Vor eineinhalb Jahren habe ich den Leitfaden «Arbeiten mit Psychischer Erkrankung» publiziert. Der Leitfaden, der sich an Betroffene richtet, wurde fachlich von den Stiftungen Rheinleben (BL) und Dreischiibe (SG), dem Zentrum für Arbeit und psychische Gesundheit WorkMed (BL) und der Psychiatrie St. Gallen, sowie finanziell von der Pro Mente Sana und den Kantonen St. Gallen und Basel-Stadt unterstützt. Entsprechend wurden zwei Versionen mit den lokalen Eingliederungsangeboten im jeweiligen Kanton erstellt.
In Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) wurde nun auch eine – leicht überarbeitete – gesamtschweizerische Version herausgegeben. Es gibt sie als gedruckte Version in Deutsch (bestellbar beim EBGB), sowie als barrierefreie PDF-Versionen in deutsch, französisch und italienisch.
Es folgt nun der zweite Teil der Fragestellungen an das Bundesamt für Sozialversicherungen im Bezug auf den «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020». Aus Gründen der besseren Verständlichkeit habe ich die Fragen hier im Blog für die Leser·innen teils noch etwas erklärend ergänzt (beispielsweise mit den kommentierten Abbildungen in der Frage 6.):
Aus dieser BSV-Statistik ist für die Öffentlichkeit weder ersichtlich, aufgrund welcher Erkrankungen die jungen Rentenbeziehenden mit psychischen Störungen eine IV-Rente beziehen, noch auf welche Krankheitsbilder die Zunahme zurückzuführen ist. Den Spitälern und damit dem BfS ist es im Gegensatz dazu offenbar problemlos möglich, differenzierte Diagnosen zu den Hospitalisationen zu erheben und zu publizieren:
In Forschungsbericht «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» (BSV, 2016) wurde anhand von Dossieranalysen festgestellt, dass bei jungen IV-Rentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten «Intelligenzminderung» die häufigste behinderungsrelevante Diagnose darstellt. Bei den 19-21-Jährigen beträgt dieser Anteil gar ein Drittel. Dies, obwohl das KSGLS für «Intelligenzminderung» eigentlich den Code 502 vorsieht, der natürlich nicht unter den «psychischen» Störungen gelistet ist. Die Gruppe der «jungen IV-Beziehenden mit psychischen Krankheiten» wird durch diese legere Zuteilungspraxis erheblich grösser gemacht, als sie tatsächlich ist:
Meine Fragen dazu: 6a) Sind bei einer solch erheblichen Vermischung von IV-Beziehenden mit einer psychischen Erkrankung mit solchen mit einer geistigen Behinderung die im Artikel 77 ATSG geforderten «aussagekräftigen» Statistiken noch gewährleistet?
BSV: Wir verweisen auf die obigen Antworten und den Stellenwert von Diagnosen im Rahmen des IV-Verfahrens. Bei der in Art. 77 ATSG erwähnten Berichterstattung geht es im Kern um die Berichterstattung der Durchführungsstellen an die Aufsichtsbehörden. Aufgrund der Fokussierung auf das Eingliederungspotenzial haben wir im Postulatsbericht auf den unserer Ansicht nach fehlenden Mehrwert einer verfeinerten Codierung der Gebrechen hingewiesen.
6b) Wäre es nicht angebracht, diese relevante Unschärfe bei einer häufig in der Öffentlichkeit diskutierten Gruppe (nämlich der der jungen IV-Beziehenden mit psychischen Krankheiten) in den von den Medien genutzten statistischen Daten deutlich auszuweisen?
BSV: Die Liste zur Codierung medizinischer Diagnosen infolge Krankheit oder Unfall wurde in den letzten Jahren nicht wesentlich angepasst. Das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die medizinische Diagnose auf einer allgemeinen Aggregationsstufe erfasst wird, für die keine kontinuierliche Anpassung notwendig ist. Die Codierungsliste für Diagnosen infolge Krankheit oder Unfall unterliegt kaum Veränderungen und hat somit den Vorteil der Stabilität. Sie ist für die Steuerung und Aufsicht der Versicherung ausreichend und geeignet, auch wenn sie keine Analyse und Auswertung von detaillierten Daten zu den medizinischen Diagnosen erlaubt. Sie kann hingegen jederzeit angepasst werden, wenn ein besonderer Bedarf besteht oder eine höhere Granularität erforderlich ist. Eine vordergründige Detaillierung bringt für die IV allerdings keinen Mehrwert mit sich. Selbst wenn Forschende in einer internationalen Klassifikation einen Vorteil sehen mögen, sind dann die eigentlichen Forschungsfragen massgebend.
Kommentar: Mich würde wirklich mal interessieren, wie dieser «besondere Bedarf» definiert ist, wenn für das BSV selbst eine mehrjährige Pandemie keinen ausreichenden Grund darstellt, um die Codierungsliste mit einen spezifischen Code für postvirale Erkrankungen bzw. «Long Covid» zu ergänzen.
Neue Formen psychischer Erkrankungen: Die Versicherung und ihre Akteure waren – und sind z.T. heute noch – nicht in der Lage, angemessen auf die starke Zunahme der psychischen Krankheiten zu reagieren, da es sich um neue Formen psychischer Erkrankungen handelt*, welche schwierig zu diagnostizieren sind und sich kaum objektivieren lassen.
*Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, generalisierte Angststörungen, Schleudertrauma, depressive Episode mit ihren verschiedenen Unterformen, Fibromyalgie, diffuses weichteilrheumatisches Schmerzsyndrom.
Wie war es dem BSV möglich, die Diagnosen so genau zu benennen, welche angeblich zur starken Zunahme bei den psychischen Erkrankungen und infolgedessen zum Kostenwachstum in der Invalidenversicherung führten, obwohl die erwähnten psychiatrischen Diagnosen über die Gebrechenscodes gar nicht detailliert erfasst werden?
BSV: Wie in der Botschaft ausgeführt, handelt es sich bei diesen Diagnosen um Krankheitsbilder, welche im Rahmen der Praxis aufgetaucht sind, und bei denen das Bundesgericht im Rahmen seiner Rechtsprechung entscheiden musste, inwieweit diese Erkrankungsformen eine Invalidität zu bewirken vermögen.
Kommentar: Die in der 6.-IV-Revision beschlossenen massiven Sparmassnahmen, welche vor allem Versicherte mit angeblich «unklaren» Krankheitbildern betrafen, basierten also nicht auf stabilen statistischen Grundlagen, sondern auf dem Bauchgefühl von Bundesrichtern? Gut ja, damit wäre dann auch erklärt, warum die vorgesehenen Eingliederungen von 17’000 IV-Beziehenden mit «unklaren» Beschwerdebildern aufgrund ihrer tatsächlichen Krankheitslast nicht mal ansatzweise klappte, wie der Tagi 2016 konstatierte:
Eine grosse Mehrheit der IV-Stellen beklagt in dem vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bestellten Bericht, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe». «Politik und Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wiedereingliederung enorm überschätzt.»
Möglicherweise wären politische Entscheide, die sich auf fundierte und differenzierte Statistiken abstützen, etwas nachhaltiger und sinnvoller als solche, die «auf Bauchgefühlen» von märchenerzählenden Bundesrichtern und Politikern basieren.
Selbst wenn Forschende in einer internationalen Klassifikation einen Vorteil sehen mögen, sind dann die eigentlichen Forschungsfragen massgebend. Für Forschungszwecke oder die Analyse von Einzelfällen ist das Studium der Versichertendossiers unerlässlich, um signifikante Ergebnisse zu erhalten.
Die nach IV-Code 646 Berenteten zeigen diagnostisch das gesamte Spektrum psychischer Störungen. Dies entspricht nicht der Kategorisierung der IV-Gebrechenscodizes, die für psychische Erkrankungen die Kategorien 641 bis 649 vorsehen, wobei unter anderem eigene Kategorien bestehen für schizophrene Erkrankungen, Alkoholerkrankungen, Polytoxikomanie, Minderintelligenz oder „Psychopathie“. Mit der Ausnahme bipolarer affektiver Störungen (manisch-depressive Erkrankungen), die in unserer Stichprobe fast nie vorkamen, sind aber alle Störungen teils in erheblicher Zahl vorhanden. (…)
Die unscharfe und fachlich überholte Kategorie zieht aber weitere Konsequenzen nach sich: Zum einen ist die Grenze zu anderen körperlich Restkategorien (IV-Code 738) unscharf, weswegen nicht bekannt ist, in wie weit der Anstieg der psychisch bedingten Berentungen auch mit veränderten Zuteilungsgewohnheiten in diese beiden Kategorien zusammenhängt. Zum anderen, und dies ist auch politisch von Bedeutung, wurde damit eine unscharf definierte Rentenkategorie erheblich grösser gemacht als sie tatsächlich ist. Ganz grob wäre bei gut 25% der 646-Berenteten eine andere Kategorisierung zumindest denkbar gewesen. Erkrankungen wie beispielsweise eine paranoide Schizophrenie oder Geburtsgebrechen wie Minderintelligenz gehören hingegen sicher nicht in diese Gruppe. Da gerade der 646-Kategorie die Meinung anhaftet, es handle sich überwiegend um nicht objektivierbare Krankheiten, verstärkt die unscharfe Abgrenzung der Kategorie und die zu häufige Zuteilung die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen als Befindlichkeiten ohne Krankheitswert. Die hier vorliegenden Resultate zeigen demgegenüber, dass es sich bei der starken Zunahme der 646-Renten um eine Zunahme meist klar beschreibbarer Krankheitsbilder handelt.
Wenige Monate nach der Veröffentlichung des obigen zitierten Forschungsberichtes antwortete der Bundesrat (also das BSV) auf die Motion Cassis («IV-Sanierung. Druck muss aufrechterhalten bleiben») nämlich folgendes:
Für ihn ist aber bereits jetzt klar, dass angesichts des Auftrages des Parlamentes Massnahmen insbesondere in denjenigen Bereichen unumgänglich sind, in denen die Kosten im Verlaufe der letzten Jahre besonders stark angestiegen sind. Dazu gehören in erster Linie die Berentungen aufgrund der schwer definierbaren psychischen Störungen (Kategorie 646).
BSV: Ausgangspunkt der Forschungsprojekte im Rahmen des Forschungsprogramms zur Invalidenversicherung sind die beiden klassischen Fragen evidenzbasierter Politik: Machen wir das Richtige? Und: machen wir es richtig?
In diesem Sinne geben die Ergebnisse und Erkenntnisse der Forschungsprojekte Hinweise darauf, inwiefern und in welche Richtung gesetzliche Grundlagen oder Weisungen angepasst werden sollen oder worauf bei der Aufsicht geachtet werden muss.Die Ergebnisse und Empfehlungen der genannten Studie «Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen» aus dem Jahr 2009 dienten unter anderem als Grundlage für die Verstärkung und Ausweitung der Massnahmen beruflicher Art und der Frühinterventions- und Integrationsmassnahmen für die Zielgruppe psychisch erkrankter Versicherter. Ebenso dienten die Resultate als Grundlage für die verstärkte Ausrichtung dieser Massnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt und die vermehrte Anwendung solcher Massnahmen in der Praxis. Generell haben die Forschungsprojekte – spezifisch diejenigen zu Profilen von Versichertengruppen und zur Wirkung von IV-Massnahmen – die Eingliederungsorientierung der IV be- und verstärkt.
Kommentar: «Nicht richtig» macht es das BSV meiner Meinung nach, wenn es in einer offiziellen Bundesratsantwort nach wie vor von «schwer definierbaren psychischen Störungen» spricht, obwohl der selbst in Auftrag gegebene Forschungsbericht diese laienhafte Vorstellung bereits klar widerlegt hat. Und wenn es damit die Grundlage für die politische Forderung nach der Aufhebung von 17’000 aufgrund angeblich «unklaren» Ursachen gesprochenen Renten legt und die Eingliederungen dann aber trotz enormem Verwaltungsaufwand nicht funktionierten (siehe mein Kommentar zu Frage 7) – macht es wohl eher nicht «das Richtige».
9. Ist sich das BSV bewusst, dass der Verzicht auf eine dem aktuellen Stand der Wissenschaft zumindest einigermassen angepasste Kategorisierung der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten als «unklar», «schwer objektivierbar», «Modekrankheiten» ect. Vorschub leistet und diese Stigmatisierung der Betroffenen deren angestrebte Eingliederung erschwert?
BSV: Ein Wechsel der Codierung vermindert unser Ansicht nicht das Risiko einer Stigmatisierung.
Kommentar: Warum wurde dann eigentlich die «Idiotie» in den letzten zwei Jahren aus dem Code 502 entfernt und mit «Intelligenzminderung» ersetzt, wenn neue Begrifflichkeiten sowieso nichts ändern?
Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.
Die «Beweisführung» mittels derer das BSV im Bericht zum Schluss kommt, dass Versicherte mit psychischen Erkrankungen unbedingt weiterhin mittels der aus den 60er Jahren stammenden Codierung erfasst werden müssen, mäandert zwischen «abenteuerlich», «Arbeitsverweigerung» und «absurd».
Im Dezember 2022 habe ich deshalb einige Fragen ans BSV gerichtet, worauf ich im Februar 2023 die Antworten erhalten habe. Im Folgenden der erste Teil dieser Fragen, die Antwort des BSV, sowie mein jeweiliger Kommentar dazu:
1. Hält es das BSV für angemessen, im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) die Bezeichnungen «Idiotie» und «Psychopathie» zu verwenden?
BSV: Der Begriff Idiotie ist in der Tat veraltet. Im Rahmen einer kommenden Überarbeitung prüfen wir die Angemessenheit der Begriffe. Diese Arbeiten mussten angesichts der prioritären Gesetzesrevision zurückgestellt werden.
Im Kapitel über die psychischen Störungen («XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen») als Querverweis: 649 Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen), Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI
Und am Zielort des Verweises («XXI. Angeborene Leiden ausserhalb des Anhangs GgV): 502 Oligophrenie (Idiotie, Imbezillität, Debilität, siehe auch Ziff. 403).
