Let’s Talk About Money

Eine halbe Million Schweizer*innen nehmen jedes Jahr eine ambulante psychiatrische Behandlung in Anspruch. 80’000 Menschen werden jährlich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Das Risiko im Leben einmal an einer psychischen Beeinträchtigung zu leiden beträgt 50%. Psychisch zu erkranken ist also relativ «normal». Trotzdem gelten psychische Erkrankungen nicht als Krankheiten wie alle anderen. Zwar scheinen sich während der Corona-Pandemie auch ansonsten unverdächtige Politiker*innen ganz plötzlich um das psychische Befinden der Bevölkerung zu sorgen, allerdings steckt hinter der vermeintlichen Besorgnis über die psychischen Auswirkungen von Corona-bedingten Einschränkungen meist etwas Anderes; nämlich die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen.

Denn wenn die psychische Gesundheit der Bevölkerung – auch ausserhalb einer Pandemie – tatsächlich so ein wichtiges Thema wäre, müsste man das auch daran erkennen, dass die entsprechenden Organisationen für ihre wichtige Aufgabe grosszügige finanzielle Unterstützung erhalten. Politiker*innen wurden in den letzten Jahren zwar nicht müde, darüber zu lamentieren, dass die Zahl der psychisch bedingten IV-Renten immer weiter ansteige, aber niemand kam auf die Idee, mehr finanzielle Mittel für Organisationen zu fordern, die psychisch beeinträchtigte Menschen unterstützen. Irgendwie hoffte man wohl, dass die psychisch Kranken – wenn man nur lange genug über sie schimpfen würde – auf wundersame Weise einfach wieder verschwänden.

Nun, das taten sie nicht. Mittlerweile beziehen rund 100’000 Menschen in der Schweiz aufgrund einer psychischen Erkrankung eine IV-Rente. Damit stellen sie knapp die Hälfte aller IV-Bezüger*innen. Von den 150 Millionen Franken, die das Bundesamt für Sozialversicherungen jedes Jahr aus dem Topf der IV zur Unterstützung an die Behindertenorganisationen verteilt, erhalten die beiden Organisationen, die Menschen mit einer psychischen Erkrankung vertreten, aber mitnichten die Hälfte, sondern nur 5.5 Millionen, was gerade einmal 3,5% der Gesamtsumme entspricht. Ganz anders sehen die Relationen bei den Blindenorganisationen aus: Sie erhalten rund 20 Millionen pro Jahr, obwohl der Anteil der Sehbehinderten unter den IV-Beziehenden bloss gut 1% beträgt. Ähnlich grosszügig werden die Organisationen der Hörbehinderten bedacht: Sie erhalten zusammen knapp 7,5 Mio, obwohl nur 0,5% der IV-Beziehenden eine Hörbehinderung aufweisen.

Diese Vergleiche liessen sich endlos weiterführen. Auch wenn man nicht nur die Zahl der IV-Beziehenden, sondern die Gesamtverteilung einer bestimmten Behinderung oder Erkrankung in der Bevölkerung betrachtet, sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen massiv überrepräsentiert. Ihre Organisationen hingegen sitzen – und dies nicht nur finanziell – am Katzentisch.

Auf Anfrage teilte das Bundesamt für Sozialversicherungen mit, die Verteilung der Finanzhilfen nach Art. 74 IVG sei eben «historisch gewachsen».

Es ist höchste Zeit, dass die Verteilung den aktuellen Gegebenheiten anpasst wird.

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Die obige Kolumne habe ich (bereits im Januar) für die aktuelle Ausgabe das halbjährlich erscheinenden Magazins  «Kontext» der Pro Mente Sana geschrieben.

Auf meine Anregung hin hatte die Journalistin Mirjam Fonti die Thematik im April unter dem Titel «IV-Finanzhilfen: Brosamen für psychisch Beeinträchtigte» in der Zeitschrift Saldo aufgenommen.

