[1/7] Für psychisch Kranke werden die Hürden zu einer IV-Rente immer höher – Wie konnte das passieren?

Der folgende Artikel ist der erste Teil einer siebenteiligen Serie. Anstoss dazu war ein gewisses öffentliches Erstaunen im Bezug auf aktuelle Entwicklungen bei der Invalidenversicherung. Meine spontane Reaktion auf dieses Erstaunen war in etwa: Guten Morgen, haben Sie / habt ihr die letzten 14 Jahre gut geschlafen?

Um die politischen Geschehnisse rund um die IV über die letzten 14 Jahre hinweg aufzuzeigen, müsste man ein sehr dickes Buch schreiben. Deshalb skizziere ich nur einige ausgewählte Schwerpunkte und Zusammenhänge, die meiner Meinung nach eine wichtige Rolle dabei spielten, wie es zur heutigen Situation gekommen ist. Ich orientiere mich dabei mehr an einzelnen Themenbereichen, als an einer strikten Chronologie.

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In der Schweizerischen Ärztezeitung (SAEZ) erschien am 14. Juni 2017 ein Artikel der Psychiaterin Doris Brühlmeier, der für Aufsehen sorgte. Er beginnt so:

Es muss ca. 2005 gewesen sein: Die damals 59-jährige, schwer psychisch kranke Frau Z. sass zitternd und untröstlich weinend da: «Sie wollen uns die IV-Rente wegnehmen!» «Sicher, ganz sicher nicht», versuchte ich zu beruhigen, «wissen Sie, die Renten sind unantastbar.» «Doch doch, die grösste Partei will unsere Renten stoppen, es stand im ‹Tagi›, wir heissen jetzt Scheininvalide.» «Niemals wird das möglich werden, in ganz ­Europa nicht. Wie gesagt: Die Renten sind und bleiben unantastbar.» Ich war überzeugt, das richtige Argument gefunden zu haben. Aber, wie recht die Patientin behalten sollte!»

Brühlmeier beschreibt in der Folge, wie immer mehr ihrer PatientInnen trotz schwerer psychischer Erkrankung keine IV-Rente erhalten oder ihre langjährige Rente verlieren. Sie verschickte deshalb letztes Jahr Fragebögen an 50 Psychiater und Psychiaterinnen in den Kantonen Aargau und Zürich, um herauszufinden ob diese bei ihren Patienten Ähnliches beobachten. Sie erhielt 13 Fragebogen zurück. Daten von insgesamt 402 Patienten flossen in ihre Auswertung ein, die – so Brühlmeier – belegen würden, «dass hier offensichtlich ist eine humanitäre ­Katastrophe im Gange sei». Die Rentaufhebungen oder Verweigerungen führten häufig zu Sozialamtabhängigkeit, vermehrter Krankheit, Hospitalisationen und Armut.

Brühlmeiers Untersuchung ist zwar nicht repräsentativ, dennoch berichtete am 28. Juni 2017 sogar die NZZ unter dem Titel «IV-Revision: Endstation Sozialhilfe» über die Resultate. Bemerkenswert sind im NZZ-Artikel auch die Zahlen der IV-Stelle Zürich:

Bei 459 Personen wurde im letzten Jahr die IV-Rente gestoppt, und bei 136 Personen wurde sie herabgesetzt. Gemäss Aloisi haben 213 Betroffene – also weniger als die Hälfte – in der Folge eine Stelle gefunden, weil sie mit Eingliederungsmassnahmen begleitet wurden. Sie sei sich mit Brühlmeier Rosenthal einig, dass die «Arbeitsintegration nach einer Rente sehr anspruchsvoll» sei, diese könne teilweise Jahre dauern.

Am 17. Juli 2017 berichtete 10vor10 (wie vorher schon der Tages Anzeiger – allerdings hinter der Paywall) darüber, dass Menschen mit «mittelgradigen Dperessionen» keine IV-Rente mehr erhalten, solange sie nicht beweisen können, dass sie unheilbar krank sind. Im Interview gab sich der IV-Chef Stefan Ritler unwissend: Er könne darin überhaupt keine Verschärfung erkennen. Die Zahl der Personen, die auch psychischen Gründen neu eine Rente bekommen, habe sich nämlich in den letzten Jahren nicht verändert.