Was ich zur Zeit der Fragestellung an das BSV im Dezember 2022 nicht realisierte: Seit der Einreichung des Postulates zur differenzierten Codierung im Jahr 2020 ist die «Idiotie» auf wundersame Weise aus dem Code 502 verschwunden und hat der «Intelligenzminderung» Platz gemacht. Im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) sieht der Code 502 nämlich so aus:
502 Angeborene Intelligenzminderung
Im Kapitel über die psychischen Krankheiten ist der Verweis auf die Idiotie» aber immer noch vorhanden. Der Forderung von Inclusion Handicap für zeitgemässe Begriffe für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde also an entsprechender Stelle offenbar ohne grossen Aufhebens Folge geleistet (womit sich das «Interesse» von Inclusion Handicap am Vorstoss dann auch erledigt hatte), während das ganze Psychokapitel nicht angefasst wird und buchstabengetreu in den 60er Jahren verhaftet bleiben muss. Und dies, egal, wie absurd das im Detail ist, wie der Kommentar zur nächsten Frage zeigt:
2. Welche medizinischen Diagnosen werden unter dem Begriff bzw. Code «Psychopathie» kategorisiert?
BSV: Definitionsgemäss wird unter einer Psychopathie eine schwere Form der antisozialen (od. dissozialen) Persönlichkeitsstörung im Sinne eines weitgehenden oder völligen Fehlens von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, verstanden. In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten.
Kommentar: Das hat der/die BSV-Mitarbeitende sehr schön aus Wikipedia abgeschrieben. Gibt ein Sternli! Aber hat es beim Abschreiben von «In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten» nicht zumindest ein bisschen geklingelt? Es ist zudem äusserst skurril, dass für eine einzelne ganz spezifische Form der Persönlichkeitsstörung die (veraltete und heute oft als Schimpfwort benutzte) Kategorie «Psychopathie» existiert, während alle anderen Persönlichkeitsstörungen irgendwo im grossen Nirvana der Sammelkategorien «646» (Psychogene oder milieureaktive Störungen) oder «649» (Übrige geistige und charakterliche Störungen) verschwinden.
3. Die psychischen Gebrechen werden mit neun der knapp 300 Gebrechenscodes erfasst. Eine detaillierte Codierung der psychischen Gebrechen böte laut Bericht keinen Mehrwert. Welchen Mehrwert bietet die detaillierte Erfassung der körperlichen Gebrechen mit den restlichen ungefähr 290 Gebrechenscodes?
BSV: Diese Codierung ist zu weiten Strecken historisch bedingt. In den letzten Jahren wurden auch die Codierungen bei körperlichen Gebrechen nicht erweitert. Seit die IV als Eingliederungsversicherung positioniert worden ist, haben die Diagnosen ihren Wert nur im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen. Wesentlich ist – wie im Postulatsbericht hervorgehoben – die Sicht auf das Potenzial der versicherten Personen.
Kommentar: Die Aufgabe einer IV-Statistik liegt nicht darin, das «Potential» der Leistungsbeziehenden abzubilden, sondern die Gründe für deren Leistungsbezug. Und diese lassen sich zwar nicht direkt, aber zumindest indirekt auf eine zugrundeliegende Erkrankung/Behinderung zurückführen.
Aktuell will die Öffentlichkeit vom BSV auch nicht wissen, «dass Long Covid-Betroffene ganz viel Potential haben», sie will wissen, wieviele Betroffene sich bei der IV anmelden mussten und wieviele davon schliesslich Leistungen erhalten. Als ich Anfang 2021 beim BSV nachfragte, sah man noch keine Notwendigkeit für Long Covid einen spezifischen Code einzuführen. Erst aufgrund des (ebenfalls von mir angeregten) parlamentarischen Vorstosses «Monitoring IV-Beziehende mit Long Covid» im März 2021 bequemte sich die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) schliesslich dazu, die entsprechenden Anmeldungen und Leistungszusprachen zumindest mittels einer Excel-Tabelle(!) zu erfassen. Ohne eindeutige Codierung ist die Nachverfolgbarkeit der Wege, den die Versicherten durch das IV-System nehmen, aber nicht gewährleistet. Der Witz ist: Codiert werden die Versicherten im IV-System natürlich trotzdem, einfach mit irgendeinem Code. Und dieser Code dürfte im Fall von Long Covid nicht selten der «irgendwas psychisches halt» Code 646 sein. Statistische Verzerrungen sind also vorprogrammiert.
Und was das «historisch bedingt» betrifft: Diese Argumentationslinie kennen wir vom BSV bereits von anderer Stelle. Interessant daran ist einfach, dass sich dieses «historisch bedingt» rein zufällig immer zum Nachteil von Versicherten mit psychischen Erkrankungen auswirkt (die mittlerweile immerhin 50% der IV-Beziehenden ausmachen). Und diese Nachteile lassen sich zudem leider leider niemals beheben, wie auch dieser Ausschnitt aus einem WOZ-Artikel vom letzten Herbst zeigt:
Die Blindenorganisationen erhalten pro Jahr 20 Millionen Franken, das Geld wird über den Dachverband SZBlind verteilt. Nur Pro Infirmis – die Dachorganisation, die alle Menschen mit Beeinträchtigungen vertritt – erhält mehr. Pro Mente Sana, der Dachverband, der sich spezifisch um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmert, erhält jedoch nur 2,7 Millionen Franken. Warum das so ist, lässt sich kaum ergründen. «Diese Verteilung ist auch historisch bedingt und kann deshalb nicht angepasst werden, weil die aktuellen Rechtsgrundlagen momentan keine entsprechende (andere) Verteilung vorsehen. Wie damals die genaue Zuteilung erfolgte, kann ich Ihnen nicht sagen», teilte der Verantwortliche beim Bundesamt für Sozialversicherungen der WOZ mit. Die Gelder sind enorm wichtig, aber es fragt sich, ob der Verteilschlüssel noch zeitgemäss ist.
Man ist geneigt zu fragen: Ist das eigentlich noch ein Bundesamt oder schon ein historisches Museum?
4. Was spricht dagegen, die neun bestehenden psychischen Gebrechenscodizes mit den zehn ICD Kategorien F0 – F9 (ohne deren Unterkategorien) zu ersetzen? Das wäre keine grosse Veränderung, aber die Zuteilung aufgrund der Hauptdiagnose nach ICD wäre einfach, zweckmässig und zumindest ein bisschen präziser.
BSV: Im Rahmen der Arbeiten am Postulatsbericht ist die Frage tatsächlich bereits abgeklärt worden. Wie oben beschrieben und im Postulatsbericht hervorgehoben, fokussieren die IV-Stellen auf das Potenzial der versicherten Personen. Die Diagnosen haben ihren Wert im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen der versicherungstechnischen Voraussetzungen. Sobald entschieden ist, dass eine versicherte Person Anrecht auf Leistungen der IV hat, konzentrieren sich die IV-Stellen auf das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person. Vor diesem Hintergrund haben wir darauf verzichtet, die Codierung auch auf einer höheren Aggregationsstufe anzupassen, da sie in der Folge keinen echten Mehrwert für die Arbeit der IVST bieten würde.
Kommentar: Auf der Webseite der IV-Stelle Bern ist unter «Ein guter Arztbericht enthält folgende Punkte» auch folgender Punkt aufgeführt:
Diagnose nach ICD 10, nachvollziehbar darlegen, auf welchen Befunden die Diagnose gründet
Die Diagnosen werden im IV-Verfahren also sowieso erhoben, warum diese Diagnosen(n) nicht direkt im System erfasst werden, sondern nach einem 60 Jahre alten Codierungs-System «umgedeutet» und unkenntlich gemacht werden, ist nicht nachvollziehbar. Das BSV kann noch so oft wiederholen, dass die IV-Stellen «auf das Potential fokussieren», das «Eintrittsticket» für IV-Leistungen bleibt trotzdem die Diagnose. Ohne Diagnose gibt es nämlich keine Leistungen. Was übrigens auch der Leiter der IV-Stelle Graubünden Thomas Pfiffner kürzlich in der Radiosendung Fokus mit dem Titel «Ist Long Covid ein Fall für die IV?» zugeben musste.
5. Im Bericht werden die RELY-Studien erwähnt, wonach die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Personen mit psychischen Einschränkungen mit Unsicherheiten behaftet sei. Ist dem BSV bekannt, welche Reliabilität Gutachter bei somatischen Einschränkungen erreichen?
BSV: Es liegen keine Forschungsarbeiten zu dieser Thematik vor, so dass das BSV über keine entsprechenden Daten verfügt.
Kommentar: Die RELY-Studien des Universitätsspitals Basel zeigten auf, dass verschiedene psychiatrische Gutachter·innen die Erwerbsfähigkeit bei denselben Fällen/Personen mit psychischen Erkrankungen teils sehr unterschiedliche einschätzten. Die Studien werden gerne herangezogen, um mehr oder weniger subtil aufzuzeigen, dass bei psychischen Erkrankungen weder die Betroffenen, noch die Gutachter·innen, noch die Diagnosen verlässlich, klar oder glaubwürdig sind. Oder wie hier vom BSV immer wieder betont wird: «Psychiatrische Diagnosen sind sowieso nicht aussagekräftig.»
Oft wird auch (beispielsweise von beweisfetischistischen Juristen) ex- oder implizit der Vergleich zu körperlichen Krankheiten gezogen, bei denen sich die Erwerbsfähigkeit angeblich völlig klar und quasi «automatisch» aus den Befunden (ergo der Diagnose) ergeben würde. Diese Behauptung wird aber interessanterweise nie mit entsprechenden Studien über die Reliabiliät von Gutachten bei körperlichen Erkrankungen untermauert. Es wird einfach behauptet, dass es so ist. Und selbst wenn die RELY-Studien auch die Begutachtung von körperlichen Krankheiten einbezogen hätten und dabei eine grössere Übereinstimmung zwischen den Gutachter·innen ausmachen hätten können als bei den psychischen Erkrankungen, hätte sich die Frage gestellt, ob die von den Gutachter·innen in Übereinstimmung attestierten Erwerbsfähigkeiten den «tatsächlichen» Erwerbsfähigkeiten entsprechen, oder ob sie nicht vielmehr jenen Grad der Erwerbs(un)fähigkeit abbilden, von dem Betroffene, Gutachter·innen und die Öffentlichkeit stillschweigend übereingekommen sind, dass sie im Fall der sichtbaren und offensichtlichen körperlichen Behinderung «angemessen» ist.
Vor drei Jahren publizierte ich eine dreiteilige Artikel-Serie mit dem Titel «Das Märchen von den unklaren Beschwerdebildern». Im ersten Teil zeigte ich auf, wie jahrzehntelang von verschiedenen Seiten felsenfest, aber ohne jegliche objektivierbare Beweisgrundlage behauptet wurde, früher hätte es keine psychischen Erkrankungen gegeben, die IV sei deshalb gar nie für Menschen mit psychischen Erkrankungen «gedacht» gewesen und das Defizit der IV rühre vor allem daher, dass immer mehr Menschen mit unklaren/psychischen Beschwerdebildern absolut ungerechtfertigterweise IV-Renten bezögen.
Im zweiten Teil wird anhand der Masterarbeit der Historikerin Daniela Jost nachgezeichnet, dass der Gesetzgeber entgegen anderslautenden Behauptungen bei der Einführung der IV sehr wohl anerkannte, dass auch psychische Erkrankungen die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen können. Belegt ist das unter anderem mit einer Abbildung aus dem Kreisschreiben von 1965, das die damalige Klassifizierung der psychischen Erkrankungen durch das BSV zeigt (jede Leistungszusprache wird bei der IV mit einem entsprechenden «Gebrechenscode» versehen):
Quelle: Bundesamt für Sozialversicherung 12.1965 – Kreisschreiben über die Durchführung der Gebrechensstatistik in der Invalidenversicherung, 12.1965 (Abbildung aus der Masterarbeit von Daniela Jost)
Im Vergleich mit dem aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik fällt auf, dass das BSV die Codierung der psychischen Krankheiten seit 1965 (abgesehen von einigen kosmetischen Details) kaum verändert hat:
XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen 641 Schizophrenie 642 Manisch-depressives Kranksein (Zyklothymie) 643 Organische Psychosen und Leiden des Gehirns 644 Übrige Psychosen (seltenere Fälle, die nicht unter 641–643 bzw. 841–843 eingereiht werden können, wie Mischpsychosen, sog. schizoaffektive Psychosen, Pfropfschizophrenie usw.); Involutionsdepressionen 645 Psychopathie 646 Psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline cases (Grenzbereich Psychose – Neurose); einfache psychische Fehlentwicklungen z.B. depressiver, hypochondrischer oder wahnhafter Prägung; funktionelle Störungen des Nervensystems und darauf beruhende Sprachstörungen, wie Stottern; psychosomatische Störungen, soweit sie nicht als körperliche Störungen codiert werden 647 Alkoholismus 648 Übrige Süchte (Toxikomanie) 649 Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen) Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI
Im dritten Teil der Artikelserie geht es darum, dass dieses veraltete und ungenaue Codierungssystem aus den 60er Jahren keine verlässlichen statistischen Grundlagen über die effektiven Leiden der IV-Beziehenden mit psychischen Erkrankungen liefert und deshalb ersetzt werden sollte. Speziell der Kraut- und Rübenkategorie «646», mit der rund die Hälfte die IV-Beziehenden mit einer psychischen Erkrankungen codiert ist, haftet die zwar durch eine Dossieranalyse (BSV 2009) schon lange widerlegte, aber trotzdem nicht totzukriegende Behauptung an, es handle sich dabei ausschliesslich um Versicherte mit unklaren/psychosomatischen/komischen Krankheitsbildern. Und weil auch weitere Kategorien wie «Übrige geistige und charakterliche Störungen» oder «Psychopathie» (Seriousely?) weder aussagekräftig noch zeitgemäss sind, kann über IV-Beziehende mit psychischen Erkrankungen aktuell nur soviel gesagt werden: «Uiuiui, das sind aber ganz schön viele. Woran die genau leiden? Tja, wissen wir nicht.»
Das ist natürlich eine super Grundlage für all jene, die gerne Märchen erzählen, um damit sozialpolitischen Diskussionen die gewünschte Richtung zu verleihen («Das sind doch alles Scheininvalide»).
Aber ein seriöses Bundesamt mit einer seriösen Statistikabteilung, das hat doch sicher ein Interesse daran, über die grösste Gruppe der IV-Beziehenden (50% aller IV-Bezüger·innen leiden an einer psychischen Krankheit) etwas seriösere statistische Grundlagen zu haben, als nur: «Uiuiui, ganz vielllll»?