Ein Auszug aus dem Artikel:

Viele der anderen Organisationen profitieren vom heutigen Zustand und wollen nicht daran rütteln. In der Ver­nehmlassung stellte eine Mehrheit die Geldverteilung nicht in Frage. Der Zen­tralverein für das Blindenwesen er­klärt, man halte den Betrag für ange­messen. Es sei nicht gerecht, sich nur auf die Anzahl der IV-Bezüger abzu­stützen.* Der Dachverband der Behin­dertenorganisationen Inclusion Han­dicap hält fest, es stehe grundsätzlich zu wenig Geld für die Behinderten­organisationen zur Verfügung, sodass Organisationen für psychisch Erkrank­te und andere Behindertengruppen zu kurz kämen.

*Zur Aussage des Zentralvereins für das Blindenwesen ist anzumerken, dass eben dieser Verein 2019 eine 40-seitige Publikation zur Frage «Wie viele sehbehinderte, blinde und hörsehbehinderte Menschen gibt es in der Schweiz?» veröffentlichte, die mit virtuosen Begriffsdefinitionen und ausgeklügelten Rechenspielen (wenn man z.B. auch alle *irgendwie* Sehbehinderten im hohen Alter – also explizit AHV- und keine IV-Beziehenden – dazu rechnet) zu folgendem alarmierendem Fazit kommt:

Das heisst, um den 1. Januar 2029 herum, dürfte die Zahl betroffener Menschen die halbe Million erreichen.

Selbstverständlich geht es in dieser Publikation ganz explizit darum, die Existenz (und den Geldbedarf) er eigenen Organisation zu rechtfertigen und natürlich fände es der Zentralverein für das Blindenwesen dann «nicht gerecht», wenn man zur Verteilung der Gelder ganz profan die Anzahl IV-Beziehender heranziehen würde. Um die aktuelle Verteilung der IV-Gelder (Blindenwesen: 20 Mio., 1% sehbehinderte IV-Beziehende, Organisationen für psychisch Erkrankte: 5,5 Mio., 49% psychisch beeinträchtige IV-Beziehende) als «angemessen» zu bezeichnen, muss man allerdings schon ein bisschen… kurzsichtig sein.

Vielleicht sollten die Organisation, die psychisch beeinträchtige Menschen beraten und vertreten, auch mal eine Studie zum Thema «Altersdepressionen» in Auftrag geben. Könnte bei der «gerechten» Verteilung der Gelder von Vorteil sein.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Vor einigen Tagen sendete 10vor10 anlässlich des IV-Sparwahns bei der SGK-N einen Beitrag über die schwierige Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Untenstehend ein Filmstill aus dem Beitrag:

Das Still «zeigt» M.R. welcher kurz vor der Matura an Schizophrenie erkrankt ist, trotzdem später eine KV-Lehre absolviert und erst nach langer Suche eine 50%-Stelle im «normalen» Arbeitsmarkt gefunden hat.
Was dieses Bild auch zeigt: Was Stigmatisierung bedeutet.
Psychisch kranke Menschen möchten ihr Gesicht nicht zeigen. Sie bleiben lieber anonym. Das ist verständlich, da sie –  leider nicht zu Unrecht – befürchten müssten, im beruflichen und/oder persönlichen Umfeld mit Vorurteilen und anderen Schwierigkeiten konfrontiert zu werden, würden sie sich öffentlich «outen».

Das Problem an der ganzen Sache ist; dadurch entsteht ein sich selbst aufrechterhaltender Teufelskreis. Solange Menschen mit einer psychischen Erkrankung in den Medien entweder nur als gefährlich oder als unscharfer Umriss dargestellt werden, bleibt die Stigmatisierung aufrechterhalten. Denn die Menschen dahinter bleiben verborgen.

Und politisch ist eine «anonyme Masse» sehr viel einfacher zu diskriminieren, als Menschen mit Namen, Gesicht und Stimme.

Manchmal denke ich, manchen psychisch soweit «gesunden» Menschen macht der Gedanke an Gemeinsamkeit/Ähnlichkeit mit psychisch Kranken viel mehr Angst als die Unterschiede zu ihnen. Diese Unterschiede sind nämlich in vielen Bereichen oftmals gar nicht so gross.