Schaut man sich nur die Zahlen der letzten fünf Jahre an, liegen die Neurenten aus psychischen Gründen tatsächlich einigermassen stabil zwischen 5’800 und 6’300 (Der Witz an Ritlers Aussage ist allerdings, dass die verschärfte Rechtsprechung im Bezug auf «mittelschwere Depressionen» schon seit 2012 gilt – die Medien haben das Thema einfach erst jetzt aufgeriffen). Im Jahr 2008 lagen die Neurenten noch über 7000 und der Höchststand lag 2003 bei 11’000. Insgesamt (das heisst, alle Gebrechenscodes inbegriffen) bezogen 2003 knapp 28’000 Versicherte neu eine IV-Rente. 2016 waren es nur noch 14’000 (→ IV-Statistiken). Eine Halbierung der Neurentenzahl bedeutet keine Verschärfung bei der Rentenzusprache? Nun äh… ja.

Man könnte als IV-Chef natürlich argumentieren, dass heute viel mehr Versicherte erfolgreich eingegliedert werden und deshalb keine IV-Rente brauchen. Das wäre ja irgendwie noch eine gute Erklärung, die man als IV-Chef bringen könnte. Nur leider gibt es weder vom BSV noch von der IVSK detaillierte Zahlen dazu, wieviele Menschen mit psychischen oder somatoformen Störungen erfolgreich – also nachhaltig – eingegliedert wurden. Deren Eingliederung läuft nämlich eher suboptimal. Eine BSV-Untersuchung von 2015 zeigte ausserdem auf, dass 17% derjenigen, die einen ablehnenden IV-Entscheid erhalten, zwei Jahre später auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Man kann davon ausgehen, dass es eher nicht die Rollstuhlfahrer sind, die in der Sozialhilfe landen. Noch nicht. Aber bei den psychischen geht das schon in Ordnung.

In der Radio-Sendung Echo der Zeit vom 9. Juli 2017 beantwortete Ritler jedenfalls die Kritik der Psychiaterin Doris Brühlmeier damit, dass ja niemand durch das soziale Netz falle. Personen, die in soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen und kein Anrecht auf eine Invalidenrente haben, würden von der Sozialhilfe unterstützt.

Ritler dürfte oder sollte als IV-Chef eigentlich bekannt sein, dass Menschen mit gesundheitlichen Problemen in der Sozialhilfe nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Sie können beispielsweise nicht an spezifisch auf ihre Probleme zugeschnittenen Integrations- oder Beschäftigungsprogrammen teilnehmen, da diese nur über die Invalidenversicherung finanziert werden. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass die Psychiaterin Brühlmeier in ihrer Untersuchung feststellte, dass diejenigen Patienten, welche eine IV-Rente erhalten, dadurch psychisch stabilisiert werden und deutlich häufiger als die Sozialhilfebezüger – zumindest in einem kleinen Pensum – arbeiten. Rentenverweigerungen scheint als «Anreiz» für vermehrte Erwerbstätigkeit zumindest bei psychisch Kranken nicht ganz optimal zu funktionieren.

Doch wie sind wir eigentlich an den Punkt gekommen, wo der IV-Chef seelenruhig sagt, dass Menschen mit gesundheitlichen Problemen halt zur Sozialhilfe sollen? Die bequeme Erklärung wäre: «Die SVP ist schuld!» – Ganz so einfach ist es allerdings nicht.

Eine Rückblende (aus Die IV – Eine Krankengeschichte, 2007, Hrsg. Avenir Suisse):

Die reaktive Vorgehensweise des BSV bei aufkommenden Herausforderungen lässt sich am Problem des Wachstums von psychisch bedingten Invaliditäten belegen. Schon in den 1980er­ Jahren hatte sich ein bedeutendes Wachs­tum dieser Anspruchsgruppe abgezeichnet. Die NZZ titelte im April 1988: «Psychische Krankheiten häufigster Invaliditätsgrund», und führte dazu aus: «Der Vergleich der Statistiken 1982 und 1987 zeigt, dass die psychischen Krank­heiten deutlich häufiger geworden sind. (…) Sie sind jetzt mit einem Anteil von insgesamt 29 Prozent an der Spitze der invalidisierenden Krankheiten» (NZZ 1988). Trotz dieser alarmierenden Entwicklung ergriff das BSV lange keine Massnahmen. Es wurden weder Untersuchungen über die Ursachen für diese Entwicklung noch über die Bedürfnisse dieser neuen Anspruchs­gruppe durchgeführt. Auch die 3. IV-­Revision 1995 und die 4. IV-Revision [in Kraft ab] 2004 ignorierten die Problematik.