Das von der Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter auf meine Anregung hin eingereichte Postulat «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» in dem der Bundesrat beauftragt wird «zu prüfen, ob und wie die veralteten Codizes bei der Klassifikation von IV-Gebrechen durch ein differenzierteres und international anerkanntes System zu ersetzen sind» wurde jedenfalls 2020 vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und vom Nationalrat ohne Gegenstimme durchgewinkt. Der Bundesrat bzw. das BSV «prüft» also erstmal ausgiebig.
Soweit so gut. Das Problem an solchen Forderungen ist, dass sie von anderen Akteuren für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert werden können:
Inclusion Handicap: Nettere Begriffe für Menschen mit geistiger Behinderung
Der Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap, der eigentlich alle Menschen mit einer Behinderung vertreten sollte, in dessen Vorstand aber zum damaligen Zeitpunkt kein/e Vertreter·in der Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung sass, kommentierte den Vorstoss auf seiner Webseite äusserst eigenwillig. Inclusion Handicap schrieb:
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) benutzt heute ungenaue Codes aus den 1960er Jahren. Dabei kommen auch völlig überholte und nicht zeitgemässe «Gebrechen» wie «Idiotie» oder «Debilität» vor. Selbstredend zeigt dies auf: Die Klassifizierungen gehören dringend überarbeitet.
Obwohl der Vorstoss sich spezifisch darauf bezieht, dass die fehlenden statistischen Grundlagen vertieftes Wissen über die Versicherten mit psychischen Erkrankungen (Woran leiden sie? Welche Eingliederungsmassnahmen sind bei welchen Krankheitsbildern erfolgreich ect.) verunmöglichen, stellt Inclusion Handicap es so dar, als ob es einzig um etwas «nettere» Bezeichnungen von Versicherten mit einer geistigen Behinderung geht. Psychische Erkrankungen werden mit keinem Wort erwähnt.
Soviel zum Thema welche Formen der Beeinträchtigungen im Behindertenbereich eine Lobby haben – und welche nicht.
Avenir Suisse: Ein Kostendach für Eingliederungmassnahmen
Damit wäre eine einheitliche Anwendung der Codierung innerhalb der IV sichergestellt, die Transparenz innerhalb und zwischen den IV-Stellen erhöht und die Suche nach erfolgreichen Eingliederungspraxen je nach Krankheitsbild vereinfacht. Damit könnte auch die Entwicklung mancher psychischen Krankheiten über die Zeit verfolgt und Eingliederungsangebote entsprechend angepasst werden.
Der Pferdefuss daran ist, dass der Vorstoss bei Avenir Suisse deshalb so gut ankommt, weil er perfekt zur Hauptforderung im entsprechenden Positionspapier passt: Der ultraliberale Think Tank fordert nämlich ein Kostendach pro IV-Stelle. Ist erst einmal im Detail ersichtlich, bei welchen Krankheitsbildern sich Eingliederungsmassnahmen nur selten «lohnen», würden kostenbewusste IV-Stellen Versicherten mit entsprechenden Diagnosen wohl kaum noch Massnahmen zusprechen.
Die Freiburger FDP-Ständerätin Johanna Gapany reichte im März 2022 dann noch das ganz offensichtlich von Avenir Suisse vorformulierte Postulat «Invalidenversicherung. Die Wiedereingliederung fördern» ein, in dem eben dieses Kostendach gefordert und ebenfalls auf den Vorstoss Suter Bezug genommen wird:
Mit dem Ziel, transparente Informationen über die Gründe für Arbeitsunfähigkeit zu erhalten und die geeigneten Wiederngliederungsmassnahmen zu ermitteln, ist landesweit eine Nomenklatur einzuführen, nach der die psychischen Krankheiten, die zu einer IV-Rente berechtigen, einheitlich bezeichnet werden (z. B. ICD-10-Nomenklatur).
Bei der Formulierung «psychischen Krankheiten, die zu einer IV-Rente berechtigen» dürften sämtliche BSV und IV-Jurist·innen mit den Augen rollen, da nicht die «Diagnosen» an sich, sondern die Auswirkungen der Krankheit auf die Erwerbsfähigkeit für eine Leistungszusprache relevant sind. Auch der Bundesrat fand insgesamt wenig Gefallen am Postulat von Gapany Avenir Suisse und empfahl es zur Ablehnung. Der Ständerat folgte dem Bundesrat jedoch nicht und nahm das Postulat im Juni 2022 an.
Sollten sich die Forderungen von Avenir Suisse tatsächlich irgendwann in der Praxis niederschlagen, ist zu hoffen, dass für die «Best Practices» zumindest die tatsächliche und nachhaltige Eingliederung mit einem mindestens existenzsicherndem Einkommen als Massstab genommen wird und nicht die eher primitive Definition von Avenir Suisse:
Die Wirkung einer beruflichen Massnahme lässt sich daran messen, ob ein Bezüger danach eine Rente erhält oder nicht.
Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.
Im Bericht wird in bestem Sozialarbeitersprech festgehalten:
Das zeigt klar, dass allein anhand der medizinischen Diagnose weder das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person noch die geeignetste Eingliederungsmassnahme bestimmbar sind. Jede versicherte Person verfügt über ein individuelles Potenzial und eigene Fähigkeiten.
Klingt ganz bezaubernd, aber Menschen die IV-Leistungen beziehen, sind nicht wegen ihres «Potentials», auf eben diese Leistungen angewiesen, sondern wegen erheblicher Defizite, die ihre Erwerbsfähigkeit einschränken. Die Aufgabe einer IV-Statistik (und darum dreht sich das Postulat schwerpunktmässig) liegt nicht darin, abzubilden, welche «Potentiale» die IV-Beziehenden haben.
Und was das BSV schliesslich als Hauptargument gegen eine differenzierte Codierung vorbringt, war gar nie die Absicht des Postulats Suter (aber halt von Avenir Suisse):
Ein Gebrechen (medizinische Diagnose) systematisch mit der zugesprochenen Leistung zu verknüpfen, ist widersprüchlich und gefährdet Ziel und Zweck der IV.
Im Postulat Suter wurde das nicht gefordert; dort geht es vielmehr um statistische und forscherische Belange, die für die Weiterentwicklung der IV sinnvoll wären:
Eine statistische Erfassung nach ICD würde Aufschluss über die effektiven Diagnosen, deren Anteil und deren historische Entwicklung geben. Dadurch wäre es möglich, frühzeitig auf Entwicklungen im Bereich der psychischen Erkrankungen zu reagieren oder auch auszuwerten, welche Eingliederungsmassnahmen bei welchen Diagnosen besonders wirkungsvoll sind.
Wohlwollend könnte man sagen, dass das BSV mit seiner Weigerung, die Codierung zu präzisieren, die Forderung der Avenir Suisse nach einer Verknüpfung von Diagnose/Codierung und Wiedereingliederungspotential mit dem ganz offensichtlichen Ziel der Kostenminimierung vereiteln möchte.
Allerdings ist es kein Geheimnis, dass Eingliederungsmassnahmen bei Versicherten mit psychischen Erkrankungen insgesamt nur in 25% der Fälle «erfolgreich» verlaufen (Quelle: «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten», BSV, 2018). IV-Stellen, die sich mit Kostenbewusstsein hervortun wollen, könn(t)en dies also schon heute tun, indem sie psychisch kranken Versicherten nur sehr selten Eingliederungsmassnahmen zusprechen (und sie natürlich gleichzeitig für «gesund» erklären).
Interpretiert man die Weigerung des Bundesamtes weniger wohlwollend, könnte man allerdings auch auf die Idee kommen, dass das BSV schlicht keine Lust hat, eine zeitgemässe Codierung zu erarbeiten. Oder dass im BSV ein paar ganz ganz grosse Märchenfans sitzen.
Wie im letzten Artikel aufgezeigt, hat das St. Galler Versicherungsgericht bei seiner stringenten Beweisführung («Gutachterinstitute, IV-Stellen und das BSV können nicht befangen sein, denn dann wäre ja das ganze System befangen und dafür gibt es keine Anhaltspunkte») die Rolle der Rechtsprechung komplett aussen vor gelassen. Der langjährige Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer hat in einem Interview kurz vor seiner Pensionierung Ende 2020 jedoch dargelegt, dass das Bundesgericht sich bei seinen Entscheiden nicht ausschliesslich der Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung, sondern offenbar auch der finanziellen Schieflage der IV verpflichtet gefühlt hat:
Meyer ist überzeugt: Indem das Bundesgericht verhindert habe, dass die IV finanziell aus dem Ruder laufe, habe es dazu beigetragen, einen wichtigen Pfeiler des Sozialstaats langfristig zu sichern.
Die Methode, mit der das Bundesgericht zwischen 2004 und 2014 immer weitere Krankheitsbilder von IV-Leistungen ausschloss, war so simpel wie effektiv: Kraft ihres Amtes erklärten die Bundesrichter·innen die betreffenden Krankheiten einfach als «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar.» Eine medizinisch-wissenschaftliche Evidenz (Grüsse an Herrn Gerber an dieser Stelle) gab es für diese steile These zwar nie, aber da die Beweislast im Sozialversicherungsrecht bei den Versicherten liegt, lag es an ihnen, das Gegenteil beweisen.
Nun, wie beweist man als einzelne/r Versicherte/r einer IV-Stelle, dass man entgegen der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtes seine Erkrankung auch beim besten Willen nicht überwinden kann? Tja, schwierig. Schlecht für die Versicherten, aber gut für die Finanzen der IV.
Der lange Schatten der Überwindbarkeitspraxis
Alt-Bundesrichter Meyer war auch persönlich an einem Urteil beteiligt, das den Grundstein dazu legte, dass Menschen, die heute infolge einer Covid-Erkrankung an langdauernden und schweren Erschöpfungszuständen (Fatigue bzw. ME/CFS) leiden, kaum eine Chance auf eine IV-Rente haben. Meyer und seine Kollegen befanden nämlich 2008 im Urteil I 70/07:
Neurasthenie und Chronic Fatigue Syndrome (chronisches Müdigkeitssyndrom) sind eindeutig den somatoformen Störungen zuzurechnen und gehören in den gleichen Syndromenkomplex wie Konversionsstörungen, Somatisierungsstörung, Schmerzstörung, Hypochondrie u.a.m.
Sekundiert wurden sie dabei vom BSV, dass in seiner Stellungnahme schrieb:
4.2 Das BSV analysiert die medizinischen Unterlagen dahingehend, dass für die fortgesetzte Müdigkeitsproblematik nach Ende 2002 keine organische Ursache ausgemacht werden könne. Die Verursachung der diagnostizierten Neurasthenie durch die Epstein-Barr-Virus-Infektion sei höchst unwahrscheinlich.
Nachdem die Herrn Bundesrichter sowie das Bundesamt für Sozialversicherungen (Aufsichtsfunktion, ja?) das häufig von einer Virusinfektion ausgelöste Chronic Fatigue Syndrom (Korrekt: ME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome) Kraft ihres Amtes in dieselbe Kategorie wie «Hypochondrie» eingeordnet hatten, wurde den davon Betroffenen seitens der IV jahrelang beschieden, dass ihre Beschwerden psychisch eingebildet und deshalb «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar wären».
Auch als 2015 die Überwindbarkeitsvermutung vom Bundesgericht aufgegeben und die Indikatoren-Rechtsprechung eingeführt wurde, besserte sich die versicherungsrechtliche Situation von ME/CFS-Betroffenen nicht wirklich. Aufgrund des Bundesgerichtsentscheides von 2008 gilt das von der WHO als neurologische Erkrankung (ICD-Code G93.3) klassifizierte Krankheitsbild bei der Schweizer IV nach wie vor als «psychiatrische Erkrankung».
Was sich nicht eindeutig beweisen lässt, ist für die IV «psychisch»
ME/CFS-Betroffene, die aufgrund ihrer schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen um IV-Leistungen ersuchen, finden sich standardmässig in einem geradezu kafkaesken Albtraum wieder. Denn weil es für ME/CFS (welches auch als Folge einer Covid-Erkrankung auftreten kann) noch keine eindeutigen Biomarker gibt (es gibt allerdings diverse Hinweise, dass gewisse Werte bei ME/CFS verändert sei können, bspw. spezifische Entzündungswerte), stellt sich die Schweizer Invalidenversicherung auf den Standpunkt, dass es sich um eine «psychische» Erkrankung handelt. Denn alles, was sich nicht eindeutig mit entsprechenden Laborwerten oder bildgebenden Verfahren beweisen lässt, ist für die IV «psychisch». Ausserdem hatten ja die Herren Bundesrichter anno 2008 schon gesagt, dass ME/CFS in die selbe Kategorie gehöre wie «Hypochondrie». Dass Frauen deutlich öfter von ME/CFS (und auch Long Covid) betroffen sind als Männer, stärkt die Hypochondrie-These noch. Frauen sind aufgrund ihres sich von Männern unterscheidenden Immunsystems allerdings ganz generell deutlich häufiger von entzündlichen Autoimmunerkrankungen (wie beispielsweise Multiple Sklerose) betroffen, aber wenn die Herren Bundesrichter in ihrer unendlichen Weisheit sagten, es sei «psychisch», dann ist es natürlich psychisch.
Aber… die Indikatoren?
Die Indikatoren wurden (angeblich) geschaffen, damit bei Versicherten mit psychosomatischen Krankheitsbildern die konkreten Funktionseinschränkungen genauer bestimmt werden können. Effektiv werden die Indikatoren aber eher als eine Art Simulantentest benutzt, der mittlerweile bei allem psychischen Erkrankungen zum Einsatz kommt («Der Depressive geht mit dem Hund spazieren? Tja, so krank kann der wohl dann nicht sein»). Bei Versicherten mit ME/CFS, die im Alltag stark eingeschränkt, ja teil sogar bettlägerig sind, könnten die Indikatoren wichtige Hinweise liefern, dass sie, nun ja, tatsächlich sehr eingeschränkt sind. Die Krux ist nun aber die, dass das Indikatorenverfahren von der IV erst eingeleitet wird, wenn eine fachärztlich festgestellte psychiatrische Diagnose von genügender «Schwere» vorliegt. Wie soll nun ein/e Psychiater·in eine psychische Krankheit (F-Diagnose) diagnostizieren, wenn gar keine psychische Krankheit vorliegt? Nun; er oder sie wird wohl keine psychische Krankheit diagnostizieren. Sprich, die Person ist psychisch «gesund». Körperlich gilt die Person ebenfalls als «gesund», denn sie kann ja keine eindeutigen Laborbefunde vorlegen. Aus Sicht der IV ist die Person damit «rundum gesund» und der Fall wird abgeschlossen.