Auch psychisch kranke Menschen möchten sich – soweit es ihre Krankheit zulässt –  einbringen, ihre Talente entfalten, sich nützlich fühlen. Es ist wesentlich einfacher, diese Tatsachen zu verleugnen*, und die Betroffenen als komplett anders als man selbst – nämlich als faul und unwillig darzustellen (womit Politiker und andere Akteure die immer weiter verschärfte IV-Gesetzgebung rechtfertigen) als einzugestehen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der offenbar (noch) eine so grosse Stigmatisierung von psychisch Kranken besteht, dass es Betroffenen nicht mal möglich ist, sich ganz selbstverständlich in der Öffentlichkeit zu äussern.

Wenn das nicht möglich ist – wie soll dann erst Integration funktionieren?

Video-Beitrag 10vor10

Siehe auch Blogeintrag: Wen würden Sie einstellen?

*Festzustellen, dass psychisch kranke Menschen vielleicht gar nicht so anders sind als man selbst, bedeutet eben auch anzuerkennen, dass man selbst vielleicht auch psychisch erkranken könnte – und dadurch vorübergehend oder dauerhaft das verlieren könnte, worauf man so unglaublich stolz ist: Mit dem eigenen Willen «alles» erreichen zu können. Also sagt man lieber, «die» sind ganz anders als ich. Ich bin rechtschaffen, pflichtbewusst, arbeitsam. «Die» nicht.

Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat Burkhalter?

Nachdem der Nationalrat am 16. Dezember 2010 die Schlussbestimmung zur IV-Revision 6a über die «pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder» angenommen hatte, beschrieb ich in einem Blog-Artikel, weshalb diese Schlussbestimmung die Grundlage dazu legen würde, dass praktisch sämtliche psychischen Krankheiten von IV-Leistungen ausgeschlossen werden können – auch wenn Herr Bundesrat Burkhalter noch so oft beteuerte, dass die Schlussbestimmung eigentlich gar nicht so gemeint sei, wie sie formuliert ist und «Menschen mit schweren psychischen Störungen selbstverständlich nicht betroffen wären».

Der Artikel trug den Titel «BR Burkhalter lügt und überzeugt damit das Parlament». Er trug diesen Titel nicht sehr lange, denn ich erhielt bald nach der Veröffentlichung eine freundliche aber bestimmte Mail von Herrn Crevoisier, dem Chef de la communication du Département fédéral de l’intérieur in der ich aufgefordert wurde, «les textes calomnieux» auf meinem Blog unverzüglich zu löschen. Und weiter: «Il est du droit de tout un chacun de mener un combat politique controversé. L’échange d’arguments, s’il peut être vif, doit toutefois rester respectueux. M. le conseiller fédéral Didier Burkhalter mène sa carrière politique en s’assurant toujours de dire ce qu’il fait et de faire ce qu’il dit. Le traiter de menteur est injurieux».

Das sah ich ein. Ich änderte den Titel und löschte zwei Sätze. Der Artikel selbst aber blieb stehen. Damit ging die Angelegenheit für den Pressesprecher des EDI in Ordnung.

Die Sache mit den «pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern» aber, die ging gar nicht in Ordnung. Den einen oder anderen Ständerat, die eine oder andere Ständerätin vor der Differenz-bereinigung mittels einer von vielen Bloglesern unterstützen Mailaktion doch noch zum Umdenken zu bewegen, war insofern ein interessantes Experiment, als man sich immer wieder fragte: Glauben die Parlamen-tarierInnen tatsächlich an das von Herrn Burkhalter vorgebetete Mantra, «dass psychische Krankheiten nicht überprüft würden»? Einige Ständeräte (beispiels- weise Felix Gutzwiller von der FDP) hegten offenbar durchaus gewisse Zweifel und sprachen sich gegen die Schlussbestimmung aus. Die Mehrheit jedoch sprach sich dafür aus und wir werden wohl nie erfahren, ob aus reiner Gutgläubigkeit oder im genauen Wissen um die Folgen.