Das war die Situation, in der Christoph Blocher in einem Interview mit dem Tages Anzeiger im Juni 2003 den Begriff «Scheininvalide» lancierte. Die Idee zur Kampagne stammte von Nationalrat Toni Bortoluzzi, den das Schweizer Fernsehen nach seinem Rücktritt 2015 in der Sendung «Reporter» portraitierte:

Als SVP-Experte für Gesundheits- und Sozialpolitik wusste Bortoluzzi freilich genau: Wenn er von «Scheininvaliden» sprach und – stark moralisierend – so das IV-Problem auf das simulierende, hypochondrische, betrügerische Individuum reduzierte, bildete er nur einen kleinen Teil eines komplexen Vorgangs ab. Aber er wusste auch: So funktioniert Politik. Die Medien und die übrigen Parteien, im wenig reflektierten Anti-SVP-Reflex, tappten einmal mehr in die ausgelegte Falle. Es gebe keinen Missbrauch, alle Rentenbezüger seien als «schwächste Glieder der Gesellschaft» vor jeder kritischen Frage zu schützen, das Wort «scheininvalid» sei «diffamierend». Voilà, das Thema hatte gezündet.

Dass er als treibende Kraft hinter der Kampagne verantwortlich dafür ist, dass IV-Bezüger quasi unter den Generalverdacht des Sozialschmarotzertums geraten sind und damit vermutlich viele von ihnen tief verletzt wurden, bedauert Bortoluzzi heute. Aber es habe keine andere Möglichkeit gegeben, eine dringend nötige Debatte über die ausufernden Defizite der IV in Gang zu setzen. Darum seien die wahren Schuldigen jene, die allzu lange die Augen verschlossen hätten vor den Missständen.

via: srf Reporter, 2015 

Ich übersetze die Bedeutung von Bortoluzzis Aussage mal sinngemäss:
«Sie hat so einen kurzen Rock getragen, darum musste ich sie vergewaltigen. Der kleine Kratzer an ihrem Knie tut mir leid. Ging aber nicht anders.»

Forsetzung: Bullshitter-in-Chief

Hirnstrommessungen – Die Presseschau

«Luzern leistet Pionierarbeit» – hiess der Artikel in der Zentralschweiz am Sonntag vom 5. Januar 2014, der den BlätterMedienwald ins grosse Rauschen brachte. Seither gab es unzählige Artikel/Fernseh- und Radiosendungen über die pionierhafte IV-Stelle Luzern, die mittels Hirnstrommessungen auf Betrügerjagd geht. Auf einige ausgewählte Artikel/Sendungen möchte ich hier hinweisen.

Da mir der ursprüngliche Artikel aus der ZaS bei meinem letzten Artikel zum Thema noch nicht vorlag, hier allerdings erstmal eine weitere Folge aus unserer unbeliebten Serie «IV-Direktor Locher nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau», in der ZaS ist nämlich zu lesen:

«Die mit Abstand häufigste Invaliditätsursache in der Schweiz sind psychische Krankheiten. (…) Dies bereitet Donald Locher, Direktor der Luzerner IV-Stelle Sorgen: «In der Schweiz stellen wir in den vergangene Jahren eine deutliche Zunahme an psychisch bedingten IV-Renten fest» sagt er.
Das geht ins Geld. Ganz anders ist die Entwicklung im OECD-Raum. Hier ist die Anzahl an Renten aufgrund von psychischen Erkrankungen seit Jahren stabil. Deshalb entschloss sich die IV-Luzern vor zwei Jahren, bei komplexen Fällen neue Wege zu beschreiten(…).

Die OECD sieht das allerdings ein kleines bisschen anders als Herr Locher: «Over the past two decades, most OECD countries have seen a sharp increase in the number and share of people claiming disability benefit on the grounds of mental ill-health» (Quelle: «Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work» OECD 2012) Deshalb untersucht die OECD im seit einigen Jahren laufenden Forschungsprogramm «The OECD Mental Health and Work Project» die Hintergründe der steigenden Invaliditätsraten aufgrund psychischer Erkrankungen in den OECD-Ländern.

Als einziges Medium im ganzen «Hirnscanrummel» deutet die WOZ  in ihrem Artikel «Anleitungen zur Kränkung» vom 16.1.2014 zumindest darauf hin, dass sich die Problematik der steigenden Invaliditätsraten aus psychischen Gründen wohl kaum mit – notabene unwissenschaftlichen – Abklärungsmethoden aus der Welt schaffen lässt. Psychiater Daniel Hell in der WOZ: «Noch in den fünfziger Jahren arbeiteten in der Schweiz 75 Prozent der Beschäftigten hauptsächlich körperlich. Logischerweise waren die Folgeschäden vor allem körperlicher Art. Heute arbeiten 75 Prozent der Beschäftigten vorwiegend mental. Die Belastungsstrukturen haben sich also vom Körperlichen ins Psychische verschoben – und damit auch von objektivierbaren zu weniger objektivierbaren Beschwerdebildern.»