Sie sehen das Problem, ja? Nun, bei der IV und im Bundesamt für Sozialversicherungen sieht man es nicht. Oder will es partout nicht sehen.
Wie absurd sich die IV-Verfahren bei ME/CFS deshalb mitunter gestalten, werde ich im nächsten Beitrag anhand einiger realer Beispiele aufzeigen.
In diesem letzten Beitrag der Artikelserie zum Thema «psychische Erkrankung und Arbeit» möchte ich noch den finanziellen Aspekt von Arbeit für Menschen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit beleuchten. Zwar wird in politischen Diskussionen über Sozialleistungen stets betont, «dass Arbeit sich lohnen müsse», doch dabei geht es kaum je darum, inwiefern sich Arbeit aus der Perspektive der Betroffenen tatsächlich lohnt. Politiker·innen benutzen den Slogan vielmehr regelmässig als Argument, um die jeweiligen Sozialleistungen zu kürzen. Auch (unbehinderte) Mitarbeitende von Sozialunternehmen reagieren häufig verschnupft, wenn man sie damit konfrontiert, dass sich die Arbeit für die beeinträchtigten Mitarbeitenden in ihrer Institution finanziell häufig kaum lohnt. Dies zum einen, weil die Löhne in geschützten Arbeitsumgebungen oft sehr tief sind und zum anderen, weil sich auch verhältnismässig tiefe Löhne auf die IV-Rente und die Ergänzungsleistungen auswirken können. Rasch wird dann verteidigend ins Feld geführt, dass es bei der Arbeit «doch nicht nur ums Geld gehe», soziale Aspekte seien schliesslich auch wichtig und zudem hätten die Betroffenen dadurch einen strukturierten Tagesablauf. Genau. Deshalb beziehen ja auch alle nichtbehinderten Mitarbeitenden eines Sozialunternehmens einen Lohn auf Sozialhilfeniveau, weil es bei der Arbeit doch vor allem darum geht «sozial eingebunden» zu sein und eine Tagesstruktur zu haben. (Falls es nicht klar ist; das war ironisch gemeint).
«Arbeiten Sie doch einfach mal!»
Für den Leitfaden «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» habe ich im Vorfeld (u.a. in Workshops mit Betroffenen) abgeklärt, welche Themen für Menschen mit einer psychischen Erkrankung im Zusammenhang mit dem Thema «Arbeit» besonders relevant sind. Bei denjenigen Personen, die bereits eine IV-Rente beziehen, war dies u.a. die Frage: «Wie viel kann/darf ich neben der IV-Rente verdienen?». Diese Fragestellung ist auch laut Mitarbeitenden von Behindertenorganisationen und IV-Stellen in ihrem Arbeitsalltag sehr präsent. In komplettem Gegensatz dazu steht die Bereitschaft der IV-Stellen, die Frage zu beantworten. So schreibt beispielsweise die IV-Stelle Schaffhausen auf ihrer FAQ-Seite folgendes:
Wieviel kann ich arbeiten bzw. verdienen, damit meine IV-Rente nicht gekürzt wird? Die IV erbringt ihre Leistungen nach dem Prinzip „Eingliederung vor Rente“. Ihr erstes Ziel ist also, den Versicherten zu helfen, ein möglichst selbständiges berufliches und gesellschaftliches Leben zu führen. Die Renten sind deshalb dazu da, den Teil des Einkommens zu ergänzen, der aufgrund einer Beeinträchtigung nicht selbst erarbeitet werden kann. Wenn Sie also in der glücklichen Lage sind, ein höheres Einkommen zu erzielen, sollten Sie das nutzen, auch wenn die Rentenleistungen der IV unter Umständen zurückgehen. Damit leisten Sie einen wesentlichen Beitrag dazu, die Idee der IV – nämlich die Hilfe zur Selbsthilfe – zu verwirklichen.
Da denkt sich jede/r IV-Bezüger·in natürlich sofort: «Oh ja klar, ich fang doch einfach mal an zu arbeiten, ohne zu wissen, wie sich das auf meine persönliche finanzielle Situation auswirkt, weil das entspricht ja der IDEE DER IV…» Das ist natürlich kompletter Quatsch. Gerade Versicherte mit schwankenden Krankheitsverläufen wollen vorher genau wissen, worauf sie sich finanziell einlassen. Ihnen diese Informationen mit moralisch erhobenem Zeigefinger vorzuenthalten, ist zum einen sehr paternalistisch und nützt zudem auch nichts, weil Betroffene sich die Informationen einfach anderswo holen (beispielsweise bei einer Behindertenorganisation).
Da die individuellen Berechnungen sehr komplex sein können, lassen sich in einem Leitfaden nur allgemeine Hinweise dazu geben. Ich fragte deshalb bei der IV-Stellenkonferenz und beim Bundesamt für Sozialversicherungen, ob das BSV oder die IV-Stellen nicht einen entsprechenden IV/EL/PK/Steuer-Rechner online stellen könnte/n. Die Antworten waren ähnlich unergiebig wie auf der Webseite der IV-Stelle Schaffhausen. Oder kurz: Es liegt nicht im Interesse der Invalidenversicherung, dass IV-Beziehende sich entsprechend informieren können. Im Interesse der Betroffenen liegt es natürlich sehr wohl, im Voraus zu wissen, worauf sie sich einlassen, um sich entsprechend vorbereiten und entscheiden zu können (Stichwort: Informed Decision-Making).
Höheres Einkommen = tiefere Sozialleistungen
Beda Meier, Direktor des Sozialunternehmens Valida in St. Gallen, sagte kürzlich in einem Interview:
Zurück zum ergänzenden Arbeitsmarkt: Die Behindertenorganisationen kritisieren die tiefen Löhne, die geringen Aufstiegschancen und die fehlenden Wahlmöglichkeiten. Was entgegnen Sie? Was die tiefen Löhne betrifft: Mitarbeitende mit Unterstützungsbedarf können keinen existenzsichernden Lohn erzielen. Das ist unschön, aber es ist so. Sie sind deshalb auf eine IV-Rente angewiesen. Wir machen in der Valida konkret die Erfahrung, dass unsere Mitarbeitenden einen Lohn für eine bestimmte Leistung wollen und nicht eine Rente. Wir zahlen aktuell einen Durchschnittslohn von rund 1100* Franken. Maximal sind 2800 Franken möglich. Diese Lohnhöhe kann aber zu einer Kürzung der Rente führen, wodurch die Mitarbeitenden am Ende des Tages wieder gleich viel Geld im Sack haben wie alle anderen auch, die nicht arbeiten. In aller Regel fallen bei hohen Löhnen für Arbeitnehmende mit IV als Erstes die EL weg. Das heisst, dass die Löhne des sozialen Unternehmens nicht den Arbeitnehmenden mit IV zu gute kommen, sondern die EL-Rechnung des Kantons entlasten.
*Zu beachten: 1100 Franken beträgt der Durchschnittslohn, nicht der Mindestlohn.
Meiers Aussagen treffen natürlich nicht nur auf Einkünfte zu, die in Sozialunternehmen erwirtschaftet werden, sondern genau so auf Einkommen, das IV-Beziehende im ersten Arbeitsmarkt verdienen. Gar nicht so selten lohnt sich «Arbeiten» für die Betroffenen nur sehr bedingt und unter gewissen Umständen kann es sogar sein, dass sie mit «Arbeiten» weniger Geld zur Verfügung haben als ohne. Speziell jene 50% der IV-Beziehenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, entlasten durch ihre Arbeit wie oben erwähnt vielmehr die Kantone, als dass sie dadurch nennenswerten finanziellen Spielraum dazu gewinnen würden.
Da Ergänzungsleistungen anders als IV-Renten keine Versicherungs- sondern Bedarfsleistungen sind, wird erzieltes Einkommen, das 1000.- pro Jahr übersteigt, zu zwei Dritteln mit den Ergänzungsleistungen verrechnet. Ich hatte anhand des fiktiven Herr K. einmal ausgerechnet, dass EL-Bezüger·innen nach Abzug der Steuern (EL sind steuerfrei, Einkommen nicht), nur noch wenig Geld von ihrem «Einkommen» übrig bleibt. Diese Zahlen variieren je nach persönlicher Situation und Wohnort, doch das Problem bei den EL ist vor allem: Wer nicht «genug» gesund ist/wird, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, hat praktisch keine Chance, aus dem EL-System herauszukommen. Das bedeutet, dass Betroffene trotz Arbeit und einem gewissen eigenen Einkommen einem sehr bevormundenden System ausgeliefert bleiben, das ihnen (ganz speziell nach der letzten EL-Reform) kaum Raum für finanzielle Selbstbestimmung lässt. Sie dürfen aufgrund der neu eingeführten Lebensführungskontrolle beispielsweise nicht einmal mehr selbst darüber entscheiden, wie und wofür sie ihr eigenes Erspartes/Vermögen ausgeben. Der Grad an finanzieller Selbstbestimmung ist aber durchaus auch ein Aspekt bei der Frage, inwiefern sich «Arbeit» für teilleistungsfähige Menschen lohnt.
Die Perspektive der Betroffenen spielt keine Rolle
Wenn Politiker·innen lautstark «Arbeit muss sich lohnen» fordern, haben sie kaum je die komplexe Realität teilleistungsfähiger Menschen vor den inneren Auge. Vielmehr gehen sie von einem völlig wirklichkeitsfremden und von Betrugsvorstellungen geprägten Schwarzweissbild aus, wonach Betroffene sich quasi frei entscheiden (können), entweder zu 100% erwerbsunfähig/invalid zu sein oder aber ein existenzsicherndes Einkommen erzielen zu können. Entsprechend werden die «Anreize» so gestaltet, dass es sich nicht lohnen sollte, «überhaupt» Sozialleistungen zu beziehen.
In der Realität ist es aber so, dass 75% der IV-Beziehenden eine volle IV-Rente beziehen, das heisst, sie haben einen IV-Grad zwischen 70 und 100% und sind dementsprechend in ihrer Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Diese Versicherten «müssen» tatsächlich nicht arbeiten, es steht ihnen völlig frei, ihre Restarbeitsfähigkeit zu nutzen – oder eben auch nicht. Hier geht es bei einer Arbeitsaufnahme meist nicht darum, dass dadurch die IV-Rente aufgehoben werden kann. Die IV-Rente wird allerhöchstens reduziert und häufig ändert sich daran gar nichts, sondern «nur» an der Höhe der Ergänzungsleistungen. Solche Fälle sind aus Sicht der IV finanziell nicht interessant, da es sich bei den EL um ein «anderes Kässeli» handelt. Besonders «pfiffige» IV-Stellen versuchen allerdings zuweilen, Versicherten aus einer Arbeitsaufahme einen Strick zu drehen, indem sie behaupten, die Betroffenen könnten durchaus noch deutlich mehr (sprich: rentenreduktionsrelevant) arbeiten. Der Ratschlag der IV-Stellen (siehe weiter oben), «einfach mal zu arbeiten» wirkt in diesem Hinblick noch zynischer.
Es gefällt den IV-Stellen natürlich nicht, wenn IV-Beziehende die finanziellen Auswirkungen einer Arbeitsaufnahme vorher abklären lassen und dann entsprechende «Optimierungen» vornehmen, indem sie beispielsweise mit ihrem Arbeitgeber bewusst (erstmal) einen etwas tieferen Lohn vereinbaren, um die IV-Rente nicht zu gefährden. Für Betroffene mit schwankenden Krankheitsverläufen können solche «Sicherheiten» aber entscheidend sein, um überhaupt wieder den Schritt in die Arbeitswelt zu wagen. Anders als gesunde Arbeitnehmer·innen können sie nämlich bei einem Jobverlust nicht einfach «irgendeine» Stelle annehmen, sondern sind auf sehr spezifische Bedingungen (u.a. Verständnis und Rücksichtnahme seitens des Arbeitgebers) angewiesen. Da die IV aber aktuell (und bis mindestens 2025) immer noch von einem «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» ausgeht, auf dem auch Menschen mit gesundheitlich bedingten Leistungseinschränkungen problemlos (wieder) eine passende (Teilzeit)Stelle finden, ist es nur verständlich, wenn IV-Beziehende sich beim Einstieg ins Arbeitsleben äusserst vorsichtig verhalten. Ist die Rente erstmal gekürzt, ist es entgegen anders lautender Verlautbarungen nicht so einfach, wieder eine Erhöhung zu erwirken.
Ob sich eine Arbeitsaufnahme/ausweitung längerfristig «lohnt», ist für Menschen mit einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit also eine durchaus komplexe Fragestellung, bei der verschiedene finanzielle Aspekte sowie diverse weitere Gründe (z.B. gesundheitliche Stabilität usw.) einbezogen werden müssen. Problematisch ist, dass die gesetzlichen Voraussetzungen rund um die Invalidenversicherung und Ergänzungsleistungen von nichtbehinderten Politiker·innen gestaltet werden, die sich nicht oder kaum mit der Perspektive und Lebensrealität von Menschen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit auseinandersetzen. Stattdessen gehen sie aus ihrer (gesunden) Perspektive von Annahmen aus, die immer mit einer ordentlichen Portion Unwissen, Misstrauen und Bevormundung gewürzt sind.
Würde effektiv aus der Perspektive von Betroffene gedacht, wären beispielsweise Einkommen und bedarfsorientierte Sozialleistungen schon lange gleichermassen besteuert (Selbstverständlich bei gleichzeitiger Steuerbefreiung des Existenzminimums). Darüber wurde im Parlament vor einigen Jahren schon ausgiebig diskutiert, und man war sich auch grösstenteils einig, dass diese falschen Anreize behoben werden müssten. Aus «unerklärlichen Gründen» ist dann doch nichts draus geworden. Das ist superpraktisch für die «Arbeit muss sich lohnen»-Politiker·innen, denn dadurch können sie bis zum St. Nimmerleinstag weitere Kürzungen bei Sozialleistungen fordern, da Arbeit sich für die Betroffenen nie wirklich «lohnt», solange der gleiche Betrag aus Sozialtransfers steuerfrei ist.