Fakt ist: Am 28. März 2011 (Gerade mal 10 Tage nach der Absegnung der IV-Revision 6a durch das Parlament) entschied das Verwaltungsgericht des Kantons Bern im Fall eines psychisch kranken Mannes, dass seine durch eine generalisierte Angststörung verursachten Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Zittern, Konzentrationsstörungen, Hyperventilation, Schwindel, Müdigkeit, Schlafstörungen, Suizidgedanken) ja nicht auf organische Ursachen zurückzuführen wären, und «eine generalisierte Angststörung deshalb denselben sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen ist, wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. wie sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage.» Das Gericht befand des Weiteren: «Es wäre denn auch kaum verständlich, wenn den Schmerzpatientinnen und -patienten grundsätzlich zuzumuten wäre, trotz unbestritten empfundener Schmerzen zu arbeiten, wogegen dem Beschwerdeführer grundsätzlich nicht zumutbar sein sollte, die Angstgefühle und deren Begleiterscheinungen zu überwinden (…)Damit liegt beim Beschwerdeführer trotz seiner Angststörung kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor.»

Dies ist zwar (noch) kein Bundesgerichtsentscheid. Aber es ist genau das, was vorrauszusehen war.

Auch bei der schweizerischen Angst- und Panikhilfe hatte man bezüglich der Schussbestimmung Bedenken und deren Präsident hatte sich noch während der laufenden Ratsdebatten über die IV-Revision 6a an Bundesrat Burkhalter gewandt. Fraglich ist nun, was angesichts des eben geschilderten Gerichts-entscheides die bundesrätliche Antwort vom 22. März 2011 noch wert ist. Wenn ich mal kurz aus Herrn Burkhalters Brief an die Angst- und Panikhilfe zitieren darf:

«(…)Ihre Befürchtungen sind im Bezug auf die Angststörungen unbegründet, da diese aus unserer Sicht objektivierbar sind und eindeutig diagnostizierbare Gesundheitsstörungen darstellen

(…) Beschwerdebilder, bei denen eine Diagnose gestützt auf klinische (psychiatrische) Untersuchungen klar gestellt werden kann, werden im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a dagegen nicht überprüft. Zu diesen Beschwerdebildern gehören auch die von Ihnen unter Frage 2 aufgeführten Angststörungen.»

Tja also, wie ist das denn nun: Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat?

Tod nach Plan – André, psychisch krank und lebensmüde

Ein schwer psychisch kranker Mann will sterben und wird in seinen letzten Lebenswochen von der Kamera begleitet – Darf man das zeigen? Und dann auch noch zur besten Sendezeit? Der Film über André Rieder, der mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben gehen möchte, löste schon vor der Ausstrahlung Kontroversen aus.

Doch DOK-Autor Hanspeter Bäni ist ein so einfühlsamer und bewegender Film gelungen, dass die Medien danach kaum Kritikpunkte finden konnten. Ausser – so die NZZ«dass die Schwere des Leidens des Sterbewilligen nicht wirklich fassbar wurde» oder wie es der Blick formulierte.: «Das Bizarre daran: Der Mann ist nicht todkrank. Er wirkt stabil, glücklich, und manchmal lacht er sogar im Film».

Und genau diese Irritation ist aus meiner Sicht eine der ganz grossen Stärken des Films, die Darstellung oder Vermittlung von psychischem Leiden ist schwierig, eigentlich unmöglich. Wird es trotzdem versucht, wirkt es oft platt, stark abstrahiert – und in den meisten Fällen für Gesunde nicht nachvollziehbar. Filmer Bäni und Protagonist Rieder versuchen es deshalb gar nicht erst. Nur in kurzen nüchternen Fragmenten wird die Leidensgeschichte von Rieder aufgezeigt: Seit 20 Jahren manisch-depressiv, ein ganzer Tisch voller Medikamente, um die 20 Kinkaufenthalte, oft mittels Fürsorgerischem Freiheitsenzug eingeleitet, U-Haft wegen Körperverletzung in einer manischen Phase, im Wiederholungsfall droht ihm die Verwahrung in einer psychiatrischen Klinik. Das Ausmass des Leidens wird dem Zuschauer nicht durch Beschreibung klar, sondern durch die wohlüberlegte Entscheidung Rieders, den Tod diesem Leiden vorzuziehen.