Und ausserdem: «Eine nicht notwendige Hirnstrommessung kann eine weitere Kränkung in der Krankheitsgeschichte der Betroffenen bedeuten», sagt dazu Daniel Hell. «Der Patient befindet sich in einer schamvollen Situation, indem ihm misstraut wird und er zum blossen Objekt gemacht wird. Ich erlebe immer wieder, dass ein Patient nach einer solchen Abklärung noch bedrückter ist als vorher.»

Da liegt aus meiner Sicht der eigentliche Punkt an der ganzen Sache. Der Luzerner IV-Dirkektor Donald Locher wollte sich auf Kosten psychisch kranker IV-Bezüger mit seiner «innovativen Pionierarbeit» profilieren. Man hätte das Ganze aber auch ohne allgemeinen Missbrauchsverdacht und ohne Angaben falscher Tatsachen (Siehe oben, Stichwort OECD) kommunizieren können. Etwa so: «Wir machen hier aktuell einen (wissenschaftlich begleiteten) Versuch, indem wir bei IV-Antragstellern mit den Beschwerdebildern X, Y, Z EEG’s ergänzend zur genaueren Abklärung einsetzen. Das ganze basiert auf folgender Methode, die laut Studien A, B, C folgende Aussagen zulässt: (…)».

Aber nein, Locher und seine Kollegen Dr. Peter Balbi (Leiter RAD Zentralschweiz, Internist) und der Psychiater Horst-Jörg Haupt (der die Hirnstrommessungen innitierte und auch durchführt) wählten einen anderen Weg. Am Netzwerkapéro des Luzerner Forum für Sozialversicherungen und Soziale Sicherheit vom 4. November 2013 referierten sie zum Thema «Innovative IT-Diagnoseinstrumente bei der Abklärung von psychischen Störungen in der IV». Die entsprechende Präsentation (als PDF) fällt vor allem durch eines auf: keine einzige Quellenangabe, keine Studien oder sonstige Referenzen, nur leere Behauptungen. Aber schön bunte Bilder, die zb. eine Depression «zeigen»:
qeeg_depression

Kleine Rinks-Lechts-Schwäche haben sie auch die Autoren (Danke @vivereintristitiaetanxietas für den Hinweis) Wie gesagt, keine Angabe der Bildquelle. Das könnte daran liegen, dass das alles auf sehr wackligen wissenschaftlichen Beinen steht. Neurologe Jan Conradi von der psychiatrischen Uniklinik Zürich sagt es in der empfehlenswerten Puls-Sendung vom 13.1.2014 deutlich: Ihm sei keine wissenschaftlichen Untersuchungen bekannt, wonach man mittels eines EEGS spezifische psychische Erkankungen oder deren Schwerergrad nachweisen konnte. Aber hey, der Innerschweizer Feld-Wald-Wiesen-Psychiater Horst-Jörg Haupt, dessen fachlicher Schwerpunkt laut Internet vor allem im engagierten Kampf für die Rechte Transsexueller besteht, weiss da sicher mehr als der Kliniker Conradi. Nicht falsch verstehen, die Rechte transsexueller Menschen sind ein überraus wichtiges Thema, nur weiss ich nicht genau, inwiefern dieses Schwerpunktthema Horst-Jörg Haupt dafür qualifizieren soll, mittels EGG-Messungen bei IV-Antragstellern psychische Krankheiten zu erkennen.

Haupt gibt sich dann auch in der NZZ von heute 18. Januar 2014 unter dem Titel «Zusätzliches Puzzleteil für die IV» auf einmal betont zurückhaltend: «Bei dieser Beurteilung sei man zudem äusserst vorsichtig, ergänzt Haupt. So sei ein auffälliger ERP-Befund nur dann für den Rentenentscheid relevant, wenn andere Untersuchungen, allen voran die neuropsychologischen Tests, in die gleiche Richtung zeigten. Umgekehrt führten «normale» ERP-Werte nicht automatisch zur Verweigerung der Rente, solange andere Tests eine klare Sprache sprächen. Diese Zurückhaltung sei nötig, weil in rund zehn Prozent der Fälle die ERP-Untersuchung trotz Funktionsstörung «stumm» bleibe.»

10% Fehlerquote? Hatte Herr Locher zu Beginn der ganzen Debatte nicht stolz betont, man hätte mittels der Untersuchungen genau feststellen können, dass 60% der Untersuchten ihre Beschwerden übertrieben und 40% untertrieben hätten? Ergo sagen also laut Locher/diesen Untersuchungen genau 0% der IV-Antragsteller die Wahrheit (?)