Als ich für den Leitfaden «Arbeiten mit psychischer Erkrankung» abklärte, welche kantonalen Eingliederungsangebote es gibt (damit sich Betroffene selbst darüber informieren können), stiess ich bei einigen Anbietern auf eine gewisse Verwunderung: Warum ich die denn im Leitfaden auflisten wollte – die Betroffenen könnten doch sowieso nicht auswählen, die würden ihnen (also der Institution) von der IV zugewiesen? Das ist nun schon eine kleine Weile her und unterdessen wurde die Webseite meinplatz.ch aufgeschaltet und listet für aktuell elf Kantone Angebote im Bereich «Wohnen», «Arbeiten» und «Tagesstruktur» auf. Auf der Seite ist zu lesen:
Ganz im Sinne der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) und Inklusion setzen sich die kantonalen Ämter zusammen mit INSOS Zürich dafür ein, dass Menschen mit Behinderung:
freien Zugang zu Informationen haben
eine Übersicht über die Vielfalt der Angebote erhalten
selbstbestimmt ihr Leben gestalten können und eine Wahlfreiheit haben
Das klingt schon mal gut…
Unterschiedliche Erwartungen oder: Wer zahlt, befiehlt
Der/die Kandidat/in beschreibt, wie er/sie ein Eingliederungsprojekt mit einem/einer Teilnehmer/in in Gang setzt. Er/sie beschreibt, wie er/sie den Auftrag klärt, um die Handlungsspielräume zu definieren, innerhalb derer das Projekt durchgeführt werden kann. Er/sie beschreibt die Erwartungen der Zuweisenden (IV-Berater/in, RAV, Sozialdienste) und wie er/sie diese Erwartungen erfüllt.
Vor lauter Gendern wurde ganz vergessen, dass der/die Kandidat/in vielleicht nicht nur nach den Erwartungen des Zuweisers, sondern auch nach denjenigen der Klientin fragen und erläutern sollte, wie diese erfüllt werden. Aber in einem System, wo Versicherte «zugewiesen» werden, gilt es natürlich vornehmlich die Erwartungen der Zuweiser zu erspüren und zu erfüllen. Schliesslich möchte man als Job Coach / Institution weiterhin Klient·innen zugewiesen bekommen. Die Erwartung der IV an eine «erfolgreiche» Eingliederung ist allerdings nicht, dass der/die Klient·in ein existenzsicherndes Einkommen erzielen kann, sondern vor allem, dass er oder sie danach keine IV-Rente bezieht:
Die Wirkung einer beruflichen Massnahme lässt sich daran messen, ob ein Bezüger danach eine Rente erhält oder nicht.
Die Erwartung der Klient·innen hingegen ist natürlich eine andere: Eine Eingliederung ist erfolgreich, wenn sie längerfristig ein existenzischerndes Einkommen erzielen können. Und falls dies nicht möglich ist, eine IV-Rente zugesprochen wird. Der dritte (gar nicht so seltene) Fall: «Keine erfolgreiche Eingliederung und auch keine Rente» entspricht wohl kaum je den Erwartungen der Versicherten. Doch deren Erwartungen spielen bei der Eingliederung keine Rolle. Wo kämen wir denn da hin, wenn Versicherte darauf zählen könnten, dass sie nach dem Scheitern einer Eingliederungsmassnahme finanziell abgesichert sind? Die würden sich ja gar keine Mühe mehr geben! Die wollen doch alle gar nicht arbeiten, die wollen bloss eine Rente! So jedenfalls die Annahme, die viele rechts-bürgerliche Politiker·innen in den letzten Jahren immer vehementer vertraten und die als Grundstimmung in die IV-Gesetzgebung eingeflossen ist. Siehe auch: «Traumberuf IV-Rentner?»
Subjektorientiertes Coaching und neue Arbeitsformen
Entgegen der Vorstellung von vielen Politiker·innen wollen die meisten Menschen arbeiten. Denn «Arbeiten» ermöglicht es, sich mit seinen Fähigkeiten einzubringen, soziale Kontakte zu pflegen, finanzielle Selbstbestimmung usw. usf. Ein Status als IV-Bezüger·in ist hingegen nicht sonderlich attraktiv. Was die Damen und Herren Gesetzgebenden nämlich oft vergessen ist; wer mit der IV in Kontakt tritt treten muss, hat erhebliche gesundheitliche Probleme. Und schwere gesundheitliche Probleme zu haben, ist alles andere als «attraktiv». Mit einer psychischen Erkrankung leben zu müssen, ist oft sehr mühsam, anstrengend und frustrierend. Trotz und mit einer schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, ist äusserst schwierig. Entgegen gängigen Vorstellungen ist es nicht damit getan, dass Betroffene einfach gut «trainiert» und dann bis zur Pensionierung in irgendeine «Nische» versorgt werden (können). Zumindest dann nicht, wenn es um es sich um eine Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt handelt. Denn der ist äusserst dynamisch: Aufgaben, Anforderungen, Teams und Vorgesetzte können heutzutage schnell wechseln, was bei Mitarbeitenden, die psychisch nicht so stabil, flexibel und belastbar sind, dazu führen kann, dass sie an einem Arbeitsplatz, an dem sie vorher gut «funktionieren» konnten, eben plötzlich nicht mehr funktionieren.
Die Aufgabe von «Integrationsspezalisten» aller Art besteht also nicht (alleine) darin, einen «passenden» Arbeitsplatz für ihre Klient·innen zu finden, vielmehr sollten sie Betroffene ganz grundsätzlich befähigen, trotz/mit psychischer Erkrankung im ersten Arbeitsmarkt bestehen zu können. Auch wenn in Eingliederungsbusiness gerne betont wird, dass man auf die «Stärken» der Klientin·innen fokussiere, besteht für die Betroffenen eine ganz zentrale Frage darin, wie sie im Arbeitsumfeld mit ihren krankheitsbedingten Schwierigkeiten und «Defiziten» umgehen sollen. Deshalb ist es wichtig, folgende Dinge zu klären:
Welche Fähigkeiten können trainiert werden – und welche nicht?
Welche Problematiken lassen sich evtl. durch Therapie/Medikamente verbessern?
Welche Defizite können durch geeignete Arbeitsplatzanpassungen ausgeglichen werden?
Und welche Einschränkungen müssen sowohl von der betroffenen Person als auch vom Arbeitgeber einfach akzeptiert werden?
Dass jemand mit einer psychischen Erkrankung lernt, seine Fähigkeiten wie auch die Defizite selbst realistisch einzuschätzen und diese auch klar kommunizieren kann, ist bei einer Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt sehr wichtig. Arbeitgeber wollen wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn Betroffene krankheitsbedingte Anpassungen am Arbeitsplatz benötigen, muss der Arbeitgeber deren Sinn und Zweck nachvollziehen können. Denn bei psychisch beeinträchtigten Personen besteht immer noch oft das Vorurteil, dass sie einfach faul/bequem seien und wenn sie sich etwas mehr anstrengen würden, bräuchten sie auch keine Extrawurst. Doch bei den Anpassungen geht es nicht um eine «Extrawurst», sondern darum, dass Betroffene möglichst gut arbeiten können. Wenn sich jemand z.B. krankheitsbedingt nur eine beschränkte Zeit lang konzentrieren kann, lässt sich das nicht nicht mit «mehr Anstrengung» lösen, sondern indem die Arbeitsaufgaben entsprechend der Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf angepasst werden.
Um das Vorurteil zu entkräften, dass Anpassungen von Betroffenen nur aus «Bequemlichkeit» eingefordert werden, kann es hilfreich sein, wenn ein Job Coach oder die behandelnde Therapeutin in einem Gespräch mit der Arbeitgeber genau darlegt, warum gewisse Anpassungen krankheitsbedingt sinnvoll sind. Doch nicht alle Betroffenen mögen von einer Job-Nanny sichtbar begleitet werden. Wer längerfristig mit/trotz psychischer Beeinträchtigung in einem anspruchsvollen beruflichen Umfeld im ersten Arbeitsmarkt bestehen möchte, muss befähigt werden, seine Bedürfnisse im Arbeitsalltag selbst wahrnehmen, kommunizieren und durchsetzen zu können. Dabei müssen selbstverständlich auch die Bedürfnisse des Arbeitgebers anerkannt werden. Gewisse Anpassungen sind betriebsbedingt schlicht nicht möglich. Die Pandemie halt allerdings gezeigt, dass beispielsweise die Arbeit im Homeoffice gar nicht so unmöglich ist, wie gewisse Arbeitgeber vorher gerne behaupteten. Hier bieten sich Chancen für Menschen, die krankheitsbedingt nicht immer im Büro arbeiten können.
Homeoffice: Ja, aber…
Sogar das Bundesgericht hat im Urteil 9C_15/2020 festgehalten:
Die IV-Stelle weist zu Recht darauf hin, dass der (theoretisch) ausgeglichene Arbeitsmarkt, der hier massgeblich ist (vgl. E. 6.1), – gerade – im kaufmännischen Bereich diverse Arbeitsstellen vor sieht, welche grossmehrheitlich auch von zu Hause aus ausgeführt werden können, da sie nicht an einen bestimmten Arbeitsort gebunden sind. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit der attestierten 80%igen Arbeitsfähigkeit ist demzufolge zu bejahen.
Im Urteil 9C_426/2020 hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung allerdings folgendermassen präzisiert:
Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen besteht die medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit von 50 % für kaufmännische Tätigkeiten in Heimarbeit und ohne Zeit- und Leistungsdruck. Wie das Bundesgericht unlängst entschieden hat, weist der hier massgebliche (theoretische) ausgeglichene Arbeitsmarkt diverse Arbeitsstellen für kaufmännische Angestellte auf, welche grossmehrheitlich von zu Hause aus ausgeführt werden können (vgl. Urteil 9C_15/2020 vom 10. Dezember 2020 E. 6.2.3). Auf dieses Urteil ist jedoch nicht weiter einzugehen, ist die Beschwerdeführerin vorliegend doch auf jeden Fall nicht in der Lage, auch nur sporadisch den Betrieb ihres Arbeitgebers auszusuchen. Damit ist es ihr auch kaum möglich, an einem Vorstellungsgespräch teilzunehmen, womit das Finden einer neuen Stelle stark erschwert wird. Da ihr zudem gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen eine Mobilität auch im näheren Radius zu ihrer Wohnung unzumutbar ist, könnte für das Bringen und Holen von Arbeitsunterlagen auch nicht ohne Weiteres auf die Dienste der Post oder anderer Kurierdienste zurückgegriffen werden. Im Weiteren wäre sie selbst bei einer Tätigkeit zu Hause auf einen sehr wohlwollenden Arbeitgeber angewiesen und es dürfte in dieser Tätigkeit keinerlei Leistungsdruck bestehen. Insgesamt erscheint damit das Entgegenkommen, welches ihr von einem Arbeitgeber entgegengebracht werden müsste, als so erheblich, dass das Finden einer entsprechenden Stelle im jetzigen Zeitpunkt (vgl. allerdings im Hinblick auf spätere Beurteilungen auch die Schadenminderungspflicht gemäss Art. 7 IVG) zum Vornherein als unrealistisch erscheint.
Man möchte lieber nicht wissen, was mit der Rechtsprechung passiert, wenn die Bunderichter·innen erfahren, dass Arbeitsunterlagen heutzutage hauptächlich per E-Mail verschickt und Bewerbunggespräche über Zoom durchgeführt werden können. Denn eine ausschliessliche Tätigkeit im Homeoffice ist noch aus anderen Gründen nicht immer umsetzbar. Die meisten Betriebe funktionieren (zumindest wenn nicht gerade Pandemie ist) nicht ausschliesslich virtuell. Es gibt reale Sitzungen, Schulungen u.s.w. und in Pausengesprächen werden informelle Informationen ausgestauscht, die Mitarbeitende nicht mitbekommen, die nur im Homeoffice arbeiten. Dieses Nichteeingebundensein kann bei gewissen psychischen Krankheitsbildern (und übrigens auch für manche soweit «gesunde» Menschen) problematisch sein. Bei anderen Betroffenen hingegen eröffnen sich durch eine (teilweise) Tätigkeit im Homeoffice erst berufliche Möglichkeiten, die sie sonst krankheitsbedingt nicht hätten. Bei dieser Personengruppe muss gefragt werden, ob es wirklich sinnvoll ist, sie in Eingliederungsprogramme zu stecken, bei denen vor allem die tägliche Präsenzpflicht eingeübt und erweitert werden soll, obwohl dies krankheitsbedingt wenig erfolversprechend ist. Oder ob es nicht zielführender wäre, ihnen in einem Coaching die Skills beizubringen, die sie benötigen, um trotz/mit psychischer Beeinträchtigung im Homeoffice arbeiten zu können.
Individuelle Unterstützung innerhalb starrer Strukturen?
Es ist natürlich unrealistisch, wenn davon ausgegangen wird, dass heutzutage jede/r von zu Hause aus z.B. als Programmierer arbeiten oder sich gar als Influencerin oder mit einem Webshop selbständig machen und damit ein existenzsicherndes Einkommen generieren kann. Für die meisten Menschen mit einer schwerwiegenden Erkrankung/Behinderung ist das nicht möglich. Einzelnen Betroffenen mit entprechenden Fähigkeiten und einem guten Krankheitsmangement bietet die Digtialisierung allerdings tatsächlich gewisse berufliche Möglichkeiten, die sie im traditionellen Arbeitsmarkt aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung schlicht nicht haben. Solche Menschen sind in einem System, wo einzugliedernde Personen von der IV einer Institution «zugewiesen werden» aber schlicht nicht vorgesehen. Entsprechend gibt es auch keine Unterstützungsangebote, die ihnen Krankheits- und Selbstmanagement oder andere in ihrer spezifischen Situation wichtige Skills vermitteln. Denn das bestehende Unterstützungsystem geht nicht von den Bedürfnissen der Betroffenen, sondern von den Angeboten und Bedürfnissen der Institutionen aus.
In der Schweiz zeichnet sich ein dringend notwendiger Paradigmenwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ab. Dabei bezahlen die Behörden Betreuungsgelder nicht an Institutionen (Objekte), sondern direkt an Betroffene (Subjekte).