Sofern der Zuschauer, die Zuschauerin, bereit und willens ist, diesen Gedankengang zu machen. Dass ausgerechnet im 20 Minuten moniert wird, «es fehle dem Film ein Hoffnungsschimmer» und ach so politisch korrekt darauf hinweist, dass es in der Schweiz schliesslich zahlreiche Beratungsangebote gäbe, die psychisch Kranken helfen würden, ist an Doppelmoral kaum zu überbieten. Ausgerechnet 20 Minuten, dass sich just zwei Tage zuvor genüsslich und ausführlich über einen psychisch kranken IV-Rentner ausgelassen hatte, der sich einer Polizeikontrolle widersetzt hatte… was hätte 20 Minuten über André Rieder getitelt? «Psychisch kranker IV-Rentner wegen Körperverletzung in U-Haft»?

Schlagzeilen, die das «ungebührliche» oder gar «kriminelle» Verhalten inbesondere von IV-Bezügern/Betrügern mit psychischen Kankheiten anprangern garantieren 20 Minuten doch stets die höchsten Klickraten.

Sobald der «anonyme psychisch kranke IV-Bezüger A. R.» aber einen vollen Namen, ein Gesicht, eine Stimme und eine Geschichte erhält, wird das etwas schwierig mit den Vorurteilen.

Und André Rieder macht es den Vorurteilsbehafteten wirklich nicht leicht; er ist gebildet, kulturell interessiert, war beruflich sehr erfolgreich – und verfügt, wie der Film eindrücklich zeigt, über einen unterstützenden Freundeskreis. Nichts davon passt auf das gängige Bild «eines schwer psychisch Kranken». Und die Tragik an der ganzen Geschichte; wäre er seinen Weg nicht konsequent zu Ende gegangen, hätte ihm wohl kaum einer die Schwere seines Leidens abgenommen.

Vielleicht ist das André Rieders Vermächtnis, das aufrütteln sollte; selbst bei denjenigen, deren Leiden so stark ist, dass sie nicht weiterleben mögen, können wir es von aussen kaum sehen. Es darf nicht sein, dass als nachträglicher Beweis der Schwere eines unsichtbaren Leidens bald nur noch der Suizid der Betroffenen gelten kann. Weit davon entfernt sind wir ja nicht mehr.

Das scheint übertrieben? Nun, wie hätte denn die Überschrift im 20 Minuten wohl gelautet, wenn André Rieder sich gegen den Tod entschieden hätte? Vielleicht: «Angeblich psychisch kranker IV-Rentner vergnügt sich in Zauber- schau und Picassoausstellung»…?

Den Dok-Film kann man bei SF DRS ansehen. Eindrücklich auch der Hintergrundbericht des Filmers Hanspeter Bäni.

Mitbestimmung wäre erfolgsversprechender als Bevormundung

Kürzlich wurde die vom BSV bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel in Auftrag gegebene Studie «Fallanalyse zur beruflichen Integration von Personen mit psychischen Störungen» veröffentlicht. Kurzzusammenfassung: Was Fachleute von psychiatrischer Seite und Betroffene als hilfreich und erfolgsversprechend bei der Wiedereingliederung erleben (u.a. Mitbestimmung, persönliche Zielformulierung) widerspricht in weiten Teilen der gängigen Praxis der Invalidenversicherung, die versucht, die Betroffenen mittels Bevormundung, Zwang und Sanktionen einzugliedern.

Zitate aus der Studie:

«Die Inhaltsanalysen der Aussagen von ExpertInnen bzw. Betreuenden und PatientInnen ergaben «Mitbestimmung» bei «gemeinsamen Zielab-sprachen» als motivierenden Interventionsstil. Dass z.B. «unterlassene Therapieversuche» von der IV als mangelnde Mitwirkungspflicht beurteilt werden, wird von therapeutischen Fachpersonen als unangemessen bewertet.»