Ich hoffe, der Reputationsschaden für Herrn Lochers Glaubwürdigkeit ist mindestens so gross, wie derjenige den er hier – einmal mehr – den IV-Bezügern mit einer psychischen Krankheit angetan hat. Aber wenn ich das heutige Interview mit Herrn Ritler in der NZZ lese, habe ich so meine Zweifel, denn Herr Ritler findet: «Es darf nicht sein, dass die IV wichtige Erkenntnisse der Wissenschaft verpasst».
Humor hat er ja. Oh, er meint das ernst? Nun dann, soweit ich weiss, forscht die Wissenschaft auch kräftig daran, Biomarker bei chronischen Schmerzen ausfindig zu machen. Viel Spass dann mit den entrenteten Schmerzpatienten, die plötzlich alle auf einem EPR bestehen.

Da wird die Firma HBimed, welche Software und Untersuchungsmaterial anbietet, noch gute Geschäfte machen. Falls die bannbrechende Forschung der Firmengründer Dr. Andreas Müller (Chur) und Prof. Dr. Juri Kropotov (Russland) irgendwann auch noch in der Fachwelt breite Annerkennung findet. Moment, wozu wissenschaftliche Anerkennung von Fachleuten, wenn’s Herr Ritler und Herr Locher «wissenschaftlich» finden, reicht das doch… Gibt ja noch genug IV-Stellen in der Schweiz, die man mit dem Equipement beliefern kann…

Ergänzung 16. Februar 2014: In der NZZ diskutieren der Psychiater Michael Rufer und der Neuroinformatiker Enno Stephan über die Chancen neuer Technologien zur Krankheitserkennung: Erfasst der Blick ins Hirn die Psyche?
Auszug: Die IV will damit beweisen, ob jemand simuliert oder nicht. Ist das möglich?
Rufer: Nein, das ist wissenschaftlich absolut unhaltbar. Im Einzelfall kann man nie sicher sagen, wie das Ergebnis zu bewerten ist. Und ausserdem müsste bei der Interpretation das ganze Setting mit einbezogen werden: Lässt jemand freiwillig seine Hirnströme messen, wie beispielsweise im Rahmen von Forschungsprojekten, funktioniert das Gehirn ganz anders als in einer Stresssituation. Steht jemand unter Druck und ist nervös, verändert das die biologischen Reaktionen des Gehirns.

Herr Ritler erklärt, was das Wort von Bundesrat Burkhalter wert ist

Weil das Verwaltungsgericht Bern befand, «dass eine generalisierte Angststörung denselben sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen sei, wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bzw. wie sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» hatte ich gefragt «Was ist Ihr Wort wert, Herr Bundesrat Burkhalter Denn Herr Burkhalter hatte im Rahmen der Diskussionen zur IV-Revision 6a im Dezember 2010 beteuert, dass er die klassischen psychischen Krankheitsbilder «für objektivierbar halte» und diese selbstverständlich nicht von der vorgesehenen Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern betroffen sein würden. Ich merkte damals an, dass es den Gerichten wohl einst herzlich egal sein würde, wie Herr Burkhalter persönlich den Gesetzestext auslegt, gelten würde schlussendlich einzig das was im Gesetz steht – und praktisch alle psychischen Krankheiten sind nun mal per Definition «pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage».

Und die Richter aus Bern sehen das mit der Objektivierbarkeit einer Angststörung (eine ganz klar diagnostizierbare «klassische» psychische Erkrankung) nun offenbar tatsächlich ganz anders als Herr Burkhalter.

Wie das Alles zu interpretieren ist, hat mir dann Herr Ritler, der Leiter der Invalidenversicherung, in einer Mail erklärt. Und ich hätte das wirklich gerne in wenigen Zeilen für meine Leserinnen und Leser zusammengefasst (siehe den rot eingefärbten Text weiter unten) nur: ich musste kapitulieren. Ich hab sehr sehr lange darüber nachgedacht, aber ich hab’s offenbar schlichtweg nicht verstanden.

(Hervorhebungen wie im Original)

Sehr geehrte Frau Baumann

Wir beziehen uns auf Ihr E-Mail vom 23. Mai 2011 an Herrn Crevoisier und äussern uns zu Ihren Fragen in Bezug auf die Schlussbestimmung der 6. IV-Revision wie folgt:

Wie Sie richtig schreiben, hat Bundesrat Burkhalter in der parlamentarischen Diskussion und zu Handen der Materialien ausdrücklich festgehalten, dass die Überprüfung von laufenden Renten im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a nur Beschwerdebilder umfasst, die von einem Arzt in objektiver Weise nicht erfasst werden können, d.h. Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind, wie somatoforme Schmerzstörungen, Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrom, Neurasthenie, dissoziative Bewegungsstörung, Distorsion der HWS.