Leider handelt es sich dabei nicht um den Themenbereich Eingliederung/Arbeit, sondern es geht um das Thema Wohnen. Dazu Beda Meier, Direktor des Sozialunternehmens Valida in St. Gallen:
(…) Aktuell werden quer durch die Schweiz die kantonalen Behindertengesetze über arbeitet. Bei all diesen Revisionen geht es aber vor allem um den Wohnbereich. Mittels neuer Finanzierungsmodelle sollen Menschen mit Unterstützungsbedarf frei entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen möchten. Das ist zweifellos eine wichtige Forderung. Die Frage von Chancen und Rechten im Bereich Arbeit und Tagesstrukturen wird in der Schweiz aber im Moment nicht diskutiert.
Was fordern Sie konkret? Es gibt heute für alle Dienstleistungen an der Nahtstelle zwischen dem offenen und dem ergänzenden Arbeitsmarkt keine Finanzierungen. Die Kantone sehen sich einzig zuständig für den sogenannt stationären Bereich. Wir erhalten also nur Gelder für unsere Plätze in den Werkstätten, aber keine Finanzierung, um teilleistungsfähige Mitarbeitende in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten und sie selbst sowie das Arbeitsumfeld dort zu unterstützen. Auf Bundesebene finanziert die IV einige ambulante Dienstleistungen, aber noch zu wenig.
Sie kritisieren die strikte Aufteilung in stationäre und ambulante Dienstleistungen? Wir müssen wegkommen von der Vorstellung stationär versus ambulant. Finanziert werden müssen massgeschneiderte Dienstleistungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die einen Beitrag leisten zur Chancengleichheit. An der Nahtstelle zwischen ergänzendem und erstem Arbeitsmarkt beispielsweise müssten Dienstleistungen finanziert werden, welche eine gute Durchlässigkeit unterstützen.
So wie die Finanzierung jetzt läuft, können Sozialunternehmen eigentlich gar kein Interesse daran haben, ihre Mitarbeitenden in den offenen Arbeitsmarkt zu begleiten? Das ist richtig. Wenn einer unserer Mitarbeitenden den Übertritt schafft, verlieren wir Geld. Und dennoch setzen wir alles daran, Mitarbeitende beim Übertritt zu unterstützen, obwohl wir, wie gesagt, dafür keine Finanzierung erhalten. Aufgrund dieser Situation sind wir gefordert, jedes Jahr deutlich schwarze Zahlen zu schreiben und Reserven aufzubauen, damit wir Vakanzen überbrücken können.
Das Verzwickte daran ist: Ein Sozialunternehmen schreibt hauptsächlich schwarze Zahlen, indem es den beeinträchtigten Mitarbeitenden möglichst tiefe Löhne zahlt und gleichzeitig versucht, die leistungsstärksten Mitarbeitenden im Betrieb zu halten und sie eben gerade nicht in den ersten Arbeitsmarkt begleitet. Kurz: So wie das System momentan ausgestaltet ist, können die Interessen der Betroffenen gar keine relevante Rolle spielen. Damit sich dies ändert, ist auch im Bereich der Eingliederung ein Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung dringend angezeigt.
Eigentlich ist es ganz einfach: Wer permanent beweisen muss, dass er krank ist, kann nicht gesunden. Wer sich verstecken und selbst beschneiden muss, kann sich persönlich und beruflich nicht weiter entwickeln und entfalten. Beides (gesünder werden und beruflicher Fortschritt) wäre an sich gesellschaftlich erwünscht, aber eben doch nicht zu sehr, denn Betroffenen wird ein schier unmöglicher Spagat abverlangt:
Letztlich müssen die betroffenen Personen im Rahmen ihrer Identitätsarbeit einen Mittelweg finden. Sie müssen sich als angemessen «behindert» darstellen, um den Erwartungen der IV-Stellen gerecht zu werden und in der Öffentlichkeit nicht als «Schmarotzer» wahrgenommen zu werden. Zugleich dürfen sie als nicht zu beeinträchtigt erscheinen, damit sie in sozialen Interaktionen am Arbeitsplatz und darüber hinaus als «normal» wahrgenommen und adressiert werden.
Diesem künstlichen Bild von «genügend krank», aber an anderer Stelle dann doch wieder nicht «zu krank» zu entsprechen, wird besonders von Menschen mit einer unsichtbaren/psychischen Erkrankung erwartet. Es ist eine komplett sinnlose Ressourcenverschwendung, deren einziger Zweck darin besteht, dass «Gesunde» sich nicht mit der komplexen und teils auch widersprüchlichen Realität von psychischer Krankheit auseinandersetzen müssen. Es verunmöglicht auch eine ganz zentrale Aufgabe, die Menschen mit einer chronischen psychischen Beeinträchtigung bewältigen müssen: ihre aufgrund der Erkrankung veränderte Leistungsfähigkeit zu akzeptieren und gegebenenfalls trotz und mit der Erkrankung einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Was sie können und was sie nicht (mehr) können, ist dabei sehr individuell und ganz sicher nicht deckungleich mit der Vorstellung von Hansli Müller, wie eine «richtige» psychische Krankheit auszusehen habe.
Oftmals übernehmen Betroffene jedoch die – von Gesunden – entworfene Vorstellung von Rehabilitation, welche auf der primitiven Vorstellung eines kaputten Autos basiert, das in der (geschützten) Werkstatt wieder repariert und/oder wie ein bockiges Rennpferd trainiert wird und dann wieder tadellos läuft. Zwar können durch Training, Therapie, Medikamente usw. durchaus gewisse Verbesserungen erzielt werden, wenn aber die bisherige Integrationspraxis tatsächlich so hervorragend funktionieren würde, würden bei psychisch kranken Versicherten nicht 75% der IV-Eingliederungsmassnahmen fehlschlagen. Natürlich hätten Arbeitgeber gerne vollkommen gesunde Mitarbeitende, die tadellos funktionieren. Auch die Betroffenen selbst würden sehr gerne (wieder) tadellos funktionieren. Aber die Realität sieht halt leider oft anders aus.
An einer nicht existierenden Vorstellung von «Realität» festzuhalten, bindet nicht nur Energie der Betroffenen, es erfordert auch enorm aufwendige Abklärungs-/Gutachten- und Gerichtsverfahren, wo es bei unsichtbar/psychisch kranken Versicherten in teils wirklich absurder Weise oft nur noch darum geht, die kleinsten Anzeichen von Ressourcen ausfindig zu machen, um damit alle krankheitsbedingten Einschränkungen als «unglaubwürdig» abtun zu können. Die IV-Stelle St. Gallen sucht aktuell beispielsweise einen Arzt oder eine Ärztin «mit kriminalistischen Flair» [sic!], der oder die im Vollzeitpensum ausschliesslich «Verdachtsfälle auf nicht zielkonforme Leistungen» abklären soll. Zum Aufgabenbereich gehört unter anderem das «Sichten und beurteilen von Ermittlungsergebnissen (Observationsbeweise oder Erkenntnisse aus Open-Source-Quellen)». Mit den «Open-Source-Quellen» wären wir dann wieder beim bereits früher angesprochenen Thema, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in der Öffentlichkeit und auch im Internet komplett unsichtbar sein müssen. Nachdem ich das Inserat entdeckt hatte, twitterte ich dazu:
Paranoider als ihre Klient·innen: IV-Stelle St. Gallen sucht Mediziner·in mit «kriminalistischem Flair», die/der im Vollzeitpensum für die Abklärung von «Missbrauchsverdachtsfällen» zuständig ist. Wie biased wird man, wenn man als Ärzt·in ausschliesslich «Verdachtsfälle» abklärt? pic.twitter.com/ZlztKLhpQh
Ein Stelleninserat der SVA St. Gallen sorgt auf Social Media für Diskussionen. (…) Unter einem Twitter-Post zeigen sich diverse Nutzer und Nutzerinnen fassungslos.
Obwohl sich der Artikel explizit auf meinen Tweet bezieht, wird mein Tweet weder zitiert noch verlinkt, noch wurde ich von 20min für ein Statement angefragt. Wer aber prominent Stellung beziehen darf, ist der St. Galler Nationalrat Mike Egger. Sie erinnern sich? Der SVP-Jungpolitiker, der seine Karriere mit dem privaten Betrieb einer Missbrauchshotline startete? Ich schrieb gerade kürzlich darüber, wie Leute wie Egger das öffentliche Bild prägen, während Betroffene unsichtbar bleiben (müssen). Auch im 20min-Artikel kommen weder Betroffene noch Vertreter·innen von Behindertenorganisationen zu Wort. Stattdessen implizieren der SVP-Politiker Egger («Mit diesen Massnahmen hilft man Menschen mit richtigen Beschwerden») wie auch der Medienverantwortliche der SVA St. Gallen («Wir wollen zeigen, dass richtig hingeschaut wird und die Leistungen zu den richtigen Personen kommen, die wirklich einen Anspruch darauf haben»), dass eine hochgradig misstrauische IV-Maschinerie ganz im Sinne der «richtigen» Behinderten sei.
Rollstuhlfahrer·innen-Vergleich die 327.ste. (Ja, sorry, aber es gibt einfach so viele Beispiele!)
Unter «richtigen» Behinderten verstehen die beiden Herren vermutlich Rollstuhlfahrerinnen, die problemlos öffentlich kundtun können, dass sie gleich in zwei Disziplinen 40 Stunden pro Woche für Olympia trainieren, weil es halt einfach bewundernswert ist, wie sie mit ihrem Schicksal umgehen:
Resultatunabhängig hat der regelmässige Sport ihre Lebensqualität erhöht, es geht ihr heute wieder viel besser. «Ich konnte vorher nicht mehr alleine essen, und meine Hände nicht mehr kontrollieren», sagt sie ruhig. Dass sie sehr schnell müde wird und pro Tag zwischen 12 und 15 Stunden schlafen muss, akzeptiert sie. Man merkt: Sie fragt sich nicht dauernd, weshalb es nun genau sie getroffen habe. «Oh mein Gott, nein», sagt sie, erneut mit einem herzhaften Lachen: «Ich bin ein fröhlicher Mensch und sehr positiv.»
Ich boxe gegen meine Bulimie», sagt Aniya Seki. «Das Boxen gibt mir Halt. Die Kliniken haben mir im Kampf gegen meine Krankheit nicht geholfen.
und:
18-mal Kotzen am Tag ist anstrengender als Spitzensport. Wenn ich einen Absturztag habe, kann ich nicht trainieren. Ich kann an einem Tag nicht erbrechen und trainieren.
Im Prinzip steht in beiden Artikeln dasselbe; eine junge Frau mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung treibt erfolgreich Spitzensport und dies hilft ihr auch gesundheitlich. Im Artikel über die Rollstuhlsportlerin wird allerdings gar nicht erwähnt, dass sie eine IV-Rente bezieht, während dies im Artikel über die psychisch erkrankte Sportlerin das zentrale Thema ist. Der Blick legte an folgenden Tag sogar nochmals nach und fragte seine Leserschaft: Ist eine IV-Rente wegen Bulimie denkbar?
Wie wäre die Umfrage wohl ausgefallen, wenn gefragt worden wäre, ob einer erfolgreichen Rollstuhlsporlerin eine IV-Rente zusteht? Interessanterweise stellen die Medien diese Frage aber nie. Und im seltenen Fall, wo eine IV-Stelle bei einer Rollstuhlsportlerin tatsächlich aufgrund ihrer sportlichen Aktivität die IV-Rente reduzieren will, heisst die Schlagzeile dazu selbstverständlich nicht wie bei Seki: «Erfolgreiche Rollstuhlsportlerin kassiert IV-Rente». Die Appenzeller Zeitung fragt in völliger Unkenntnis der gesetzlichen Grundlagen sogar naiv «ob durch die Unterstützung einer erfolgreichen Sportlerin nicht das Image der IV aufgebessert werden könne?»
Weil dafür ist die «Behindertenversicherung» doch da? Um «richtigen Behinderten» zu unterstützen? Die machen es doch so gut mit ihren «Behindertensport». In dieser vermeintlichen «Bewunderung» liegt eine Abwertung, die möglicherweise die unterschiedliche Bewertung von sportlichen Aktivitäten von Menschen mit einer körperlichen und einer psychischen Beeinträchtigung erklärt. «Behindertensport» ist aus Sicht von Nichtbehinderten oft nicht «richtiger» Sport. Nichtbehinderte sind nicht selten der Meinung, dass es im Behindertensport nicht «ums Gewinnen» gehe, sondern ums «Dabeisein». Und zudem ist es doch auch «total inspirierend», wie diese (körperlich) Behinderten ihr tragisches Schicksal meistern. (Siehe dazu auch: Inspiration Porn: «We’re not here for your inspiration»). Kurz: Es wird nicht in erster Linie die sportliche Spitzenleistung bewundert, sondern die sportliche Leistung trotz Behinderung, die dann aber eben doch keine «richtige» Leistung ist, weil sonst wäre sie auch IV-relevant.
Komplett anders ist die Wahrnehmung hingegen, wenn jemand wie Seki mit einer nicht sichtbaren Beeinträchtigung im Nichtbehindertensport Erfolge erzielt. Dann ist es nicht bewundernswert, dass sie trotz ihrer Erkrankung erfolgreich ist, sondern es ist ein klarer Hinweis darauf, dass sie gar nicht «richtig» psychisch krank ist, denn sonst könnte sie ja nicht gegen «Gesunde» gewinnen.
Genau diese Schlussfolgerung wurde auch im BGE 8C_349/2015 gezogen. Einige Auszüge:
Der IV-Stelle waren im August 2009 sowie im November 2010 anonyme Hinweise zugestellt worden, wonach A.__ auf hohem Niveau Golf spiele (Handicap 4), sich bei jeder Witterung mehrere Stunden auf dem Golfplatz aufhalte, an diversen Golfturnieren in der ganzen Schweiz teilnehme und 2010 Clubmeister geworden sei. (…) Insgesamt ist somit der klaren Aussage des psychiatrischen Experten, wonach die Ausübung des Golfspiels bei Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode möglich, die vom Versicherten erbrachten Höchstleistungen im Golfsport unter solchen Umständen jedoch als nicht möglich zu bezeichnen sind, nichts anzufügen. (…) Daran ändert auch die ärztliche Einschätzung nichts, dass das Golfspielen grundsätzlich gut für seine Gesundheit sei. Denn einerseits verfügten diese Ärzte über keine Kenntnisse des tatsächlichen Ausmasses seiner golferischen Betätigung; andererseits ist massgebend, dass der Versicherte gestützt auf die Schadenminderungspflicht gehalten gewesen wäre, dieses Potential an Aktivität in erwerblicher Hinsicht zu nutzen, anstatt es im Rahmen einer Freizeitbeschäftigung einzusetzen.