«Die bei PsychiatriepatientInnen aufgezeichneten Wechselwirkungen von Erkrankungsvariablen, Kognitionen und Motivation legen nahe, dass bei der IV-relevanten Beurteilung der Mitwirkungspflicht andere Massstäbe angelegt werden sollten als z.B. bei körperlich Erkrankten. In Fällen, in denen eine mangelnde Motivationslage gerade Teil der Erkrankung sein kann, bedeutet das Feststellen mangelnder Mitwirkung nicht mehr als eine Bestätigung der Folgen einer psychiatrischen Erkrankung. Der viel zitierte Vergleich mit dem Alkoholkranken, der erst zu einer thera-peutischen Massnahme zugelassen wird, wenn er «trocken» ist, also bereits erfolgreich mit seiner Erkrankung umgehen kann, drängt sich hier auf.»

«(…)Darüber hinaus müssen das individuelle und aktuelle Krankheitsver-ständnis und die persönlichen Ziele und Erwartungen bei Integrations-bestrebungen als Interventionsziele offen thematisiert und behandelt werden. Diese Hinweise entsprechen motivationspsychologischen Erkenntnissen, wonach weniger die Anstrengungsbereitschaft als vielmehr die Erfolgs-/Miss-erfolgsorientierung und das (arbeitsbezogene) Selbstkonzept für Leistungs-verhalten eine Rolle spielen».

Kurz: Weg von den pädagogischen und moralisch-protestantischen Prämissen – stattdessen ist bei der beruflichen Integration psychiatrisches Fachwissen sowie der partnerschaftliche Einbezug der Betroffenen gefordert. Schliesslich geht es hier nicht um unwillige Kindergarterkinder, sondern um erwachsen Menschen. Wer sie behandelt wie unmündige Kinder, braucht sich auch nicht wundern, wenn Eingliederungsversuche im Bereich der Psychisch Erkrankten wenig erfolgreich ausfallen. Aber bei der Invalidenversicherung erhöht man lieber weiter den Druck auf die Betroffenen und denkt, so zum Erfolg zu kommen. Und die Betroffenen müssen als menschliche Versuchskarnickel herhalten. Sinnvoll ist das nicht.

See me – I’m a person not a label

Plakate aus der mehrjährigen Schottischen Kampagne «see me» gegen Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Great.

Davon ist die Schweiz noch Lichtjahre entfernt. Hierzulande hat man noch nicht begriffen, dass Arbeitsintegration nicht ohne soziale Integration funktioniert. Solange Menschen mit psychischen Erkrankungen von einem Grossteil der Schweizer Bevölkerung ausgegrenzt, stigmatisiert und nicht als Mitarbeiter oder Arbeitskollegen akzeptiert werden, braucht man sich auch nicht wundern, wenn die Betroffenen aus der Arbeitswelt herausfallen.

Verschenktes Potential durch Zwang zur «Normalität»

Stigmatisierende Konzepte in der beruflichen Rehabilitation

Ein Artikel von Anna Domingo und Niklas Baer erschienen in «Psychiatrische Praxis» -> vollständiger Artikel als PDF

Auszüge:

(…)Alle, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, wissen, wie oft man sich hilflos, frustriert, verärgert fühlt und wie schwierig es ist, Menschen zu begegnen, die große Fähigkeiten haben und diese wegen ihrer Krankheit nicht umsetzen können. Das Aushalten dieser Tatsache ist enorm anstrengend und oft eben „kaum auszuhalten”. Das „nichtaushalten” dieser Realität kann dazu führen, dass es diese Realität nicht mehr geben darf. (…) Das Verleugnen der Krankheit und deren Folgen ist eine typische Abwehrstrategie, die dazu dienen sollte, den Umgang mit der hoch belastenden Realität psychisch Kranker zu erleichtern.

(…) In der inneren Welt eines psychisch kranken Menschen gibt es andere Prioritäten als Ordnung. Ihr Alltag ist oft mit einer einzelnen Frage besetzt: Wie kann ich meinen psychischen Schmerz etwas lindern? (…) Es ist nicht hilfreich, der intrapsychischen Welt des psychisch Leidenden eine äußere Ordnung und – von psychisch nicht kranken Menschen festgelegte – Normalitätskriterien aufzudrängen.

(…) Die Rehabilitation hat sich jedoch zunehmend erzieherischen Prinzipien angenähert, die zum Ziel haben, die psychisch kranke Person durch pädagogische Interventionen „zu verbessern”. (…) Erfolg bedeutet in der Rehabilitation, normal zu funktionieren und zurückzukehren in den allgemeinen Arbeitsmarkt, in die Welt der Normalen, die ihr Brot selber verdienen. Je nach Rehabilitationseinrichtung schaffen das etwa 70 – 95 % der Klientinnen nicht, und wir wissen im Voraus, dass dieses Ziel unter den heutigen Bedingungen oft nicht erreicht werden kann. Die meisten Menschen, die berufliche Rehabilitation benötigen, sind sehr krank, und viele von ihnen werden nie ein ganzes Pensum arbeiten können. Sie werden jedoch weitertrainiert, um dieses unerreichbare Ziel zu erreichen – die Normalität. Psychisch Behinderte normalisieren zu wollen, beinhaltet eine klare Wertung: Normal sein hat mehr Wert als psychisch krank zu sein. Das ist stigmatisierend.

(…) Ein weiteres Konzept verhindert die Integration psychisch kranker Menschen in der Gesellschaft: Die Überbewertung des Willens. Psychisch kranke Menschen müssten arbeiten wollen und höhere Leistungen bringen wollen, sonst sei eine Eingliederung nicht möglich. Können und wollen werden leicht verwechselt, da die Behinderung des psychisch Kranken nicht äußerlich zu erkennen ist wie bei anderen Behinderungen.(…) Niemand würde einem blinden Jugendlichen sagen, er solle sich mehr Mühe geben, dann werde er wieder besser sehen und normal arbeiten können.

(…) Die Energie, die heute durch einen unerfüllbaren und deshalb resignationsfördernden Normalitätsanspruch gebunden wird, wäre wieder frei. Diese Energie wird dringend benötigt, um die fachliche Weiterentwicklung zu fördern und um die Idee umzusetzen, dass psychisch kranke Menschen viel beitragen können, wenn sie sich unterscheiden dürfen.

Freiwillige Zwangsmedikation

Immer wieder machen die IV-Stellen der beiden Basel psychisch Kranken genaue Auflagen, zum Beispiel, dass sie Medikamente einnehmen müssen. Befolgen die IV-Bezügerinnen oder -Bezüger die Auflagen nicht, droht ihnen der Verlust der Rente. Dies schreibt die Zeitschrift «Gesundheitstipp». Das Bundesamt für Sozialversicherungen sei angeblich klar gegen diese Praxis: «Wir haben die IV-Ärzte in der ganzen Schweiz schon vor einigen Jahren informiert, dass sie auf das Vorschreiben einer spezifischen Behandlungsmethode verzichten sollen», sagt Christian Müller vom BSV im «Gesundheitstipp».

Nicht nur die Basler Behörden und RAD-Ärzte haben indessen diese «Information» wohl verschlafen, auch andere IV-Stellen in der ganzen Schweiz schreiben psychisch Kranken auch entgegen der Empfehlungen der behandelnden Ärzte und Therapeuten sowohl Art und genaue Menge (!) der Medikation vor. Überprüft wird die Einnahme mittels regelmässiger Blutkontrollen. Selbstverständlich basieren Medikamenteneinnahme und deren Kontrollen auf «freiwilliger Basis» oder wie es der Leiter der IV-Stelle Baselland, Reto Baumgartner, formuliert:

«Wir zwingen niemanden zur Therapie, wir geben nur Empfehlungen.» Dem IV-Bezüger sei es freigestellt, der Empfehlung zu folgen. Er habe aber eine Mitwirkungspflicht, hält Baumgartner fest. Und die hat Konsequenzen: «Ein Nichtbefolgen der Empfehlungen kann, muss aber nicht zum Rentenverlust führen.» Von einem Zwang will Baumgartner trotzdem nicht sprechen.

Sparen auf Kosten der Frauen

Dass die Einschätzung des Invaliditätsgrades bei Hausfrauen regelmässig markant tiefer ausfällt als in ihrem vorherigen Beruf, hat bei der IV System. Könnte das möglicherweise auch etwas damit zu tun haben, dass diese sogennanten «Haushaltabklärungen» von einer/m IV-SachbearbeiterIn vorgenommen werden, während die Einschränkungen im beruflichen Umfeld auch bei ungelernten Hilfsarbeitern durchwegs von Ärzten beurteilt werden? (Honi soit qui mal y pense)

In der Nationalfondsstudie «Knappes Geld – ungleich verteilt, Gleichstellungs-defizite in der Invalidenversicherung» von 2001 stellten Katerina Baumann und Margareta Lauterburg bereits fest: «Auch zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Gleichstellungsartikels der Bundesverfassung ist Gleichstellung der Geschlechter in der IV nicht verwirklicht. Frauen erhalten deutlich weniger Leistungen als Männer. Der Grund ist nicht einfach, dass Frauen weniger von Invalidität betroffen wären als Männer. Er liegt vielmehr in den zahlreichen direkten und indirekten Benachteiligungen durch die geltende Rechtsordnung.»

Auch die IV-Statistik für 2009 zeigt immer noch bedeutend mehr männliche Rentenbezüger als weibliche auf: 163’412 Männer und  128’142 Frauen beziehen aktuell eine IV-Rente. Wobei Frauen prozentual viel öfter nur Teilrenten erhalten, während die Männer bei den Vollrenten massiv übervertreten sind. Und trotzdem spart die IV weiter explizit auf Kosten der Frauen:

– bei der 4 + 5. IV-Revision wurden die Zusatzrenten für den pflegenden Ehepartner (meist ist dies die Ehefrau) gestrichen: 2007, vor Aufhebung der Zusatrenten erhielten 56’717 Ehefrauen und 16’821 Ehemänner eine Zusatzrente.

– Menschen mit Somatoformen Schmerzstörungen erhalten keine IV-Rente mehr: Frauen haben für dieses Krankheitsbild gegenüber Männern ein um 50% erhöhtes Erkrankungsrisiko

– Fibromyalgie wurde aus dem Leistungskatalog der Invalidenversicherung ausgeschlossen: 85 bis 90 Prozent der Betroffenen dieser Krankheit sind Frauen

– Ebenfalls keine IV-Leistungen erhalten CFS-Betroffene (Chronisches Erschöpfungssyndrom) ca. 75 % der Erkrankten sind Frauen.

-Das Assistenzbudget, welches im Rahmen der 6. IV-Revision eigeführt werden soll, sieht keine Enschädigungsmöglichkeit für pflegende Angehörige vor. Des weiteren ist das Assistenzbudget nur für volljährige IV-Bezüger vorgesehen. Gratissarbeit von pflegenden Müttern und Ehefrauen und andern (meist weiblichen) Verwandten wird einmal mehr als selbstverständlich angesehen.

Eine »riesiges Einsparpotential» ortet nicht nur die SVP oder neuerdings die FDP, sondern auch das BSV (Bundesamt für Sozialversicherungen) bei den «psychischen Störungen» und wen wunderts: Frauen sind deutlich häufiger vom psychischen Störungen betroffen als Männer. Frauen erkranken zb. doppelt so häufig an Angststörungen.

Leider ist aus der aktuellen Statisktik des BSV nicht ersichtlich, wieviele Frauen und Männer jeweils aus psychischen Gründen eine IV-Rente beziehen. Eine Statikstik von 2005 zeigt aber auf:
Es sind 47 000 Männer und 44 000 Frauen. Was heisst das nun: Frauen beissen eher die Zähne zusammen, obwohl sie deutlich häufiger von psychischen Leiden betroffen sind? Oder: Sie bekommen trotz Leiden nach wie vor seltener eine IV-Rente zugesprochen? Oder: Frauen sind halt einfach hysterisch und deshalb die wahren Scheininvaliden, darum ist es völlig in Ordnung, wenn diese seltener eine IV-Rente bekommen…?