Schauen wir uns mal an, was die Damen und Herren Nationalräte, deren Mahlzeitenentschädigung pro Sitzungstag 110.- und somit pro Session mehr als eine durchschnittliche IV-Rente beträgt, so gesagt und beschlossen haben:
Die Ablehung der Behindertenquote für Unternehmen ab 250 Mitarbeiter dürfte mittlerweile allseits bekannt sein. Dazu kann man nur noch den pointierten Kommentar eines gewissen Emil Huber unter dem NZZ-Artikel «Arbeitsplätze für Behinderte ohne Quotenpflicht» zitieren: «Missbrauch» rufen, Leistungen kürzen, Ruf versauen – …und wenn die Rufer zu Taten gebeten werden, will keiner etwas wissen. Welche Heuchler.»
Nach Toni Bortoluzzis Drohung gleich zu Beginn der IV-Debatte, dass die SVP weder eine Quote noch einen Ausbau der persönlichen Assistenz dulde – ansonsten würde man die Vorlage ablehnen – lief alles exakt nach dem Fahrplan von SVP und FDP und man hätte sich die Debatte auch gleich ganz sparen können.
Grüne und SP äusserten sich stets klar, sachlich und engagiert trotz leider aussichtsloser Position gegenüber der bürgerlichen Mehrheit und hatten offensichtlich die Vorlage sehr genau studiert, was bei manchen Bürgerlichen äusserst fraglich war. Nicht nur Marianne Kleiner (FDP) fiel immer wieder durch etwas wirre Voten auf, auch andere bürgerliche Exponenten äusserten sich zuweilen doch sehr fragwürdig – so auch Ruth Humbel (CVP): «Die Minderheit will, dass auch für medizinisch nicht fassbare Beschwerdebilder eine Berentung möglich ist. Letztlich führt das dazu, dass jeder für sich selbst entscheiden kann, ob er eine Rente bekommt. Diese Mentalität hat in den Neunzigerjahren geherrscht und die IV wohl ins finanzielle Fiasko geführt. Wer damals eine Rente wollte, hat sie von einem Arzt verschrieben und von der IV-Stelle bestätigt oder dann von einem Arzt durchgesetzt bekommen.»
Das kommentiere ich jetzt mal nicht weiter, aber bemerkenswert an dieser Aussage ist doch, dass Frau Humbel sie im selben Votum untergebracht hat, in dem sie einen von ihr noch schnell reingschmuggelten Einzelantrag bewirbt, der (laut ihrer Formulierung) «verhindern will, dass eine Herabsetzung der Rente der IV zu einer Erhöhung der Invalidenrente der obligatorischen Unfallversicherung führen kann».
Paul Rechsteiner (SP) bemerkte zu diesem Antrag: «Zum Antrag Humbel, der offensichtlich im Auftrag der Versicherungen gestellt worden ist und drastisch zeigt, was für eine Mentalität hier plötzlich zum Ausdruck kommt: Da geht es um die Kapitalsummen, welche die IV nach einem Unfall bei einem Haftpflichtigen kassiert hat; diese kommen ja nicht den Geschädigten zugute; und da soll nun der Verunfallte nicht nur seinen Rentenanspruch verlieren, sondern gerade auch noch seinen Haftpflichtanspruch, der ja mit nichts anderem begründet worden ist als damit, dass der Unfall zur Invalidität geführt hat. Laut Strafrecht wäre so etwas Betrug»
Dass die Mehrheit des Parlaments diesen hastig hineingemogelten Antrag auch noch annahm, war nur eine Gegebenheit unter vielen, die die von bürgerlicher Seite immer wieder eingestreuten Bemerkungen, man meine es ja gut mit den Betroffenen und wolle ihnen durch diese Vorlage die «Chance zur Integration geben» nur noch höhnisch und ihre wahren Beweggründe immer offensichtlicher erscheinen liess. Die rechte Ratshälfte schien nach der erfolgreichen Ablehung der Behindertenquote in eine Art Blutrausch verfallen zu sein und versenkten einen Antrag der Linken nach dem anderen.
Besonders stossend daran ist, dass so mehrere neue Bestimmungen Eingang in die Gesetzgebung fanden, die wie die fragwürdige Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne seriöse vorherige Abklärung, ohne Botschaft und ohne Vernehmlassung einfach so während der Komissionsberatung der NR-SGK noch schnell heimlich hineingemogelt wurden.
Beispielsweise der «Arbeitsversuch» nach Artikel 18a:
1 Die Invalidenversicherung kann einer versicherten Person versuchsweise einen Arbeitsplatz für längstens 180 Tage zuweisen, um die tatsächliche Leistungsfähgkeit der versicherten Person im Arbeitsmarkt abzuklären.
2 Während des Arbeitsversuchs hat die versicherte Person Anspruch auf ein Taggeld; Rentenbezügerinnen und -bezügern wird die Rente weiter ausbezahlt.
3 Während des Arbeitsversuchs entsteht kein Arbeitsverhältnis nach dem Obligationenrecht (…)
Heisst; der Arbeitgeber bekommt für 180 Tage eine Gratis-Arbeitskraft, da die IV Taggeld oder Rente weiter bezahlt.
Und Verweigerung seitens der Betroffenen dieser «Arbeitsplatzzuweisung durch die IV» dürfte dann wohl als Verletzung der Mitwirkungspflicht gelten… was wiederrum Kürzung oder gar Streichung der Rente/des Taggeldes zur Folge haben kann.
Oder auch Art. 66c zur Fahreignung
1 Zweifelt die IV-Stelle an der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, die zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen notwendig ist, kann sie die versicherte Person der zuständigen kantonalen Behörde (Art. 22 SVG) melden.
2 Die IV-Stelle informiert die versicherte Person über diese Meldung.
3 Auf Anfrage im Einzelfall stellt die IV-Stelle der kantonalen Behörde die entsprechenden Unterlagen zu.
Dieser Artikel wurde (ebenfalls kurzfristig) aufgrund der in der Botschaft zur Via secura aufgeführten «Tatbestände, die eine Fahreignungsuntersuchung als angezeigt erscheinen lassen» eingeführt. Neben der Alkohol- und Betäubungsmittelabhängigkeit figurieren darunter auch «psychische Störungen, die zur Arbeitsunfähigkeit führen».
Nun muss man hierzu wissen, dass es ein altes Anliegen der SVP ist, Menschen mit psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit das Lenken von Motorfahrzeugen zu verbieten. Dass es hier nur sehr bedingt um die Sicherheit im Strassenverkehr geht, sondern vielmehr um Disziplinierungsmassnahmen, nach dem Mottto: «Wer nicht arbeitet, soll auch kein Brot essen nicht autofahren» dürfte wohl jedem klar sein. Die von der SVP 2007 eingereichte Motion «Personen mit psychischen Defekten dürfen keine Motorfahrzeuge lenken» wurde denn auch vom Bunderat folgendermassen beantwortet: «Wenn allerdings eine Person wegen einer psychischen Krankheit eine IV-Rente bezieht, ist sie zwar wegen ihrer Krankheit ganz oder teilweise erwerbsunfähig; das heisst aber nicht, dass sie auch ein gefährlicher Verkehrsteilnehmer oder eine gefährliche Verkehrsteilnehmerin ist.»
Die SVP verfolgt ihr Ziel mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit aber weiter (Wir erzählen irgendwelchen Unsinn einfach so lange, bis es jeder glaubt) bereitet noch ein hübsches Deckmäntelchen (Votum Scherer «Es geht nicht gegen handicapierte Leute, sondern es geht um mehr Sicherheit») darüber und schon ist das ganze mehrheitsfähig und die SVP kann sich wieder brüsten, dass sie eben immer erreicht, was sie will.
So auch bei der persönlichen Assistenz – die zwar immerhin (endlich!) eingeführt wurde, aber eben auch nur auf ein absolutes Minumum begrenzt, so dass (neben vielen anderen Einschränkungen) Menschen mit einer geistigen, psychischen, einer Hör- oder Sehbehinderung davon ausgeschlossen sind und Angehörige nicht für Assistenzdienste entschädigt werden dürfen.
Des weiteren wurden in der Beratung der IV-Revision 6a noch die Hilfsmittel und die sogenannte Kostenwahrheit behandelt, auf die ich hier nicht weiter eingehen werde.
In der Gesamtbetrachtung der Voten und gefällten Entscheide ergibt sich das Bild einer bürgerlich-rechts dominierten Parlamentsmehrheit, für die Menschen mit Behinderungen vor allem eins sind: ein lästiger Kostenfaktor. Und gerade in ihrer Funktion als «lästiger Kostenfaktor» eignen sich Behinderte für Politiker ganz hervorragend, um mittels massiver Diskriminierung, Disziplinierung, Sanktionierung und Verleumdnung der Betroffenen politisches und persönliches Kapital aus der ganzen Angelegenheit schlagen zu können. Es bleibt zu hoffen, dass der massive öffentliche Widerstand der Wirtschaft gegen Behindertenquoten auch dem einen oder anderen simpleren Gemüt endlich die Augen geöffnet hat über die wahren Absichten hinter all den heren Lippenbekentnissen zur sogenannten «Eingliederung statt Rente».
Eine genauere Betrachtung verdient auch das Abstimmungsverhalten jener CVP-Politiker, die das C immer besonders akzentuiert vor sich hertragen, wie beispielsweise Pius Segmüller: Sich öffentlich mittels angeblicher Wohltätigkeit für Behinderte zu profilieren, lässt sich offenbar problemlos mit einem konsequent behindertenfeindlichen Abstimmungsverhalten (das merken die Behinderten doch nicht…) vereinbaren. Wahrscheinlich fusst das «Engagement für die Schwächsten der Gesellschaft» auf einer Art Ablasshandel zur Wieder-gutmachung des dem grossen «C» diametral entgengesetzten Verhaltens im Nationalrat. In diesem Sinne dürfte wohl der eine oder andere Politiker nach der beendeten IV-Debatte zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichtes ein Nötli für die Kinder in Kriegsgebieten in den auf dem Bundesplatz stehenden JRZ-Glaskubus gesteckt haben.
Wortprotokolle Nationalrat (Wintersession 2010, 14. und 16. Dezember, IV-Revision, Erstes Massnahmenpaket)