Hätte das Gericht gleich entschieden, wenn der Versicherte Rollstuhlgolf gespielt hätte? Die Frage ist eigentlich müssig, denn: Wie wahrscheinlich ist es, über einen golfspielenden Rollstuhlfahrer anonyme Hinweise bei der IV eingehen?
Öffentlicher Applaus und Unterstützung für die einen…
Es geht mir bei meinen Vergleichen nicht darum, verschiedene Arten von Einschränkungen gegeneinander auszuspielen oder darüber zu urteilen, wem eine IV-Rente zustehen sollte und wem nicht. Aber die massiv unterschiedlichen Massstäbe, die sowohl von der Öffentlichkeit als auch sozialversicherungsrechtlich bei der Beurteilung von sichtbaren und unsichtbaren Beeinträchtigungen angelegt werden, basieren stark auf (negativen wie positiven) Vorurteilen. Sie sind entgegen jeder juristischen Abhandlung alles andere als «objektiv». Die oben erwähnte Rollstuhlsportlerin kann das Ausmass ihrer Fatigue auch nicht beweisen, man sieht es auf keinem MRI, man «glaubt» es ihr einfach. Hätte sie hingegen eine unsichtbare Erkrankung, würde sie mit 40 Trainingsstunden pro Woche wegen Sozialversicherungsbetrug angeklagt.
Die unterschiedliche Glaubwürdigkeit, die man Versicherten (und oft auch ihren behandelnden Ärzt·innen) je nach Art der Beeinträchtigung zugesteht, ist nicht nur hochgradig diskriminierend, die unterschiedliche Bewertung verschiedener Behinderungsformen und welches Verhalten von den jeweiligen Betroffenen erwartet, belohnt oder sanktioniert wird, hat einen massiven Einfluss auf ihre Lebensgestaltung und damit auch ihre berufliche Möglichkeiten.
In einem früheren Artikel zitierte ich den Rollstuhlfahrer Jahn Graf, der letzten August im Migros Magazin über seine Moderation der Paralympics im Schweizer Fernsehen sprach:
Ich wünsche mir, dass ich meine selbständige Tätigkeit als Moderator so weit ausbauen kann, dass ich mindestens auf einen Teil meiner staatlichen Unterstützung durch IV und Ergänzungsleistungen verzichten kann.
Nach den Sommerspielen moderierte Graf kürzlich auch die Paralympischen Winterspiele. Eine Journalistin kommentierte in der Sonntagszeitung:
Am Mittwoch war Nik Hartmann zu Gast im «Para-Graf». Der Fernsehmann ist der Ansicht, Graf sollte auch Sendungen bekommen, in denen es nicht nur um Behinderung geht: «Du müsstest eigentlich die ‹Tagesschau› moderieren – ich setze mich dafür ein.»
Für die «Tagesschau» wird es nicht reichen, aber das ist in diesem Fall nicht schlimm: Hartmann ist Mitverantwortlicher für sämtliche Eigenproduktionen bei CH Media und entwickelt neue Formate. Da dürfte sich etwas Passendes schon finden lassen. Hoffen wir jedenfalls für Jahn Graf. Und nehmen Sie, Nik Hartmann, beim Wort!
Auch wenn das etwas gönnerhaft wirkt, muss sich Graf zumindest nicht damit herumschlagen, das man ihn aufgrund seiner gezeigten Leistung der «Scheininvalidität» verdächtigt. Er muss sich und seine Fähigkeiten nicht verstecken, er kann sich öffentlich ausprobieren und seine beruflichen Ambitionen stossen bei möglichen Förderern auf offene Ohren.
Erzwungene Unsichtbarkeit und Sanktionen für die anderen
Menschen, die aus psychischen Gründen eine IV-Rente beziehen, können ihre Fähigkeiten nicht öffentlich zeigen. Sie müssen viel Energie dafür aufwenden, sich selbst zu beschneiden und unsichtbar zu bleiben, um ja nicht den Verdacht zu erwecken, «nicht wirklich» krank zu sein. All die Energie, die seitens der IV darin fliesst, Menschen mit einer psychischen Erkrankung nachzuweisen, dass sie nur Betrüger sind und die psychisch Kranke dann wiederum aufwenden müssen um zu beweisen, dass sie keine Betrüger sind, ist komplett sinnlos verschwendete Energie. Es ist absurd, dass Versicherte mit einer IV-Rente in einer geschützten Umgebung im Vollpensum arbeiten können, während jegliche Tätigkeit, wo keine Arbeitsagogin daneben steht, sofort als «verdächtig» gilt.
Es wäre soviel sinnvoller, wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen die Energie, die ihnen krankheitsbedingt oft nur begrenzt zur Verfügung steht, genau so frei und öffentlich nutzen könnten, wie dies Menschen mit einer sichbaren Körperbehinderung zugestanden wird. Jahn Graf hat seinem Moderationsjob beim Schweizer Fernsehen bekommen, weil er mit seinem YouTube-Kanal öffentlich sichtbar war. Wer schwere gesundheitliche Einschränkungen und dadurch oft auch grosse Lücken im Lebenlauf hat, kommt in der Regel in einem konventionellen Bewerbungsverfahren nicht weit. Wer seine Fähigkeiten aber öffentlich präsentieren kann, findet möglicherweise genau dadurch eine Nische, wo er oder sie sich beruflich verwirklichen kann. Dass Menschen mit unsichtbaren/psychischen Erkrankungen diese Chance wegen einer bünzligen Vorstellung von «richtiger Behinderung» und überbordender Missbrauchsparanoia verwehrt wird, ist nicht nur bösartig, sondern auch sehr dumm.
Ursprünglich wollte ich in einer Artikelserie einige gesellschaftliche und politische Hintergründe aufzeigen, welche bei der beruflichen Eingliederung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung eine relevante Rolle spielen. Das Ganze ist «ein bisschen» ausschweifender geworden als geplant. Die zentralen Punkte, die sich herausgeschält haben, möchte ich nun noch einmal beleuchten:
1. Die Perspektive der Betroffenen fehlt – Das Narrativ gestalten andere (dieser Artikel) 2. Misstrauen und Beweisfetischischmus sind kontraproduktiv (folgt) 3. Subjekt statt Objekt – auch bei der Eingliederung (folgt)
Psychische Erkrankungen sind also ein sehr zentrales Problem der Invalidenversicherung. Und nicht nur der IV, sondern der Gesellschaft überhaupt. Rund eine halbe Million Menschen nehmen in der Schweiz jedes Jahr eine ambulante psychiatrische Behandlung in Anspruch und 70’000 Menschen werden jährlich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt. 4% der Bevölkerung nehmen Antidepressiva. Rund tausend Menschen nehmen sich in der Schweiz jährlich das Leben, häufig liegt eine psychische Erkrankung vor (Alle Zahlen: BAG).
Betroffene bleiben unsichtbar, denn Sichtbarkeit hat Folgen
Angesichts dieser Zahlen ist es schwer verständlich, weshalb mit dem Thema «psychische Erkrankung» (und damit zusammenhängend «Arbeitsintegration» und «Erwerbs(un)fähigkeit») seitens Politik, IV, Rechtsprechung und Gesellschaft immer noch dermassen vorurteilsbehaftet und dilettantisch umgegangen wird. Ein wichtiger Grund dafür liegt – wie aufgezeigt – darin, dass Betroffene Narrative und Prozesse, die sie betreffen kaum mitgestalten können:
Betroffene halten aus Angst den Mund und sind deshalb nicht im öffentlichen Diskurs präsent. Deshalb ändert sich nichts, weshalb Betroffene den Mund halten müssen, weshalb sich nichts ändert… ect.
Dies betrifft nicht nur Personen, die eine IV-Rente beziehen und Angst haben, diese zu verlieren, sondern auch die vielen Personen, die sich trotz psychischer Erkrankung im Arbeitsprozess befinden und sich aus Angst vor Konsequenzen (Mobbing, Jobververlust, keinen neuen Job finden usw.) nicht outen.
Dass diese Befürchtungen durchaus begründet sind, zeigt folgendes Beispiel: Vor einigen Jahren hat mich der Kommunikationsverantwortliche einer IV-Stelle gebeten, den Upload eines alten Jahresbericht der besagten IV-Stelle von meinen Blog zu löschen. Der darin mit Foto und vollständigem Namen als «erfolgreich eingegliedert» portraitierte junge Mann hatte seine Stelle verloren. Bei der erneuten Stellensuche stellte es sich als grosses Hindernis dar, dass potentielle Arbeitgeber beim Googeln seines Namens erfuhren, dass er aufgrund einer psychischen Erkrankung von der IV bei der Eingliederung unterstützt worden war. Was für die IV-Stelle eine «gute Werbung» in eigener Sache ist, ist es für Betroffene eben nicht unbedingt.
Erfolgreich eingegliedert – auf dem Papier
Apropos «Werbung in eigener Sache»: Im Magazin des Schwyzer Wirtschaftsverbandes schrieb der Schwyzer IV-Stellenleiter Andreas Dummermuth unter dem Titel «Avenir Suisse lobt den Eingliederungsansatz der IV-Stelle Schwyz» letzten Sommer eine zweiseitige Eigenwerbung. Sie beginnt so:
Die Denkfabrik Avenir Suisse hat im Frühjahr 2021 eine breit angelegte Studie zum Thema Invalidität veröffentlicht. Der Titel spricht Bände: «Eingliedern statt ausschliessen – Gute berufliche Integration bei Invalidität lohnt sich.» (…) Die Fachleute vergleichen die Situation nach Kantonen und machen konkrete Empfehlungen. Die Eingliederungsarbeit der IV-Stelle Schwyz wird als vorbildlich bewertet.
Werfen wir doch mal einen kurzen Blick in die Studie von Avenir Suisse, um zu sehen, nach welchen Kriterien sie die Eingliederungsarbeit der IV-Stellen bewertet hat:
Die Wirkung einer beruflichen Massnahme lässt sich daran messen, ob ein Bezüger danach eine Rente erhält oder nicht.
Als besonders «effizient» bewertet die Denkfabrik zudem jene IV-Stellen, die möglichst wenig Geld für Eingliederungsmassnahmen ausgeben und trotzdem nur wenige Renten sprechen. Konsequent zu Ende gedacht, wäre demnach jene IV-Stelle am «erfolgreichsten», die kein Geld für Eingliederungsmassnahmen ausgibt und gar keine Renten spricht. Weil wenn niemand eine Rente erhält, sind ja alle «eingegliedert.»
Aus Perspektive der Betroffenen ist man natürlich nicht «erfolgreich eingegliedert» wenn man keine Rente bezieht, sondern wenn man ein mindestens existenzsicherndes Einkommen erzielen kann. Wie die Zahlen des BSV zeigen, bezieht ein Drittel der Versicherten nach einer Eingliederungsmassnahme weder einer Rente noch erzielen sie ein Einkommen von mehr als 1000.-/Monat. Weitere 14% beziehen ebenfalls keine Rente und erzielen ein Einkommen zwischen 1000.- und 3000.-
Im Schweizer Durchschnitt erzielen also 60% derjenigen Massnahmeempfänger·innen, die laut Definition der Avenir Suisse als «erfolgreich eingegliedert» gelten, entweder kein, nur ein geringes oder allerhöchstens ein knapp existenzsicherndes Einkommen.
Eingliederungsmassnahmen für psychisch Kranke? Das «lohnt» sich doch eh nicht.
Es wäre ein wirklich interessantes Forschungsprojekt gewesen, zu eruieren, welche IV-Stellen die Versicherten denn tatsächlich am besten (und am nachhaltigsten) in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Aber das wollte man beim von der Schweizer Wirtschaft gesponserten liberalen Think Tank offensichtlich gar nicht wissen. Das Ziel war ein ganz anderes, denn Avenir Suisse empfielt – basierend auf ihren «Studienresultaten» – folgendes:
Um einen gezielteren und effektiveren Umgang der Mittel für die Integrationsmassnahmen und Massnahmen beruflicher Art zu fördern, sollte ein Kostendach pro IV-Stelle definiert werden.
Da Eingliederungsmassnahmen bei Versicherten mit einer psychischen Erkrankung wie eingangs erwähnt sehr häufig nicht erfolgreich verlaufen, würde die von der Avenir Suisse vorgeschlagene Ausrichtung auf die «Effizienz» dazu führen, dass psychisch Kranke seltener Eingliederungsmassnahmen zugesprochen bekommen, weil es sich bei «denen» ja eh nicht lohnt.
Unter diesem Gesichtspunkt erfüllt es mich mit gemischten Gefühlen, dass der Think Tank das von mir vorbereitete und von der Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter 2020 eingereichte Postulat für eine «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» explizit erwähnt und unterstützt. Denn als ich im Vorstoss schrieb:
Dadurch wäre es möglich, frühzeitig auf Entwicklungen im Bereich der psychischen Erkrankungen zu reagieren oder auch auszuwerten, welche Eingliederungsmassnahmen bei welchen Diagnosen besonders wirkungsvoll sind.
ging es mir natürlich um die Verbesserung der Eingliederungsmassnahmen. Beim von der Avenir Suisse geforderten «Effizienzwettbewerb» zwischen den IV-Stellen könnte hingegen eine Auswertung nach Krankheitsbildern dazu führen, dass Versicherte mit bestimmten Diagnosen diskriminiert werden.
. . .
Kleine Randbemerkung: Im Vorfeld der oben zitierten Studie wurde ich von Avenir Suisse für ein Experteninterview angefragt. Meine Rückfrage, ob Zeit und Aufwand vergütet werden, wurde abschlägig beantwortet, denn «Avenir Suisse sei eine nicht-profitorientierte Stiftung und selber auf die Generosität seiner Förderer angewiesen. Deshalb richte man bei solchen Gesprächen keine finanzielle Entschädigung aus.» Zu den Förderern von Avenir Suisse zählen unter anderem: UBS, ABB, Glencore, Nestlé, Pfizer, Swiss Re, McKinsey (…). Ich habe dann dankend abgelehnt. Verstehe ich natürlich, dass meinetwegen nicht die Schweizer Wirtschaft ruiniert werden kann. Den Slogan «Arbeit muss sich lohnen» möchte ich dann aber von der Seite bitte nicht mehr hören.
