässler – von „ruhiggestellt“ keine Spur –, aber man kann seine Schrift lesen, er liest, liebt Mathe. Am allerwichtigsten: er hat wieder Freunde.

Autoren dieser ehrlichen Familiengeschichte: Das Professorenpaar Urs Birchler und Monika Bütler. (Ritalin-Verteufelung als Geschäftsmodell – publiziert in der NZZ am Sonntag vom 6. April 2014). Birchler und Bütler schreiben weiter:

Ritalin-Kritiker behaupten, ADHS habe es früher nicht gegeben. Tatsächlich sprach man nicht von ADHS, sondern band die unruhigen Störenfriede an die Stühle, warf sie später aus der Schule oder in die Sonderschule und sandte sie als billige Hilfskräfte auf einen Bauernhof.

Blenden wir zurück ins Jahr 2007. In das Buch «Die IV – Eine Krankengeschichte (Herausgeber: Avenir Suisse im NZZ-Verlag, Autorin: Monika Bütler):

Dieser Trend der Medikalisierung hat dazu geführt, dass immer mehr soziale Probleme (…) pathologisiert werden und damit versicherungs­relevant geworden sind. Anders als heute wurden so genannte psychisch­-reak­tive Störungen bis Mitte der 1980er ­Jahre nicht als Invaliditätsgrund anerkannt. Der Zuspruch von Renten auch für diffuse, medizinisch schwer bis kaum nachweisliche Leiden ist der wesentliche Grund für die starke Zunahme von IV-­Fällen seit den 1990er­Jahren.

Um Frau Bütler mit ihren eigenen Worten aus dem NZZaS-Artikel zu antworten:

Tatsächlich sprach man nicht von ADHS, [Ergänzung: oder psychischen Problemen»] sondern band die unruhigen Störenfriede an die Stühle, warf sie später aus der Schule oder in die Sonderschule und sandte sie als billige Hilfskräfte auf einen Bauernhof.

Würde das Professorenpaar auf dem Land wohnen statt in der Stadt, hätte ihr Sohn bestimmt kein ADHS. Auf dem Land gibt es nämlich mehr Bauernhöfe. Und weniger Ärzte, die den Leuten Krankheiten einreden, die sie nicht haben. – Das klingt jetzt natürlich komplett bescheuert, aber genau das war das Argument, das die SVP 2003 in ihrer Motion «Bekämpfung der Scheininvalidität» anführte:

Der Missbrauch der IV ist offensichtlich: In denjenigen Kantonen, in welchen die meisten Ärzte praktizieren, gibt es am meisten Kranke und Invalide.»

(Diese angebliche «Korrelation» besteht übrigens auch zwischen Zahnarztdichte und IV-Rentnern.)

Es geht mir hier explizit nicht um Schadenfreude oder Häme: Man wünscht niemandem eine Krankheit. Der Sohn des Ehepaars Bütler/Bircher hat grosses Glück, so aufmerksame Eltern zu haben, die sich um sein Wohlergehen sorgen. Das haben nicht alle Kinder. Manche Eltern reagieren nicht mit Sorge, wenn ihr Kind Probleme hat, sondern beschimpfen oder schlagen es, statt mit ihm zum Arzt oder zur Therapie zu gehen. Und im schlechtesten Fall entwickeln sich unbehandelten Problemen schwerwiegende Störungen, die zur Invalidität führen können. Die Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen (BSV, 2009) hatte aufgezeigt, dass viele der Berenteten bereits in der Kindheit an einer psychischen Störung litten und schon früh starken biografischen Belastungen ausgesetzt war – bspw. Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, psychisch kranke Eltern, ect. Zynisch wäre es, eine durch solche Umstände mitverursachte Invalidität dann als «Soziale Probleme» abzutun und zu fordern, dass solche Krankheiten nicht versichert sein sollen. (Oh… )

Auch die zweite Autorin, Katja Gentinetta, 2007 noch Vizedirektorin des liberalen Thinktanks Avenir Suisse, überraschte fünf Jahre nach den Erscheinen von «Die IV – eine Krankengeschichte» mit einem plötzlichen Sensorium für Diskriminierung.

Katja Gentinetta ist eine der Frauen, die ihre Meinung geändert haben. Früher sprach sie sich gegen fixe Geschlechterquoten aus. Auch heute noch steht Unternehmensfreiheit für sie ganz oben. Aber sie hält es für naiv, weiter an freiwillige Programme und Projekte zu glauben: «Ich kann mir gut eine Art ‹Anschubquote› vorstellen. Man macht das eine Zeitlang, bis sich das Bild verändert, bis es eine Selbstverständlichkeit wird».

Das Comeback der Frauenquote, srf 10.12.2012

Man kann nur spekulieren, ob dieser Meinungsumschwung etwas damit zu tun hat, dass Gentinetta 2010 nicht zur Direktorin von Avenir Suisse gewählt worden war. Stattdessen gewählt wurde Gerhard Schwarz. Es wurde gemunkelt, dass dabei auch «männliche Netzwerke» eine Rolle gespielt hätten.

Und dann war da noch die ehemalige Zürcher SVP-Regierungsrätin Rita Fuhrer, die 2010 in einem Tagi-Interview über ihre Krebserkrankung sprach:

Gibt es auch Reaktionen, die Sie stören?
Anfangs schon. Viele sagten mir: Du schaffst das. Sie bekommen das in den Griff, Frau Fuhrer. Ich hätte wohl früher auch so reagiert. Aber jetzt, wo ich selber krank bin, haben mir solche «Aufmunterungen» das Gefühl gegeben, allein für meine Genesung verantwortlich zu sein. Ich war sehr verunsichert und hoffte auf Hilfe von meinen Bekannten und natürlich von der Medizin. Ich fand es viel wohltuender, wenn mir jemand sagte, Frau Fuhrer, ich denke an Sie.

Wenn man miterlebt, wie der eigene Sohn leidet, ist es kein «soziales Problem» oder «eine «erfundene Krankheit» mehr («Medikalisierung», anyone?). Dann ist es plötzlich erstaunlich real. Wenn man selbst diskriminiert wird, wird einem bewusst, dass mit «Leistung» alleine eben doch nicht alles erreicht werden kann. Und wer schwer erkrankt, empfindet es plötzlich als belastend, wenn «Eigenverantwortung» erwartet wird, wo man sich doch angesichts der Krankheit hilflos fühlt und auf Unterstützung von aussen hofft. Aus der Perspektive einer/s (noch) nicht Betroffenen sah das alles ganz anders aus.

Wer hätte einem das bloss vorher sagen können? Nun, vielleicht diejenigen, die solche Erfahrungen selbst schon gemacht haben. Aber das sind ja alles nur so unqualifizierte Jammeri, die keine Ahnung haben, ihre sozialen Probleme hinter erfundenen Diagnosen verstecken und sowieso alle nur eine IV-Rente wollen. Warum sollte man mit solchen Leuten überhaupt reden, bevor man ein Buch schreibt, das die öffentliche Meinung und damit auch die Gesetzgebung für diese Menschen prägen wird? Und ich meine hier nicht die Rollstuhlfahrer, sondern Menschen, die sich Sorgen machen, dass ihre Diagnose bekannt wird, weil es sie ihre Stelle kosten könnte oder solche, die deswegen grosse Probleme haben, überhaupt eine Stelle zu finden.

Ich weiss nicht, woher das kommt, dass viele Leute meinen, wenn sie von etwas nicht betroffen sind, hätten sie automatisch eine objektive Sicht auf ebendieses Thema. In ihrer Nichtbetroffenheit sind sie nämlich genau so subjektiv wie die Betroffenen. Zweitere haben aber immerhin eine Ahnung davon, wie es so ist, wenn man dann eben betroffen ist. Und sie wissen, dass das Allerletzte, was man in so einer schwierigen Situation dann noch braucht, öffentliche Beschuldigungen oder Verdächtigungen sind, man hätte keine richtige Krankheit, strenge sich nicht genug an oder hätte sein Kind einfach nur schlecht erzogen.

Nächster Teil: Überwindbarkeit, Behandelbarkeit – Je nachdem, wie es dem Bundesgericht gerade gefällt.

[3/7] Missbrauch, Medikalisierung oder… Diskriminierung

Die von der SVP  jahrelang unermüdlich verbreitete – und wie gezeigt komplett erfundene – Bullshit-Behauptung über angebliche IV-Gründe («Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel» ect.) bildete nur einen Bruchteil der Scheininvalidenkampagne. Da Anfang der 2000er Jahre kaum Hintergrundwissen über die IV-BezügerInnen vorhanden war (das BSV-interne Forschungsprogramm zur Invalidenversicherung (FOP-IV) gibt es erst seit 2006), war es für die SVP ein leichtes, auch die wenigen Zahlen, die zur Verfügung standen mit «schlüssigen» Erklärungen nach ihrem Gusto zu versehen und daraus entsprechende politische Forderungen abzuleiten. Das SVP-Positionspapier «Sanierung vor Finanzierung – Schluss mit der Scheininvalidität (2004) kurz zusammengefasst:

  • Unterschiedliche IV-Quoten in den Kantonen? Missbrauch!
  • Immer mehr IV-Bezüger mit psychischen Störungen? Missbrauch!
  • Hoher Ausländeranteil? Missbrauch!
  • Überproportionaler Männeranteil? Missbr… oh äh nein, natürlich nicht!

Während die ersten drei «Erklärungen» vielen Leuten völlig «logisch» erschienen, wird beim letzten (von mir hinzugefügten) Beispiel «Missbrauch» sofort als unzutreffende Schlussfolgerung empfunden (Privileged white male, anyone?). Die bittere Ironie daran ist, dass 2001 ein Buch erschienen war mit dem Titel «Knappes Geld – ungleich verteilt. Gleichstellungsdefizite in der Invalidenversicherung». Katerina Baumann und Margareta Lauterburg zeigten darin auf, dass Frauen bei der IV in vielen Bereichen massiv benachteiligt wurden. So argumentierte die IV früher bei verheirateten Frauen mitunter, dass eine Erwerbstätigkeit aufgrund des Einkommens ihres Ehemannes «nicht notwendig» sei und sie deshalb auch keine «Erwerbsunfähigkeit» geltend machen könnten. Lauterburg/Baumann schreiben:

Die Kompensation der Invalidität des Mannes wird als Sache der Gesellschaft bzw. der Versicherungsgemeinschaft aufgefasst.(…) Die Kompensation der Invalidität der Frau wird tendenziell als Aufgabe der Familie aufgefasst.

Bestätigt wird diese Sichtweise auch durch folgende Ausführung («Invalidität im Haushalt», 2011):

Zudem wird von der versicherten Person erwartet, dass sie die Mithilfe der Familienangehörigen in einem üblichen Rahmen beansprucht. Man darf sich die Frage stellen, welches Verhalten eine vernünftige Familie in derselben Situation und unter denselben Umständen einnehmen würde, wenn sie wüsste, dass sie keine Versicherungsleistungen beanspruchen kann.

Nach dieser Logik könnte man auch argumentieren, dass ein beeinträchtigter Versicherter 100% erwerbsfähig ist, wenn die Arbeitskollegen seine Arbeit übernehmen. Macht man natürlich nicht. Die IV basiert halt aber immer noch auf ihren Grundfesten aus den 1960-er Jahren, als der Mann der Ernährer und Haushaltvorstand war und Frauen mehrheitlich nicht bezahlte und kaum versicherte Care-Arbeit verrichteten. Dadurch konnten die IV-Kosten niedrig gehalten werden.

Wenn aber beispielsweise auch Teilzeitarbeitende (häufig eben Frauen) ordentlich bei der IV versichert sein sollen, kostet das was (Die SVP ist natürlich dagegen, weil Strassburg!). Wenn Frauen (es sind auch hier oft Frauen) ihr schwerbehindertes Kind (oder andere Angehörige) nicht bis zur Erschöpfung unentgeltlich pflegen sollen, kostet das auch was. Steigende Kosten oder unterschiedliche Rentenquoten sind also nicht einfach gleichzusetzen mit «Missbrauch», sie können auch darauf hinweisen, dass eine bestimmte Gruppe bisher schlicht benachteiligt (oder auch ausgenutzt) worden ist.

2009 veröffentlichte das BSV eine Studie über die am stärksten gewachsene Kategorie bei den IV-Bezügern aus psychischen Gründen. Die Untersuchung zeigte auf, dass die Kategorie 646 als eine Art «Restekategorie» fungiert, in der ein buntes Spektrum von Störungen abgelegt werden, von denen die meisten klar diagnostizierbar sind und manche in dieser Kategorie auch gar nichts zu suchen haben (z.B. geistige Behinderungen). Die weitaus häufigsten Diagnosen waren nicht etwa «Schmerzstörungen», sondern Persönlichkeitsstörungen und Depressionen (Schizophrenie ist auch relativ häufig, figuriert aber schwerpunktmässig in einer anderen IV-Kategorie). Aus den Dossiers der IV-Bezüger wurde ersichtlich, dass die Ärzte zwar in 40% (Schweizer) bzw. 36% (Ausländer) der Fälle berufliche Massnahmen empfohlen hatten (soviel zum Thema «Ärzte verschaffen ihren Patienten einfach eine Rente»), die IV aber nur 13% der Versicherten (Schweizer: 17%, Ausländer: 3%) überhaupt eine berufliche Massnahme gewährte.

Grosse Unterschiede bei der Zusprache einer beruflichen Massnahme gab es auch im Bezug auf die Diagnose. Während 33% der Versicherten mit einer geistigen Behinderung eine Massnahme erhielten, waren es bei Depressionen oder Schmerzstörungen nur 7 bzw. 6%.

Eine AusländerIn mit einer Depression oder Schmerzstörung war also wiedereingliederungstechnisch ziemlich aufgeschmissen. Die Bullshit-Maschinerie der SVP war zu diesen Zeitpunkt aber schon so gut geölt, dass solche Details niemanden mehr gross interessiert haben. Oder um es im SVP-Jargon formulieren: «Diskriminierig? So nen Seich, har har… billigi Usred, fuuli Sieche sind das, alli zäme!»

Im Tonfall deutlich kultivierter, in der Absicht aber nicht weniger dezidiert, hatte die liberale Denkfabrik Avenir Suisse 2007 im NZZ-Verlag «Die IV – Eine Krankengeschichte» veröffentlicht. Es ist eine 250-seitige Analyse darüber, «wie falsche Anreize, viele Akteure und hohe Ansprüche aus der Invalidenversicherung einen Patienten gemacht haben». Das ganze Buch stellt Avenir Suisse mittlerweile als PDF zur Verfügung und ich empfehle es sehr zur Lektüre.

Die beiden Autorinnen Monika Bütler (Volkswirtschaftsprofessorin an der HSG) und Katja Gentinetta (damals Vizedirektorin von Avenir Suisse, heute Beraterin für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft) zeigen gut verständlich die komplexen Hintergründe, Zusammenhänge und Entwicklungen bei der Invalidenversicherung auf. Da es das IV-Forschungsprogramm wie eingangs erwähnt erst seit 2006 gibt, fehlen im Buch allerdings wichtige Daten und neuere Erkenntnisse (z.B. zu den grossen Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung von IV-Bezügern mit psychischen Störungen). Ausserdem weist es bei den Schlussfolgerungen einige schwerwiegende blinde Flecken auf.

Zwar anerkennen die Autorinnen einerseits, dass die steigende Anzahl psychisch kranker IV-BezügerInnen und deren Bedürfnisse von Politik und Verwaltung lange ignoriert wurden, andererseits blenden sie aus, welche Chancen Menschen mit psychischen Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt effektiv haben und wie deren Eingliederung ganz konkret (und nicht nur theoretisch) funktionieren könnte. Nur dank dieser Verleugnung der realen Beeinträchtigungen können die Autorinnen «logisch» schlussfolgern, dass die steigende Anzahl psychisch kranker IV-Bezüger – getreu dem von der SVP vorgegebene Bullshit-Narrativ – auf die «zunehmende Medikalisierung» zurückzuführen seien:

In Wirklichkeit sind aber viele der nicht­ objektivierbaren Gesundheitsschäden das Resultat medikalisierter sozialer und familiärer Probleme. Die Versicherten haben die Tendenz, ihre nichtgesund­heitlichen Probleme, beispielsweise psychosozialen Schwierigkeiten, zu medi­kalisieren, damit sie sich nicht blossstellen müssen (Murer 2004).

. . . . . .

Kleiner Einschub
Man geht heute davon aus, dass bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen biologische Ursachen (z.B. genetische Faktoren), familiäre Bedingungen (z.B. psychische Erkrankung der Eltern) und belastende Lebenserfahrungen (z.B. Missbrauch) eine Rolle spielen. Diese Risikofaktoren beeinflussen die Vulnerabiltät (= Anfälligkeit oder Verwundbarkeit) eines Menschen. Bei Menschen mit einer hohen Vulnerabilität können an sich «normale» Belastungen z.B. hoher Arbeitsstress oder eine Trennung psychische Krisen auslösen (z.B. «Burnout»), während andere Menschen erst bei extremer Belastung oder Traumatisierung psychische Probleme bekommen. (Mehr dazu: Basiswissen zu psychischen Erkrankungen)

Entgegen der oft geäusserten Behauptung gibt es heute in der Gesamtbevölkerung nicht mehr psychisch Kranke, aber psychische Krankheiten scheinen sich im Erwerbsleben behindernder auszuwirken als früher. Wer z.B. mit Stress nicht besonders gut klar kommt und weder flexibel noch teamfähig ist, hat heutzutage schlechte Karten. Umgekehrt ermöglichen medizinische und technische Entwicklungen bei anderen Gebrechensgruppen (z.B. gewissen Körper- oder Sinnesbehinderungen) heute eine bessere Erwerbsintegration. Diese Kompensationsmöglichkeiten fehlen bei psychischen Störungen weitgehend (Eine Armprothese für mehr Stressresistenz?).

Nichtmedizinische Gründe (wie «Arbeitsstress») sind bei der IV allerdings nicht versichert. Ein reines «Burnout» ist – entgegen der SVP-Propaganda – beispielsweise kein IV-Grund (siehe BGE 8C_302/2011). Auch Suchterkrankungen vermögen keine Invalidität zu begründen, denn laut der IV könnten die Leute ja einfach aufhören, zu trinken oder Drogen konsumieren, dann wären sie auch erwerbsfähig.

In der Praxis ist es allerdings häufig nicht ganz einfach, nichtmedizinische Gründe klar von «medizinischen» zu trennen. Denn wie oben gezeigt, haben psychische Erkrankungen immer multifaktorielle Ursachen und werden nicht von einem einzigen klar definierten «medizinischen Grund» (z.B. einem Virus) ausgelöst. Konkret stellen sich dann Fragen wie: Zu wieviel Prozent ist der Versicherte «aus medizinischen Gründen» (sprich: der Persönlichkeitsveranlagung) depressiv und zu wie vielen Prozent wegen zuviel Arbeitsstress? Das zweite ist nämlich nicht versichert.

Also alles nicht so einfach.

. . . . . .

Die Lösungsvorschläge von Bütler/Gentinetta waren hingegen nicht besonders komplex, sondern lauteten getreu der liberalen Ausrichtung von Avenir Suisse: Wer will, der kann:

Deshalb liegt die einfachste Motivation, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in der Senkung der staatlichen Transferleistungen.

Und noch ein bisschen mehr Druck kann auch nicht schaden, aber natürlich spezifisch nur für die «Psychischen»:

Wo keine physische Erwerbsunfähigkeit vorliegt, würde die Verrichtung niederschwelliger gemeinnütziger Arbeiten im zweiten Arbeitsmarkt standardmässig eingeführt. (…) Bei einer Verletzung der Mitwirkungs- und Präsenzpflicht können Sanktionen zum Einsatz kommen, die über eine Reduktion der Unterstützungsleistungen über gewisse Einschränkungen bis zu einem zeitlich befristeten Aussetzen der Hilfeleistungen reichen.

Wenn man Zwangsarbeit spezifisch für «nicht körperlich Behinderte» fordert, ist das eindeutig diskriminierend. Damit wird nämlich impliziert, dass «nicht physisch» Behinderte ja eigentlich «nicht richtig» behindert seien. Das Verständnis für «nicht-körperlich» bedingte Einschränkungen war bei den Autorinnen eher rudimentär ausgeprägt nicht vorhanden. Und das für Diskriminierung offenbar auch nicht.

In den folgenden Jahren werden beide Autorinnen mit diesen Themen allerdings noch persönliche Erfahrungen machen.

Mehr dazu im nächsten Teil.

Die IV – Eine Krankengeschichte. Mit blindem Fleck.

Ein einzelner NZZ-Artikel macht natürlich keine IV-Revision. Viel wirksamer ist ein ganzes Buch. Dieses Buch hiess: «Die IV – Eine Krankengeschichte»  und wurde 2007 von der Avenir Suisse im Buchverlag der NZZ herausgegeben. Autorinnen sind Monika Bütler, Volkswirtschaftsprofessorin an der HSG, und Katja Gentinetta, damals Vizedirektorin von Avenir Suisse, heute Beraterin für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

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Die Autorinnen analysieren so klar und einleuchtend die Rollen der unterschiedlichen Akteure (Betroffene, Ärzte, Arbeitgeber, Anbieter von Hilfsmitteln, Betreiber von Heimen und Werkstätten, sowie verantwortliche Behörden), dass man am Schluss der Lektüre eigentlich nur noch zurücklehnen möchte und sagen: Ja, genau so ist es, so muss es sein, weil das war jetzt so überzeugend, es kann gar nicht anders sein. Soviele Zahlen, soviele zitierte schlaue Studien und Zeitungsartikel (u.a. aus der NZZ…) untermauern die ganze Analyse, wer würde denn da den daraus gezogenen logischen Schlussfolgerungen im letzten Kapitel «Auswege und Ausblicke» noch irgendwas entgegensetzen können?

«Man» hatte offenbar tatsächlich nicht viel entgegenzusetzen, denn viele der dort formulierten Forderungen sind heute – sechs Jahre später – in die IV-Gesetzgebung eingeflossen. Und – auch das muss mal gesagt werden – nicht alles davon ist einfach nur schlecht. Die Gesetzgebung hat allerdings eine leichte Schlagseite in Richtung: Arbeitgeber, die Behinderte einstellen sind ganz ganz super und müssen ganz doll geknuddelt finanziell belohnt werden, währenddessen Arbeitnehmende, die aufgrund ihrer Behinderung keine Stelle finden/gekündigt werden/nicht mehr arbeiten können einfach faul und bequem sind und man sie deshalb ordentlich unter Druck setzen muss.

Beim Druck auf die Betroffenen sehen die Autorinnen auch noch viel Spielraum nach oben (oder unten – je nach Sichtweise), wie sie auf Seite 229 darlegen:
«Wo keine physische Erwerbsunfähigkeit vorliegt, würde die Verrichtung niederschwelliger gemeinnütziger Arbeiten im zweiten Arbeitsmarkt standardmässig eingeführt. (…)
Bei einer Verletzung der Mitwirkungs- und Präsenzpflicht können Sanktionen zum Einsatz kommen, die über eine Reduktion der Unterstützungsleistungen über gewisse Einschränkungen bis zu einem zeitlich befristeten Aussetzen der Hilfeleistungen reichen.»

Katja Gentinetta war auch an die IVSK-Plenartagung 2012 in Vevey geladen (Thema: «IV 2020») und verlieh dieser Forderung in ihrem Vortrag nochmal Nachdruck:

«Die IV etabliert sich zudem als Schnittstelle zum 2. Arbeitsmarkt, der jene Kompetenzen braucht, die in der hochindividualisierten Dienstleistungsindustrie nicht mehr gefragt sind. Ausserdem wird, um der Erosion der Sozialstaatsmoral entgegenzuwirken, soweit möglich für jede Rente eine Gegenleistung gefordert, z.B. in Form von niederschwelligen Arbeiten im öffentlichen oder privaten Sektor.»

Was Gentinetta unter «Soweit möglich» versteht, wurde ja im Buch bereits explizit formuliert: «Wo keine physische Erwerbsunfähigkeit vorliegt». Die – notabene wissenschaftlich unkorrekte –  Formulierung «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar» welche heute als Kniff dient, um die Verweigerung von Renten bei somatoformen Scherzstörungen zu rechtfertigen, hatten wir ja den Juristen zu verdanken. Und nun kommt eine Wirtschafts-Philosophin und erklärt Kraft ihrer medizinischen Kompetenz, dass grundsätzlich für «jede Rente eine Gegenleistung gefordert» werden können soll.

Und genau da liegt auch der Haken bzw. der komplett blinde Fleck im ansonsten wirklich (und ja, das meine ich ernst) lesenswerten und in vielen Bereichen den Finger auf die richtigen Punkte legenden Buch: Abgesehen von einer unter der 1% -Marke liegenden Zahl an Betrügern werden Invalidenleistungen an Menschen mit schwerwiegenden Behinderungen und Erkrankungen ausgerichtet.

Das ist den Autorinnen irgendwie… komplett entgangen… Jedenfalls ist das Buch voll von Sätzen wie: «Deshalb liegt die einfachste Motivation, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in der Senkung der staatlichen Transferleistungen.» (S. 212)

Wunderheilungen durch Senkung der Transferleistungen? Eine interessante These. Weil die sich nicht so gut für einen Feldversuch eignet, versuchte man die angebliche Geldgier Reaktion auf finanzielle Anreize der IV-Bezüger – drei Jahre nach dem Erscheinen des obigen Buchs – anders nachzuweisen. Im Rahmen des BSV-Pilotprojektes «Startkapital» wollte man am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität St. Gallen – unter der Leitung von Monika Bütler – untersuchen, ob der Bezug eines sog. «Startkapitals» IV-Bezüger motiviert, eine Beschäftigung im 1. Arbeitsmarkt aufzunehmen oder den Beschäftigungsgrad zu erhöhen. Wollte. Denn das Projekt wurde – aufgrund mangelnder Teilnehmerzahlen – vom BSV vorzeitig abgebrochen. Die Summe der an die 16 arbeitswilligen IV-Bezüger ausbezahlte Startkapitalien beläuft sich bisher laut Auskunft des BSV auf 321’750.- Die Kosten für die «Begleitforschung» (SEW und das involvierte Befragungsunternehmen): 235’650.- Über den «Erfolg» der «Eingegliederten» ist nichts bekannt.

Der Projektbericht kommt jedoch – unter anderem – zum Schluss:
«Finanzielle Anreize spielen unter Umständen eine geringere Rolle für eine erfolgreiche (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt, als bislang angenommen wurde. Insbesondere die im Durchschnitt wesentlich schlechtere subjektive Gesundheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und die geringen subjektiv wahrgenommenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt deuten darauf hin, dass viele Personen ihre verbleibende (Rest-)Erwerbsfähigkeit als zu gering ansehen, um eine Aufnahme oder Ausweitung der Erwerbstätigkeit in Betracht zu ziehen.»

Für diese bahnbrechende Erkenntnis hat sich die Investition einer halben Million IV-Gelder doch wirklich gelohnt. Man hätte zwar auch einfach mal Betroffene direkt fragen können, aber die lügen ja eh. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Behinderte sind nämlich total intakt, weil die eben gar nicht behindert sind, sondern das nur subjektiv so empfinden. Der Seitenhieb mit den «Subjektiv als gering wahrgenommenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt» ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil die an der Untersuchung beteiligte Eva Deuchert auch an einer Umfrage unter Arbeitgebern beteiligt war, welche zeigte, dass nur ca. 3% von ihnen bereit wären, Jugendliche mit einer psychischen Beeinträchtigung als Lehrlinge zu akzeptieren.

Übrigens: Als Katja Gentinetta, die in Sachen IV gerne mal den neoliberalen Zweihänder («Die IV als komfortable Dauerarbeitslosenversicherung(…)» auspackt, trotz hervorragender Qualifikationen 2010 nicht zur Direktorin der Avenir Suisse gewählt wurde (gewählt wurde Gerhard Schwarz – vermutlich auch aufgrund «männlicher Netzwerke») schrieb ich: «Eine bestehende Diskriminierung kann nie alleine durch «Eigenverantwortung» der Diskriminierten aufgelöst werden, die Verantwortung von Seiten der Diskriminierenden (und Privilegierten) und deren Mut und Wille zur Veränderung bestehender (Macht)Verhältnisse ist entscheidend. Vielleicht macht sich Frau Gentinetta aus aktuellen Anlass auch mal Gedanken darüber».

Frau Gentinetta hat sich unterdessen Gedanken gemacht: «Katja Gentinetta ist eine der Frauen, die ihre Meinung geändert haben. Früher sprach sie sich gegen fixe Geschlechterquoten aus. Auch heute noch steht Unternehmensfreiheit für sie ganz oben. Aber sie hält es für naiv, weiter an freiwillige Programme und Projekte zu glauben: «Ich kann mir gut eine Art ‹Anschubquote› vorstellen. Man macht das eine Zeitlang, bis sich das Bild verändert, bis es eine Selbstverständlichkeit wird».

Wenn Frau Gentinetta nochmal ein paar Jahre nachdenkt, fällt ihr vielleicht auch noch was zur Selbstverständlichkeit von Menschen mit Behinderungen im Berufsleben ein. Aber möglicherweise hört die liberale Sensibilität für Diskriminierung genau an dem Punkt auf, wo sie einem selbst nicht mehr betrifft.

Lue zersch wohär dass dr Wind wääit

Man mag den Anhängern des Bedingungslosen Grundeinkommens hoffnunglose Sozialromatik oder den Machern des im letzten Artikel vorgestellten Filmes kritiklose rosafarbene Propaganda vorwerfen – aber wie sieht es denn auf der andern Seite aus? Bei denen, die behaupten, soviel näher an der «Realität» zu sein?

Am 10. und 11. Juni 2010 lud das liberale Institut zum Symposium unter dem Titel «der Sozialstaat – Ein Experiment auf Abwegen» Ein Blick in die Referentenliste zeigt; dem liberalen Institut Zugewandte gaben sich ein Stelldichein:

James Bartholomew (Adam Smith Institute, London) der Autor von «The Welfare State We’re In» sprach zum Thema: «The welfare state against morals: the erosion of social culture» Unter den Kritiken bei Amazon zum Buch von Bartholomew ist unter anderem folgendes zu lesen: «The author sneers at the number of unemployed people on disability benefit, particularly those who are classed as having mental problems, and implies many of these cases are fraudulent».

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Und wundert es da noch, dass auch der Weltwochejournalist Alex Baur zum «Tabuthema Sozialstaat» referieren durfte? (Und einmal mehr hat er die Mär von angeblichen «50% – 80% ausländischen Transferempfängern» zum Besten geben dürfen)

Oder der evangelische Pfarrer Peter Ruch («Sozialstaat oder Zivilgesellschaft? – Über Verantwortung und Solidarität»), der gerne mal im SVP-Parteiblatt «der Zürcher Bote» und der Weltwoche schreibt und das Lob der freien Marktwirtschaft mit Zitaten aus der Bibel begründen kann: «Immer wieder würde dabei die Notwendigkeit eines Respekts vor dem Eigentum Anderer betont – nicht nur der Diebstahl, auch schon der Neid würde hier als Sünde beschrieben. (…). Umgekehrt fordere die Bibel Tugenden wie Ehrlichkeit, Fairness und Vertragstreue, die eine freie Marktwirtschaft auszeichneten. Zahlreiche Protagonisten der Bibel warnten auch vor dem Wachstum des Staates, da der Mensch fehlbar sei und den Verlockungen der Macht kaum widerstehen könne.»

Fairness zeichnet die freie Marktwirtschaft aus…? Und steht in der Bibel nicht auch irgendwas von Kamel/Nadelöhr/Reiche/Himmelreich…?

Nicht fehlen durfte natürlich auch Katja Gentinetta («Wachstum ohne Grenzen? – Die Entwicklung des Schweizer Sozialstaats») von Avenir Suisse, die sich wie offensichtlich alle anderen Referenten mehr mit den Statistiken als den realen Menschen beschäftigt – oder wie kommt sie sonst auf Schlussfolgerungen wie «die Erhöhung des Rentenalters auf 71 beziehungsweise 73 Jahre wäre eine faire Möglichkeit (…) schliesslich arbeiteten die Menschen weniger körperlich und mehr intellektuell.» Bei Gentinetta wächst das Essen also direkt im Kühlschrank und wohnen tut sie in einem Leichtbauzelt? Und in ihrer Vision pflegen dann die 73-jährigen die 90-jährigen im Altersheim?

Auch wenn der Film zum bedingungslosen Grundeinkommen hauptsächlich der Idee gewogene Personen zur Sprache kommen liess, so zog sich die Bandbreite doch zumindest quer durch verschiedene Berufe und soziale Schichten bis hin zum HSG-Professor. Wenn hingegen das Liberale Institut zum Symposium ruft, und da nur Exponenten aus dem liberalen Klüngel Umfeld mit Berufen, die im übrigen für die Gemeinschaft mehrheitlich nicht besonders notwenig sind (sondern vor allem den Eigeninteressen ihrer Vertreter dienen), im komplett luftleeren Raum die Auswüchse des Sozialstaates geisseln (und keiner der Redner auch nur den leisesten realen Bezug zum behandelten Diskussionsthema aufweisen kann) – dann bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, wem denn hier die Bodenhaftung fehlt…

Und man möchte sich nicht einmal vorstellen, wie es um die Solidarität bestellt wäre, wenn es nach Robert Nef, («Einstieg in den Ausstieg – wie reformfähig ist der Sozialstaat?») dem Stiftungsratpräsident des Liberalen Instituts ginge, der meint: «Solidarität ja, Zwangssolidarität nein – Es brauche wieder mehr Selbstverantwortung(…) Die staatliche Umverteilungspolitik sei zu anonym, um freiwillige Solidarität unter den Bürgern zu fördern und provoziere übertriebene Anspruchshaltungen Betroffener.» Und wenn ebendieser Robert Nef seine Schrift «Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat» ausgerechnet bei Ulrich Schlüers «Schweizerzeit» verlegen lässt und ein langjähriger Duzfreund von Christoph Blocher ist…

Möchte man da im Falle eines Falles wirklich auf die freiwillige Solidarität von Menschen wie den oben zitierten Rednern angewiesen sein? Gibt es sowas überhaupt im Universum der freien Marktwirtschaft? Eine Leistung ohne direkte Gegenleistung? Ich bezweifle es. Klingt irgendwie nach Mittelalter, nach dem System der würdigen und unwürdigen Armen: «Mit diesem Begriffspaar unterschied man ab dem 16. Jahrhundert zwischen jenen, die aufgrund von Krankheit oder äusseren Umständen unschuldig in ihre missliche Situation geraten waren. Und jenen anderen, unwürdigen, die als arbeitsfähige «Bettler oder Beutelschneider» wahrgenommen und disqualifiziert wurden. Deren brachliegende Arbeitskraft sollte von nun an genutzt werden – und so begannen kirchliche und staatliche Vertreter im 17. Jahrhundert, die arbeitsfähigen Armen in Arbeitshäuser und ähnlichen Einrichtungen zu internieren, um sie zu geregelter Beschäftigung zu «erziehen» und auszubeuten.» (Quelle: Rezension «Arme, Bettler, Beutelschneider»). Noch Fragen, warum es im Interesse der wirtschaftsfreundlichen Kreise liegt, die «Armenfürsorge» möglichst zu privatisieren? Vielleicht auch, weil unser Sozialstaat trotz kräftigem Bestreben von bürgerlich-rechts nach deren Meinung immernoch nicht genügend wirtschaftsfreundlich mittelalterlich ist?

Ach herrjeh, die alten Herren mit ihren Ideen von vorgestern für die Welt von morgen.

Quellen: liberales Institut, Der Arbeitsmarkt

Weitere Referenten waren: Prof. Dr. Dr. Gerd Habermann, Friedrich August von Hayek-Stiftung («Der Wohlfahrtsstaat – Geschichte eines Irrwegs») und Prof. Dr. Charles B. Blankart, Humboldt-Universität zu Berlin («Der Teufelskreis der Umverteilung und marktwirtschaftliche Auswege»)

Die Grenzen von gutem Willen und Eigenverantwortung

Katja Gentinetta, Vizedirektorin der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse hat in Publikationen wie «Die IV – Eine Krankengeschichte» sowie in verschiedenen Stellungsnahmen und Vorträgen zum Thema Ergänzungsleistungen immer wieder das neoliberale Credo der Eigenverantwortung durchdekliniert. Grundtenor: Die Leistungen wären zu hoch, würden zu breit gestreut und setzen Fehlanreize, die dazu führen, dass der Bezug der ensprechenden Leistung erstrebenswerter wäre, als zu arbeiten.

Die wirtschaftsfreundliche Lösung welche von Gentinetta/Avenir Suisse für diese Problematik propagiert wird, heisst: damit weder IV noch EL «erstrebenswert» sind, müssen diese Sozialleistungen auf das Existenzminimum gesenkt werden und alles, was über dem Bedarfsminimum liege, müsse sich der/die BezügerIn eben selbst erarbeiten. Das klingt an sich ersteinmal gar nicht so schlecht. Insbesondere aus der Sicht derjenigen, deren Stundenansatz weit über dem liegt, was andere nicht einmal in einer ganzen Woche verdienen (der Durchschnittlohn in der Behindertenwerkstätte „Drahtzug“ in Zürich beträgt durchschnittlich 2.40/Stunde und kann als Beispiel für die ganzen «Branche» gelten).

Was bei der ganzen Theorie auf dem Papier nämlich irgendwie (absichtlich) vergessen geht: IV-Leistungen bekommen diejenigen, deren Erwerbsfähigkeit aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung körperlicher, geistiger oder psychischer Art vermindert bzw. überhaupt nicht (mehr) gegeben ist. Und selbst wenn eine gewisse (Rest)arbeitsfähigkeit noch vorhanden sein sollte, hängt deren wirtschaftliche Nutzung (auch wenn uns das neoliberale Kreise immer und immer wieder anders vorkauen) bei weitem nicht alleine am Willen und der Selbstverantwortung der Betroffenen sondern auch und zu einem erheblichen Teil an der Bereitschaft einer Gesellschaft, die Bedingungen zu schaffen, dass auch Menschen mit einer Behinderung ihre Ressourcen überhaupt erst nutzen können.

Wäre Frau Gentinetta nicht 1968 geboren, sondern nur 50 Jahre früher, wäre aus ihr auch unter Aufbietung allen «guten Willens» und aller «Eigenverantwortung» mit Verlaub wahrscheinlich keine Vizedirektorin geworden, sondern allerhöchstens eine Direktionssekretärin. Und wäre sie gar 100 Jahre früher in eine Schweizer Bergbauernfamilie hinein geboren, hätte sich ihre Schulbildung als Mädchen auf allerhöchstens 4 Jahre beschränkt. Falls überhaupt. Eine weitergehende Schulbildung oder gar ein Hochschulstudium wären praktisch unereichbar gewesen. Und selbst wenn sie zu jenen wenigen Frauen gehört hätte, welche ein Hochschulstudium in Jura oder Medizin erfolgreich abschlossen, war die Eröffnung einer eigenen Kanzlei (Iris von Roten in den 1940iger Jahren) oder einer eigenen Arztpraxis (Caroline Farner 1880er Jahre) unmöglich bzw. die Frauen wurden gesellschaftlich geächtet und lächerlich gemacht.

Die Behinderung «Frausein» beschränkt sich heutzutage darauf, dass Katja Gentinetta trotz bester Qualifikationen und Vorraussetzungen den Direktionsjob bei Avenir Suisse, um den sie sich beworben hatte, nicht bekommen hat. Bekommen hat ihn ein Mann, der sich nicht einmal dafür beworben hatte: Gerhard Schwarz, der Wirtschaftschef der NZZ. Im Tagesanzeiger lässt Rolf Soiron durchblicken, dass bei solchen Entscheidungen möglicherweise «Männliche Netzwerke» ein Rolle spielten.

Die Hoffung ist eine leise, dass Gentinetta bei ihren weiteren Publikationen diese eigene Erfahrung miteinfliessen lässt, dass der eigene gute Wille manchmal eben nicht ausreicht, sondern der «gute Wille» der Umgebung eben durchaus auch entscheidend sein kann, wie weit man kommt. Viele Menschen im Rollstuhl stossen beispielsweise nicht erst im Vizedirektorium an eine «gläserne Decke» sondern für sie ist schon vor dem Gebäude Schluss, aus dem profanen Grund, dass der barrierefreie Zugang für sie nicht gewährleistet ist. Wie im Beispiel jenes Psychologen, der vom Eigentümer des Gebäudes, in dem sich seine Praktikumsstelle befand, keine Einrichtung eines Treppenlifts erwirken konnte, obwohl die Invalidenversicherung sämtliche Kosten(!) getragen hätte.

Nationalrat Luc Recordon (Grüne) hat dazu im Parlament die Inititive «Keine Diskriminierung von Personen mit Behinderungen beim Zugang zu Gebäuden in fremdem Eigentum» eingereicht, welche beim schweizerischen Hauseigen-tümerverband auf erbitterten Widerstand stösst; insbesondere auch: «(…)weil ein Grossteil der nichtbehinderten Mietinteressenten derartige Änderungen als störend empfindet.»

Solange ein Treppenlift, andere behindertengerechte Umbauten oder schlicht die Anwesenheit von Mitmenschen mit Behinderungen «störend» empfunden werden, wie kann da ernsthaft behauptet werden, dass Menschen mit Behinderungen (und das sind Bezüger von Invalidenrenten nun mal per defintionem) doch einfach nur genügend «guten Willen» zeigen müssten, um sich in die Arbeitswelt zu integrieren?

Auch das Frauenstimmrecht bekamen die Schweizer Frauen nicht durch eigenen «guten Willen» es wurde ihnen von den Männern nach alter Schweizer Sitte im Rahmen einer Abstimmung 1971 (und nach mehreren Anläufen) schliesslich und endlich eingeräumt (Ausser in Appenzell Ausserhoden, da wurde es per Bundesgerichtentscheid 1990 eingeführt). Eine bestehende Diskriminierung kann nie alleine durch «Eigenverantwortung» der Diskriminierten aufgelöst werden, die Verantwortung von Seiten der Diskriminierenden (und Privilegierten) und deren Mut und Wille zur Veränderung bestehender (Macht)Verhältnisse ist entscheidend.

Vielleicht macht sich Frau Gentinetta aus aktuellen Anlass auch mal Gedanken darüber.