Ebenfalls ausdrücklich festgehalten hat er, dass im Rahmen der Schluss-bestimmung keine Überprüfung von Beschwerdebildern erfolgt, bei denen eine Diagnose gestützt auf klinische (psychiatrische) Untersuchungen klar gestellt werden kann, wie Depressionen, Schizophrenie, Psychosen wie Zwangsstörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen. Aus unserer Sicht sind auch die im Verwaltungsgerichtsentscheid des Kantons Bern genannten Angststörungen objektivierbar und stellen eindeutig diagnostizierbare Gesundheitsstörungen dar.

Diese Aussagen bestätigen wir und sie entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers, wie dies die Protokolle der Parlamentsdebatte deutlich zeigen. Wir versichern Ihnen, dass es nicht im Interesse des Bundesrates ist, psychisch behinderte Menschen von der IV auszuschliessen. An dieser Haltung ändert auch der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. März 2011 nichts.

In diesem Zusammenhang halten wir in genereller Art fest, dass von der Invalidenversicherung immer – und zwar unabhängig von der Art des Leidens – zu prüfen ist, ob eine Person trotz einem vorhandenen Leiden erwerbsfähig ist oder nicht und falls ja, in welchem Umfang. Dies ist in Artikel 8 Absatz 1 ATSG festgehalten:„Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit“. Diese versicherungs-rechtliche Prüfung findet in jedem Fall und unabhängig von einer Diagnose statt. Das ist nicht neu. Ebenfalls nicht neu ist, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung nicht massgebend ist. Dies entspricht einer mehrjährigen Bundesgerichtspraxis, die im Rahmen der 5. IV-Revision in Artikel 7 Absatz 2, zweiter Satz ATSG aufgenommen wurde: „Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsun-fähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.“

Im Rahmen der Schlussbestimmungen der Revision 6a geht es nun darum, Beschwerdebilder, bei denen die Medizin an ihre Grenzen stösst und eine entsprechende Diagnose einzig gestützt auf subjektive Aussagen der Patienten beruht, unter den dargelegten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erneut zu überprüfen. Davon betroffen sind – wie bereits erwähnt – Beschwerdebilder, die mit klinischen Tests heute (noch) nicht messbar sind.

In Bezug auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern können wir uns wie folgt äussern:

  • Bei diesem Entscheid handelt es sich um die erstmalige Beurteilung eines Rentengesuchs. Das Gericht kommt darin zum Schluss, dass die generalisierte Angststörung und ihre Folgen in diesem konkreten Fall mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind (versicherungsrechtliche Überprüfung).
  • Demgegenüber geht es bei den Schlussbestimmungen um die Überprüfung von laufenden Renten (während drei Jahren nach Inkrafttreten der Gesetzesrevision). Der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts ist darauf nicht anwendbar. Wir versichern Ihnen, dass der Wille des Gesetzgebers in die Umsetzungsarbeiten der Revision 6a einfliessen wird.

Wir hoffen, Ihnen mit diesen Ausführungen zu dienen und grüssen Sie freundlich

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV
Geschäftsfeld Invalidenversicherung

Ich hab dann nochmal nachgefragt:

Sehr geehrter Herr Ritler

Vielen Dank für Ihre Stellungnahme vom 1. Juni 2011. Da Herr Crevoisier den Wunsch geäussert hat, Ihre Antwort möge den Weg auf meinen Blog finden, möchte ich mich kurz versichern, ob ich alles richtig verstanden habe und für meine Leser (die zum überwiegenden Teil keine Juristen sind) das Ganze folgendermassen zusammenfassen kann:

1. Das BSV hält Angststörungen bei laufenden IV-Renten für objektivierbare Gesundheitsstörungen und zählt sie deshalb ausdrücklich nicht zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage. Aus diesem Grund werden bestehende Renten aufgrund von Angststörungen im Rahmen der Schlussbestimmung zur IV-Revision 6a nicht überprüft.

2. Das BSV hält Angststörungen bei erstmaligen Rentengesuchen für nicht objektivierbare Gesundheitsstörungen* und gibt deshalb weder Weisungen an die kantonalen IV-Stellen, dass die Försterkriterien für die versicherungsrechtliche Beurteilung bei Angststörungen nicht angewandt werden dürfen, noch würde es – sollte der Entscheid des Verwaltungsgerichtes Bern vom Bundesgericht gestützt werden – intervenieren.

3. Im Falle einer Bestätigung des Berner Urteils durch das Bundesgericht wäre dann auch Punkt 1 hinfällig, da es Sinn und Zweck der Schlussbestimmung ist, alte Renten nach dem selben Massstab wie Neurenten zu behandeln.

*Die von Ihnen vorgebrachte Darstellung, dass die Berner IV-Stelle wie das Verwaltungsgericht die Angststörung nur in diesem konkreten Fall für mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar halten, ist nicht schlüssig. Denn das Gericht argumentiert, dass in diesem konkreten Fall eine «Angststörung mit primär vegetativer Symptomatik» vorläge und es dementsprechend angezeigt sei, die Rechtssprechung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage zur Anwendung zu bringen.

Da schwere Angststörungen immer mit einer starken «vegetativen Symptomatik» einhergehen (die entgegen der Darstellung des Gerichtes niemals primär, sondern immer sekundär ist, da sie ja durch die primäre psychische Erkrankung erst ausgelöst wird – und demnach einerseits sehr wohl erklärbar ist und andererseits auch gar nicht organisch bedingt sein kann) handelt es sich hier nicht um einen Einzelfallentscheid, sondern um einen Grundsatzentscheid. Nach gängiger Rechtssprechung kann die selbe Diagnose nicht einmal als objektivierbar und ein andermal als nicht objektivierbar gelten.

Es ist irrelevant, ob in diesem konkreten Fall tatsächlich eine invalidisierende Angststörung vorliegt oder nicht, es geht darum, dass zur Überprüfung der Zumutbarkeit einer Willensanstrengung (wie bei den «nicht objektivierbaren Störungen») die Försterkriterien herangezogen wurden. Und dies mutet spätestens dann vollends absurd an, wenn die «zumutbare Willensanstrengung» aufgrund einer «fehlenden psychischen Komorbidität» bejaht wird. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine psychische Komorbidität bei einer nichtorganischen Schmerzerkrankung eine zumutbare Willensanstrengung verunmöglichen sollte, während im umgekehrten Fall, nämlich bei einer psychiatrischen Haupt(!)diagnose mit körperlichen Begleitsymptomen die generelle Vermutung besteht, dass sie mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sei – und davon nur dann ausnahmsweise abzusehen wäre, wenn eine weitere psychische Krankheit bestehen sollte. (Es besteht ja bereits eine klar diagnostizierte psychische Krankheit: Eine Angststörung nämlich).

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Für eine kurze Rückmeldung zu den eingangs aufgeführten drei Punkten wäre ich Ihnen sehr dankbar. Wie bereits erwähnt, möchte ich den Sachverhalt auch den Nicht-Juristen unter meinen Bloglesern verständlich und nachvollziehbar darlegen können.

Mit freundlichen Grüssen
Marie Baumann

Herr Ritler antwortete:

Guten Tag Frau Baumann

Wir haben Ihre Mail inhaltlich geprüft.
Ich bitte Sie, unseren Text vom 1. Juni 2011 für Ihren Blog zu verwenden. Auch wenn unsere Antwort und Aussagen technisch erscheinen mögen, so entspricht der Inhalt dem Sachverhalt.

Freundliche Grüsse

Stefan Ritler
Vizedirektor
Leiter Geschäftsfeld Invalidenversicherung

……………………………………………………………………………….

Ich habe deshalb vor einer Zusammenfassung kapituliert und mich entschieden, den ganzen Briefwechsel zu publizieren.
Ich möchte dazu aber noch kurz eine Aussage von Ralf Kocher, dem Leiter des Rechtsdienst der IV anfügen, welche er in einem Gespräch mit Rechtsanwalt Massimo Aliotta gemacht hatte: «(…) Das Hauptproblem sind nicht die Mitwirkungsrechte, sondern das grosse Misstrauen gegenüber der IV-Verwaltung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Anwälte potentiellen Klienten suggerieren, sie bräuchten von Anfang an einen Rechtsvertreter, sonst seien sie chancenlos.»

Also… wenn man als juristischer Laie schon beim Verstehen einer E-Mail des Leiters der Invalidenversicherung ziemlich chancenlos ist, steigert das das Vertrauen in die ganze Institution nicht unbedingt… Wenn der IV und ihren Mitarbeitenden tatsächlich etwas daran gelegen wäre, das Vertrauen in die Institution IV zu stärken, dann wäre eine transparente Informationspolitik das A und O. Die Kollegen vom EJPD haben da mal was Schönes zum Thema «offene Informationspolitik» formuliert – ob das EJPD diesen hehren Grundsätzen auch nachkommt, entzieht sich meiner Kenntnis, aber es klingt zumindest gut:

»Eine offene Informationspolitik ist nicht nur ein notwendiges Element der Meinungsbildung, sondern auch ein Instrument für Transparenz und Vertrauensbildung im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozess. Öffentlichkeitsarbeit dient nicht nur der Informationsvermittlung; sie prägt auch wesentlich das Bild mit, das sich das Publikum von Regierung und Verwaltung macht. Öffentlichkeitsarbeit ist deshalb als eine das gesamte Rechtsetzungsverfahren begleitende Daueraufgabe zu betrachten (also bereits während des Vorverfahrens) und nicht als „Anhängsel“, dessen man sich nach getaner Rechtsetzungsarbeit annimmt.»

Bei der Kommunikation zur Betrugsbekämpfung bekommt es die Invaliden-versicherung ja offenbar auch problemlos hin, das Ganze so simpel zu halten, dass es sogar der «einfache Mann von der Strasse» versteht.

Aber Menschen mit psychischen Erkrankungen genau mittels jener Argumentation von IV-Leistungen auszuschliessen, von welcher Bundesrat Burkhalter noch wenige Monate zuvor behauptet hatte, dass man sie garantiert NICHT auf klar diagnostizierbare psychische Erkrankungen anwenden würde – das ist in der Tat dem «einfachen Mann auf der Strasse» nur sehr schwer verständlich zu machen und kann auch kaum so verpackt werden, dass es als vertrauensbildende Massnahme durchgehen würde. Ich habe also durchaus Verständis für die Schwierigkeiten der Verantwortlichen bei der Invalidenversicherung dies logisch nachvollziehbar zu kommunizieren: Weil es nämlich (zumindest für mich) auch nach dem x-ten mal Durchdenken schlichtweg nicht logisch nachvollziehbar ist. Oder ich steh einfach wirklich ganz furchtbar auf der Leitung.

Der IV-Chef – ein Zyniker?

Stefan Ritler – seines Zeichens IV-Chef – hat keinen leichten Job. Egal was er sagt, von irgend einer Seite wird er garantiert kritisiert. Bisher war man als IV-Chef allerdings ganz gut beraten, wenn man sich einfach der von der (rechts-bürgerlichen dominierten) Politik vorgegebenen Leitlinie anschloss und – wie das Ritlers Vorgänger du Bois-Reymond tat – ausführlich über die Betrugsbe-kämpfung in der IV sprach. Denn gegen Betrugsbekämpfung konnte ja niemand ernsthaft etwas einzuwenden haben. Die wenigen leisen Einwände von wegen Persönlichkeitsschutz (bitte was?) von IV-Bezügern gingen im lautstarken Halali unter, als zur Jagd auf die betrügerischen Horden geblasen wurde. Die Horden von IV-Betrügern haben sich dann allerdings trotz immensem Aufgebot an Jägern und Jagdmethoden als ein ziemlich mickriges Hördchen herausgestellt.

Stefan Ritler hat nun die höchst undankbare Aufgabe, dem Volk beizubringen, dass das Milliarden-Defizit der IV – entgegen anderslautender Propaganda – leider leider nicht mit Betrugsbekämpfung zu beheben ist. Und dass deshalb sehr viele Menschen mit echten Beschwerden und Behinderungen von Leistungen der IV ausgeschlossen werden müssen. Das ist leider nicht ganz so populär wie es du Bois-Reymonds Aussagen zur Betrugsbekämpfung waren.

Ritlers Bemühungen, die einschneidenden Sparmassnahmen für die Betroffenen als positiv darzustellen, indem er im Tagesanzeiger «Arbeit als die beste Ablenkung vom Schmerz» pries, wurde von den meisten der rund 200 Kommentatoren dann auch gar nicht goutiert. Und der Tagesanzeiger stellte daraufhin eine Auswahl der Kommentare unter dem Titel «Ein Zyniker als oberster IV-Chef» zusammen.

Die Aussage an sich, dass eine Beschäftigung von Leiden ablenke, ist ja nun nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen. Dem würden wohl viele Menschen – auch solche mit chronischen Krankheiten und Behinderungen – durchaus zustimmen. Nur: ein Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft (wohin die Betroffenen laut Ritler eingegliedert werden sollen) ist nun mal keine Therapiestation. Ein Arbeitgeber stellt niemanden ein, damit derjenige sich von seinen Schmerzen oder sonstigen Leiden «ablenken» kann. Und schon gar niemanden, der aufgrund seines Leidens eingeschränkt leistungsfähig ist und ab und zu auch ganz ausfällt.

Das ist eine Realität, die ganz besonders Wirtschaftskreisen sehr wohl bewusst ist. Denn wäre die Integration von gesundheitlich beinträchtigten Menschen in die Arbeitswelt überhaupt kein Problem, hätten sich diese Kreise wohl kaum mit Händen und Füssen gegen die Einführung einer Quote gewehrt. Kurz: Man will Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen weder die Möglichkeit geben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, noch will man ihnen IV-Leistungen zugestehen.

Mal ehrlich, selbst wenn man grundsätzlich kein Zyniker ist, spätestens wenn man als IV-Chef eine solche Politik zu verteidigen hat wird man einer. Nicht Ritler ist zynisch, die politischen Vorgaben sind es.