Wir machen, was wir wollen, und ihr könnt nichts tun
Dem Schwyzer IV-Stellenleiter, der sich und seine IV-Stelle stolz mit dem Prädikat «vorbildlich» schmückt, kann es nur recht sein, dass die Avenir Suisse nicht eruiert hat, ob die «erfolgreich Eingegliederten» auch tatsächlich (existenzsichernd) erwerbstätig sind. Genau so recht vermutlich, wie die Tatsache, dass ihn das Schwyzer Bezirksgericht letztes Jahr vom Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung freisprach, nachdem er ein IV-Überwachunsgvideo an die Medien weitergegeben hatte:
Der Freispruch erfolgte aufgrund der Erkenntnis, dass Dummermuth fahrlässig, ohne Wissen und Willen, also ohne Vorsatz, gehandelt habe. (…) Zudem seien die Rechtfertigungsgründe für eine Veröffentlichung gegeben: öffentliches Interesse, Wahrung der Anonymität sowie Erforderlichkeit.
Die Anonymität wurde übrigens so gut «gewahrt» dass mehrere Fernsehzuschauer den Überwachten im Beitrag erkannten. Und «ohne Wissen und Willen» ist eine sehr gewagte Auslegung für einen IV-Stellenleiter, der vor der Abstimmung über die Sozialversicherungsdetektive dermassen intensiv lobbyierte, dass in der bundesrätlichen Fragestunde unter anderem gefragt wurde:
Ist Herr Dummermuth – ausserhalb von Vollzugsfragen – befugt, im Parlament zu lobbyieren?
Das Signal an die Betroffenen ist klar: Die IV (und ihre Vertreter) kann bzw. können euch von Detektiven überwachen lassen, das Observationsmaterial an die Medien weitergeben (die das dann auch senden), sich mit komplett irreführenden Studien schmücken und dubiose Gutachter beauftragen usw. Kurz: Wir können machen, was wir wollen. Und ihr könnt gar nichts dagegen tun. Und wehe, ihr engagiert euch politisch gegen irgendwas davon. Das nehmen wir dann als Beweis, dass ihr gar nicht «richtig» krank seid. Nämmli.
Fazit
Die gesellschaftliche und politische Teilhabe von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erschöpft sich nicht darin, dass auch Menschen die unter Vormundschaft stehen, wählen und abstimmen dürfen. Das tut niemandem weh. Relevant, anspruchsvoll und an gewissen Orten auch unbequem wird es dort, wo Nichtbehinderte das Narrativ nicht mehr ausschliesslich aus ihrer Perspektiv gestalten können, sondern sich auf Augenhöhe mit denjenigen auseinandersetzen müssen, die sie in ihrer Arbeit, ihren Studien oder ihren PR-Stunts bisher einfach oft nur als Objekte behandelt und benutzt haben. Die Einbindung von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ist dabei kein Gefallen, für den die Betroffenen dankbar sein müssen, sondern der Einbezug von deren Perspektiven und Fachwissen sollte schlicht professionelle Selbstverständlichkeit sein. Genauso wie eine entsprechende Entlöhnung. Anders als IV-Direktoren können Betroffene solchen Tätigkeiten nämlich nicht während ihrer (anderweitig bezahlten) Arbeitszeit nachgehen.
(Oh übrigens: Hi EBGB und BSV: Wurden unterdessen eigentlich die Grundlagen geschaffen, die es ermöglichen, Betroffene für ihre Mitarbeit bei IV-Forschungsprojekten zu entlöhnen? Oder hat man das nach 6 Jahren immer noch nicht hinbekommen?)
Es scheint so, als ob von der Bundesrichterin bis zum gehässigen Nachbarn wirklich jeder in der Schweiz über die Kriterien (z.B. eigenes Bauchgefühl) mitbestimmen darf, nach denen beurteilt wird, ob Personen mit einer psychischen oder unsichtbaren Krankheit erwerbsunfähig sind oder nicht.
Kurz nach der Publikation des Artikels las ich ein aktuelles Urteil des Versicherungsgerichts St. Gallen. Es betraf einen Versicherten mit mehreren psychiatrischen Diagnosen, bei dem über die Jahre hinweg zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken dokumentiert waren. Doch das war für die IV und das Gericht irrelevant. Relevant war für das Gericht vor allem Folgendes:
Selbst für einen Laien ist nachvollziehbar, dass eine schwer depressive Person, die sich auch in Menschenansammlungen nicht wohlfühlt und zurückgezogen lebt, keine Tischfussballtrainings und Tischfussballturniere absolvieren kann, bei denen volle Aufmerksamkeit, Schnelligkeit und rasche Reaktionsfähigkeit gefordert sind und sozialer Kontakt mit anderen Menschen unvermeidlich ist.
Weshalb gibt die IV eigentlich jedes Jahr Millionen für ärztliche Gutachten aus, wenn «jeder Laie» eine Erwerbs(un)fähigkeit erkennen und einschätzen kann?
Während «Tischfussball» bei einem Versicherten mit mehreren psychiatrischen Diagnosen der absolute sichere Beweis dafür ist, dass die Person keinen Anspruch auf eine IV-Rente hat, kann eine Rollstuhlsportlerin übrigens völlig problemlos öffentlich kundtun, dass sie keine Kapazitäten zum Arbeiten hat, weil sie für die olympischen Spiele trainiert:
Sie trainiert 14 Stunden pro Woche und ist Halbprofi. Einer geregelten Arbeit kann die kaufmännische Angestellte daneben nicht mehr nachgehen. «Durch die IV-Rente und die Sponsoring-Beiträge kann ich mich voll dem Sport widmen», sagt sie.
Ich nehme an, es ist eben selbst für Laien nachvollziehbar, dass Rollstuhlfahrer·innen «richtige Behinderte» sind und deshalb ganz grundsätzlich Anrecht auf eine IV-Rente haben, damit sie in Ruhe für Olympia trainieren können.
Dass Rollstuhlfahrer sowieso die einzigen «richtigen Behinderten» sind, war letzten Herbst auch in der Sendung «Club» des Schweizer Fernsehens zum Thema «Menschen mit Behinderung – Mittendrin oder am Rand?» überdeutlich zu sehen. Die Betroffenen wurden nämlich durch drei Männer im Rollstuhl repräsentiert. Frauen? Andere Arten der Behinderung? Fehlanzeige.
Dagegen ist die Pro Infirmis geradezu divers aufgestellt mit ihrem neuen Ausschuss «Partizipation und Inklusion», den sie sich als «grösste Fachorganisation der Schweiz» (42 Mio. IV-Subventionen/Jahr) 100 Jahre nach ihrer Gründung als «Schweizerischen Vereinigung für Anormale (SVfA)» selbst zum Geburtstage schenkte. Der Ausschuss besteht aus drei Personen mit einer Körperbehinderung, zwei mit einer Sinnesbehinderung und einer Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Die Betroffenen mit einer psychischen Erkrankung, die mit 50% die weitaus grösste Gruppe unter die IV-Beziehenden stellen, sind allerdings nicht vertreten. Da hält man es mit der guten alten Tradition, wonach die Pro Infirmis nur «richtige Behinderte» und explizit keine psychisch Kranken vertritt:
Statuten der Pro Infirmis von 1949 – offiziell wurden sie seither zwar erneuert, innoffiziell weht der alte Geist aber offenbar munter weiter.
Sollen die «Psychos» ihren Anliegen halt auf andere Weise Gehör verschaffen. Gibt heute schliesslich genug Möglichkeiten mit diesem Internet. Also schauen wir doch mal genauer hin, wie das mit den sozialen Medien so funktioniert. Kürzlich wurde ein Tweet bzw. Artikel von mir folgendermassen kommentiert:
Weil ich den Kommentar treffend fand, hätte ihn ihn gerne retweetet, damit ihn auch meine rund 1600 Follower·innen auf Twitter sehen können. Da aber die verfassende Person mit einer unsichtbaren Erkrankung lebt, hat sie ihren Twitternamen anonymisiert und zudem ihre Tweets geschützt. Das bedeutet, dass ihre Tweets nicht öffentlich sichtbar sind und nur von wenigen handverlesenen Followern gelesen werden können (die Publikation hier im Blog erfolgt in Absprache mit der betroffenen Person). Zu gross ist die Sorge, dass aus den öffentlichen Äusserungen Nachteile erwachsen könnten. Eine Sorge übrigens, die viele andere Betroffene teilen. Regelmässig habe ich in den letzten Jahren von Menschen mit psychischen/unsichtbaren Erkrankungen gehört, dass sie sich ganz bewusst nicht öffentlich äussern, denn die IV-Rente sei quasi ein «Schweigegeld».
Dies bewirkt einen perfiden Teufelskreis: Betroffene halten aus Angst den Mund und sind deshalb nicht im öffentlichen Diskurs präsent. Deshalb ändert sich nichts, weshalb Betroffene den Mund halten müssen, weshalb sich nichts ändert… ect.
Und so formen weiterhin andere die Erzählungen über Menschen mit einer psychischen Erkrankung: Karrieregeile Politiker, Juristen mit ihren 500 Shades of Missbrauchsfantasien und der sprichwörtliche Mann von der Strasse.
Die Realität aushalten
Die einzige Erzählung, in der sich Betroffene ohne negative Konsequenzen öffentlich inszenieren dürfen, ist die instagrammable Erfolgsstory mit Happy-End. Also sowas wie: Engagierte Managerin erleidet aufgrund beruflicher Überlastung ein Burnout, findet in einer exklusiven Klinik im Bündnerland zu ihrem «wahren Ich», verwirklicht sich mit einer schicken Praxis als Klangschalentherapeutin selbst und begrüsst fortan glücklich und im inneren Gleichgewicht jeden Morgen energiegeladen mit dem Sonnengruss und anschliessendem Grünkohlsmoothie.
Solche Geschichten widerspiegeln die Realität vieler psychisch Erkrankter nicht einmal in Ansätzen. Menschen, die seit ihrer Jugend (50% aller psychischen Störungen beginnen vor dem 14. und 75% vor dem 25. Altersjahr) so schwer krank sind, dass sie nur mühevoll oder vorübergehend/prekär den Weg ins Erwerbsleben finden, sind in der Regel nicht durch «zuviel Arbeit» krank geworden. Vielmehr verhindert «zuviel psychische Krankheit» einen erfolgreichen Einstieg oder erschwert den Verbleib ins Berufsleben, weil sich «Krankheit» und «Arbeit» nicht oder nur bedingt gleichzeitig managen lassen. Das ist eine brutale Realität für die Betroffenen, wie auch für die Professionellen:
Alle, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, wissen, wie oft man sich hilflos, frustriert, verärgert fühlt und wie schwierig es ist, Menschen zu begegnen, die grosse Fähigkeiten haben und diese wegen ihrer Krankheit nicht umsetzen können. Das Aushalten dieser Tatsache ist enorm anstrengend und oft eben «kaum auszuhalten». Das «Nichtaushalten» dieser Realität kann dazu führen, dass es diese Realität nicht mehr geben darf. (…) Das Verleugnen der Krankheit und deren Folgen ist eine typische Abwehrstrategie, die dazu dienen sollte, den Umgang mit der hoch belastenden Realität psychisch Kranker zu erleichtern. Das Abwehren bringt jedoch gravierende kontraproduktive Konsequenzen mit sich.
Anna Domingo und Niklas Baer zeigen in diesen äusserst lesenswerten Artikel auf, wie das Verleugnen der Realität die ohnehin anspruchsvolle Rehabilitation von Menschen mit einer psychischen Erkrankung noch zusätzlich erschwert und plädieren für eine radikale Ehrlichkeit:
Es würde leichter fallen, ehrlich zu sagen: «Hier ist ein Klient, der sehr gerne arbeiten würde und das auch kann, aber er hat Absenzen, wenn es ihm nicht gut geht, er ist besonders sensibel für unausgesprochene Konflikte, er hat schnell das Gefühl, man schätze seine Arbeit nicht, man kann ihm mit gutem Willen allein nicht dauerhaft helfen und zum Betriebsfest kommt er auch nur, wenn ihn jemand begleitet. Aber wir werden ihn am Arbeitsplatz betreuen und können den Arbeitskollegen genaue Informationen über seine Probleme und Fähigkeiten sowie über nötige konkrete Anpassungen am Arbeitsplatz vermitteln.
Fazit des Artikels:
Die Energie, die heute durch einen unerfüllbaren und deshalb resignationsfördernden Normalitätsanspruch gebunden wird, wäre wieder frei. Diese Energie wird dringend benötigt, um die fachliche Weiterentwicklung zu fördern und um die Idee umzusetzen, dass psychisch kranke Menschen viel beitragen können, wenn sie sich unterscheiden dürfen.
Obwohl der zitierte Text von Domingo und Baer fast 20 Jahre alt ist, zieht sich immer noch die unfassbar bünzlige (und diskriminierende) Vorstellung quer durch grosse Teile der Gesellschaft, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in geschützten Settings erstmal zur «Normalität» trainiert und erzogen werden sollen, bevor sie dann – genügend normalisiert und ohne Bezug einer IV-Rente – am regulären Arbeitsmarkt und gesellschaftlichen/öffentlichen Leben (Hobbies, Socialmedianutzung, Beziehungen) teilnehmen dürfen.
Eine Gesellschaft, die offenbar problemlos fähig ist, die Ambivalenz auszuhalten, dass Menschen, die im Rollstuhl sitzen und eine IV-Rente beziehen, gleichzeitig sportliche Höchstleistungen erbringen, Fernsehsendungen moderieren oder sich politisch engagieren, könnte dieselbe Ambivalenzfähigkeit ja auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen aufbringen.
Aber offenbar will sie das halt einfach nicht.
Fortsezung folgt…(Ich verspreche, im nächsten Artikel keine Vergleiche mit Rollstuhlfahrer·innen mehr zu machen und endlich ein paar konkrete Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen)