[2/7] Bullshitter-in-Chief

Am 25. Oktober 2004 referierte der damalige Bundesrat Christoph Blocher vor der «Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft» über «Die Hauptprobleme der Schweiz und ihre Lösungen».  Zur Invalidenversicherung meinte er:

Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele nennen: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner. Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen. (…) Ebenfalls sehr hoch sind die Anteile jener IV-Bezüger, die über Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Schleudertrauma klagen.

Urs Paul Engeler bilanzierte in der Weltwoche (Ausgabe 49/2004) kurz darauf unter dem Titel «Und er bewegt uns doch» über das erste Jahr von Christoph Blocher als Bundesrat:

Im Verlaufe des Jahres ist die politische Rede freier geworden. Der von Blocher in die Umlaufbahn gebrachte Begriff «Scheininvalide» wurde Ende 2003 noch als «Unwort des Jahres» verdammt; in der zweiten Hälfte 2004 darf ganz offen über die Missbräuche gesprochen werden. Blocher selbst mokierte sich in seiner Zürcher Rede in aller Öffentlichkeit über die vielen neu-erfundenen Krankheiten, die heute eine IV-Rente auslösen: «Soziale Phobie, Internet-Sucht, Menopause, Schlafstörungen, Verstopfungen, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Vitaminmangel.» Der Aufschrei blieb diesmal aus. (…) Heute kann rational diskutiert werden. Einige Denk- und Sprechverbote sind gefallen.

Am 01.04.2005 verwendete Blocher den Textbaustein über die «Vielzahl neuer Krankheitsbilder» in einer Rede vor der Handelskammer Thurgau erneut.

16.04.2005 – Aus der SVP-Medienmitteilung «Goldvermögen nicht für IV verscherbeln!»

Jedes Jahr gibt die Invalidenversicherung IV rund 1,5 Mrd. Franken mehr aus, als sie zur Verfügung hat. Das ist alleine auf Missbrauch und eine lasche Praxis bei der Rentengewährung zurück zu führen. (…)
Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder wie etwa soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel dienen als kaum überprüfbare Gründe für den Einstieg in die so genannte Invalidität.

13.01.2006 – Der Thurgauer SVP-Kantonsrat Urs Martin empfiehlt in der Schweizerzeit: «Gönnen Sie sich Ihre IV-Rente»

Beziehen Sie eine IV-Rente? Nein? Dann wird es höchste Zeit, dass Sie sich ernsthaft überlegen, eine solche anzustreben. Man gönnt sich ja sonst nichts. Noch nie waren die Chancen auf eine IV-Rente so gut. (…) Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder wie etwa soziale Phobie, Internet-Sucht, Schleudertraumata, erhöhter Cholesterinspiegel (…) dienen als kaum überprüfbare Gründe und damit als Eintrittsticket in die monatliche staatliche Unterstützung bis zur Pension. Spätestens nachdem Sie obige Krankheitsbilder durchgegangen sind, werden Sie, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, feststellen, dass Sie sogar zu einer multiplen IV-Rente berechtigt sind. (…) Das IV-Rentner-Dasein ist doch viel angenehmer als dasjenige des „dummen“ Steuerzahlers, welche für die Renten aufkommen muss. Lassen Sie sich’s daher gut gehen und gönnen Sie sich Ihre IV!

03.03.2006 – Der heutige SVP-Bundesrat Guy Parmelin triumphiert: Die 5. IV-Revision ist massgeblich von der SVP geprägt worden

Unsere Partei ist in den letzten Jahren nie müde geworden, in zahlreichen Vorstössen die verschiedenen Ungereimtheiten und Missbräuche bei der IV anzuprangern. Die SVP nimmt mit Befriedigung zu Kenntnis, dass ihren Vorschlägen oft Rechnung getragen worden ist (…)

Weil man grad so gut im Schuss ist, zwischendrin noch bisschen «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen Auto- oder Motorradfahren»:
23.03.2007 – Motion von SVP-Nationalrat Alexander Baumann: Personen mit psychischen Defekten dürfen keine Motorfahrzeuge lenken:

Der Bundesrat wird aufgefordert, folgende Massnahme in die Wege zu leiten: Personen, die aus psychischen Gründen von bürgerlichen Pflichten (Militärdienst, Zivilschutz, Feuerwehr) dispensiert werden müssen, sowie Personen im Erwerbsalter, die aus psychischen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden oder sich darin nicht integrieren lassen, müssen vom Führen eines Motorfahrzeuges ausgeschlossen werden.

April 2007 Arbeitspapier der Schweizerischen Volkspartei im Hinblick auf die Eidgenössischen Wahlen 2007 (Untertitel: Dokumentation über die katastrophalen Auswirkungen der linken Politik der Neunzigerjahre), unter: «Zahlen, Daten, Fakten»:

Einstiegsgründe für IV-Renten: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause (…)

Wie sich das für «Fakten» gehört, wird auf die Quelle verwiesen: «Referat von Bundesrat Christoph Blocher vor der ‚Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft‘ in Zürich, 25. Oktober 2004.»

05.10.2007 – Aus der Motion «Haftung der Ärzte bei Beihilfe zur Scheininvalidität» der SVP-Nationalrätin Jasmin Hutter:

Ärzte definieren den Krankheitsbegriff zusammen mit den Versicherten täglich neu – mit dem Resultat, dass die Invalidenversicherung (und auch die zweite Säule und Ergänzungsleistungen) Milliardensummen für Fälle ausgibt, denen kein wirklich invaliditätsrelevanter Gesundheitsschaden zugrunde liegt. Heutige IV-Gründe sind etwa: soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel (…) Seit 1990 sind gewisse IV-Gründe besonders stark angestiegen – insbesondere die Schleudertraumata* und psychische Fälle.

Dr. med. Jacques de Haller, Präsident der FMH stellte erst zwei (!) Jahre (!) nach Einreichung der Motion Hutter in der schweizerischen Ärztezeitung verwundert fest:

Heute gehört es fast schon zum guten Ton, Invalide als Profiteure zu beschuldigen. Und nun befinden wir Ärztinnen und Ärzte uns plötzlich im gleichen Boot.

Oder anders gesagt: «Huch?!»

2009 – Aus dem «Argumentarium zur konjunkturpolitisch schädlichen Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 8% zugunsten der IV»

Ein wesentlicher Grund für den Rentenanstieg in den letzten 15 Jahre ist die zunehmende Medizinalisierungstendenz. Heute rentenbegründende Krankheitsbilder sind: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle von Krankheitsbildern ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner.

Und… wirkt die Indoktrination? Sind Sie nun auch überzeugt, dass «Internet-Sucht» oder «Verstopfung» rentenbegründende Krankheitsbilder waren, bevor die SVP heroisch dagegen ankämpfte und die IV von all diesen Schmarotzern befreit hat?
Wenn Herr Blocher («Quelle: Blocher») das gesagt hat und seine Gläubigen ihm das jahrelang unermüdlich nachbeteten, muss es doch stimmen?

Die Chancen stehen gut, dass der damalige Redenschreiber von Herr Blocher immer noch gelegentlich von unkontrollierbaren Lachkrämpfen geschüttelt wird, wenn er in glückseliger Erinnerung daran zurück denkt, wie er mit einer kompletten Bullshit-Behauptung einen entscheidenden Grundstein dafür legte, der Bevölkerung ein nachhaltig verzerrtes Bild von IV-Bezügern zu vermitteln:

Und dann… haha, habe ich… hihi… die Kritik von diesem deutschen Spiegeljournalisten an der Pharmainindustrie… harhar… einfach übernommen und… chrchrchr… so umformuliert, als ob das höhö…effektive IV-Gründe wären.

Krankheitserfinder verdienen ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank. Ob soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, larvierte Depression, Übergewicht, Menopause, Prä-Hypertonie, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom oder erektile Dysfunktion – medizinische Fachgesellschaften, Patientenverbände und Pharma-Firmen machen in nicht enden wollenden Medienkampagnen die Öffentlichkeit auf Störungen aufmerksam, die angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden.

Jörg Blech: Die Abschaffung der Gesundheit, Spiegel vom 11.08.2003

Ich war ja versucht, auch die «erektile Dysfunktion» drin zu lassen, aber Christoph meinte, in Kombination mit dem darauf folgenden Satz «Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen» wäre das nicht so gut rübergekommen. Wir von der SVP sind ja schliesslich eine in jeder Beziehung stramme Männer-Truppe… höhö…Vitaminmagel und Verstopfung habe ich hinzugefügt, um zu schauen, welchen Unsinn die Leute glauben. Die Anekdote mit den Sisi-Syndrom aus dem Spiegelartikel war ausserdem perfekt, um zu implizieren, dass psychische Krankheiten sowieso nur eingebildet und erfunden sind.

Blochers Rede (2004):

Ein Chemieunternehmen hat sich ein nach der Kaiserin Sissi benanntes Syndrom ausgedacht: Die betroffenen Patienten leiden nach Darstellung des Konzerns an einer starken Depression, überspielen ihre Krankheit aber durch ein besonders aktives, lebensbejahendes Verhalten. In Deutschland wird die Zahl der am „Sisi-Syndrom“ leidenden Menschen auf drei Millionen geschätzt. Drei Millionen krankhaft fröhliche Menschen, die sofort und teuer therapiert werden müssen.

Jörg Blech im Spiegel (2003):

Die betroffenen Patienten sind dem Konzern zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Allerdings überspielten sie ihre krankhafte Niedergeschlagenheit, indem sie sich als besonders aktiv und lebensbejahend gäben. Das Syndrom werde nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sisi“) benannt, da sie den Patiententypus wie ein Urbild verkörpere. Seither hat das Schlagwort die Medien erobert und wird von Psychiatern propagiert: Inzwischen wird die Zahl der am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen bereits auf drei Millionen geschätzt.

Wissen Sie, chrchr… wir hatten überhaupt keine Ahnung, was die IV-BezügerInnen effektiv für Krankheiten haben. Die IV-Statistik ist auch heute noch – und speziell bei psychischen Erkrankungen – sehr ungenau. Man wusste zu keinem Zeitpunkt, wieviele Versicherte aufgrund eines Schleudertraumas eine IV-Rente beziehen*. Und ehrlich gesagt; das hat uns auch nie im Geringsten interessiert. Je weniger nachprüfbare Fakten, umso besser. Es ging in erster Linie darum, die SVP in Wahlen und Abstimmungen als Partei zu positionieren, die – als einzige – dafür sorgt, dass der Wutbürger anständige Bürger nicht für Schmarotzer bezahlen muss. Partei-Marketing, wenn Sie verstehen, haha. Dass auch der effektive Missbrauch tatsächlich sehr gering ist (Die IV-Missbrauchsquote liegt unter 1%), war dabei komplett egal. Wichtig ist nicht die Wahrheit, wichtig ist nur, was die Leute für die Wahrheit halten.

Und diese «Wahrheit» nachhaltig zu definieren, das müssen Sie zugeben, ist uns doch sehr gut gelungen. Harhar.

. . . . .

* 

Wie viele Schleudertrauma-Patienten, die eine IV-Rente beziehen, gibt es in der Schweiz?

Dazu gibt es keine statistischen Angaben. Und zwar deshalb, weil wir bei der IV die Fälle nicht mit einem Code «Schleudertrauma» versehen. Schleudertraumata figurieren unter verschiedenen ärztlichen Diagnosen. Wir können daher auch nicht sagen, wie viel uns die IV-Renten für Schleudertrauma-Patienten pro Jahr kosten. Und wir können ebenso wenig angeben, wie sich die Zahl der Schleudertrauma-Fälle über die Jahre entwickelt hat.

Jean-Philippe Ruegger, damaliger Präsident der IV-Stellen-Konferenz am 15.9.2010 im Tages Anzeiger

Durch die jahrelange Propaganda der SVP weichgeklopft, beschloss das Parlament im Rahmen der IV-Revision 6a dennoch, dass die Invalidenversicherung zwischen 2012 und 2016 die Renten von rund 17’000 IV-Bezügern aufheben oder reduzieren soll. Ziel war es, insgesamt 12’500 Vollrenten einzusparen. Die IV-Stellen mussten alle Dossiers daraufhin überprüfen, ob eine Schmerzstörung oder ein «ähnliches» Leiden vorliegt. Die Praxis zeigte jedoch, dass das Eingliederungspotential massiv überschätzt worden war: Der Grossteil der überprüften IV-Bezüger stelle sich als – wer hätte das gedacht – tatsächlich stark eingeschränkt heraus. Häufig bestehen neben der Schmerzstörung noch zusätzliche Begleiterkrankungen. Die IV-Stellen beklagten, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe. Politik und Verwaltung hätten das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wieder­eingliederung enorm überschätzt.»
Tages Anzeiger, 10.02.2016: IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit

Um die hohe Sparvorgabe trotzdem zu erfüllen und mehr Renten aufheben zu können, versuchten einige IV-Stellen, körperliche oder psychische Krankheiten zu Schmerzstörungen «umzudefinieren».  Denn wenn die SVP jahrelang behauptet, es gäbe viele «Scheininvalide», dann muss es die geben. Egal, wie. Der Bullshitter-in-Chief und seine Crew haben ganze Arbeit geleistet.

Nächster Teil: Missbrauch, Medikalisierung oder… Diskriminierung

ÄrztIn werden trotz psychischer Beeinträchtigung? Die SVP meint: Das geht gar nicht! – Populistisch-diskriminierende «Argumente» gegen den Nachteilsausgleich

Am 23. Juni 2016 hat die SVP ihre Vernehmlassungsanwort zur abschliessenden Inkraftsetzung der Änderungen des Medizinalberufegesetzes (MedBG) veröffentlicht. Die wählerstärkste Partei der Schweiz hat offensichtlich ein Problem mit dem neuen Artikel 12 in der Prüfungsverordnung:

Art. 12a Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen

1 Menschen mit Behinderungen können bei der MEBEKO, Ressort Ausbildung, ein Gesuch um Nachteilsausgleich stellen. Die MEBEKO legt in ihren Richtlinien nach Artikel 5a Buchstabe b die Details des Gesuchsverfahrens fest.

2 Die MEBEKO, Ressort Ausbildung, bestimmt auf Vorschlag der Prüfungskommission diejenigen Anpassungsmassnahmen, die zum Ausgleich des behinderungsbedingten Nachteils geeignet sind. Die Anpassungsmassnahmen dürfen keine Herabsetzung der Prüfungsanforderungen darstellen und müssen sich mit verhältnismässigem Aufwand realisieren lassen.

Und zwar ein ziemlich grosses Problem (Hervorhebungen durch die Bloggerin):

Erstens ist aus unserer Sicht in Art. 12a der Begriff der Behinderung zu weit gefasst. Der Artikel sollte dahingehend präzisiert werden, dass nur Menschen mit körperlichen Behinderungen ein Gesuch um Nachteilsausgleich stellen können. Menschen mit geistigen oder psychisch/seelischen Beeinträchtigungen, wie etwa einer Konzentrationsstörung oder einer Lese-Rechtschreibschwäche, sollten von solchen Ausgleichsmassnahmen ausgenommen werden. Dies deshalb, weil sich hier sehr viel schwieriger feststellen lässt, ob es sich um eine Behinderung oder einfach um verminderte geistige Leistungsfähigkeit handelt. Würde die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs von der Art der Behinderung entkoppelt, bestünde die Gefahr, dass vermehrt Personen davon profitieren, die für den angestrebten Medizinalberuf schlicht nicht geeignet sind. Es gilt hier nämlich zu beachten, dass die Ausübung der im MedBG geregelten Berufe allesamt hohe Anforderungen an die intellektuellen Kapazitäten der ausübenden Personen stellen. Dabei ist es in der Praxis dann bei weitem nicht immer möglich, wie in einer Prüfungssituation Kompensationsmassnahmen zu treffen. Ein Chirurg, der eine mehrstündige Operation durchführen muss, kann sich nicht auf ein Aufmerksamkeitsdefizit berufen und deshalb die Operation einfach verlängern. Ebenso wenig kann eine Leseschwäche als Vorwand gelten, wieso ein Arzt keine Fachartikel lesen muss, obwohl das zur beruflichen Weiterbildung unabdingbar wäre.

Ich zitiere einfach nochmal aus dem Art 12a:

Die Anpassungsmassnahmen dürfen keine Herabsetzung der Prüfungsanforderungen darstellen.

Also alles klar – oder? Dann vielleicht noch Folgendes aus dem seit 2004 gültigen BehiG, Art 2:

1 In diesem Gesetz bedeutet Mensch mit Behinderungen (Behinderte, Behinderter) eine Person, der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

2 Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders als nicht Behinderte behandelt und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden als diese, oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter notwendig ist.

(…)

5 Eine Benachteiligung bei der Inanspruchnahme von Aus- und Weiterbildung liegt insbesondere vor, wenn:

a. die Verwendung behindertenspezifischer Hilfsmittel oder der Beizug notwendiger persönlicher Assistenz erschwert werden;
b. die Dauer und Ausgestaltung des Bildungsangebots sowie Prüfungen den spezifischen Bedürfnissen Behinderter nicht angepasst sind.

Angesichts der klaren Gesetzeslage könnte man nun süffisant anmerken, dass die Autoren der Vernehmlassungsanwort der SVP offensichtlich selbst unter einer ähm… «Leseschwäche» leiden. Aber man weiss bei der SVP natürlich ganz genau, worum es beim Nachteilsausgleich geht. Was man aber noch viel besser weiss, ist, dass sich das Thema hervorragend eignet, um – einmmalmehr – bei denjenigen Wählern zu punkten, deren «verminderte geistige Leistungsfähigkeit» ihnen tatsächlich eine akademische Karriere verwehrt. Und dem Wählerklientel der SVP mit akademischem Hintergrund kann man weismachen, dass ihre mühsam errungenen Titel weniger wert seien, wenn sie bald jeder «Behindi» mittels «Nachteilsausgleich» erringen könnte. Das gute alte rechtspopulistische «DIE nehmen euch was weg/bekommen Vorteile, obwohl es DENEN nicht zusteht» funktioniert halt auf allen Ebenen.

Und das Thema greift die SVP natürlich nicht einfach aus der Luft. Bereits vor einem Jahr titelte die Aargauer Zeitung reisserisch: Leichtere Prüfungen bei Behinderung: Wer hat Anspruch, wer nicht? und das, obwohl die befragte Expertin im Interview deutlich sagt:

Der Nachteilsausgleich ist für die Betroffenen nie eine Erleichterung. Er ist der Ausgleich einer Benachteiligung.

Und:

Zudem gilt es zu beachten: Der NTA schraubt die Lernziele nicht hinunter. Er bringt nur Anpassungen bei den formellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel mit einen Zeitzuschlag. Nur dank eines NTA wird niemand die Lehrabschlussprüfung bestehen. Da muss man schon auch noch tüchtig lernen – das gilt für Behinderte und für Nichtbehinderte.

Der selbe Journalist, der das Interview durchgeführt hat, fragt dann in seinem zugehörigen Kommentar trotzdem dummdämlich:

Ist es richtig, ein Kind mit Hilfsmitteln durch eine Prüfung und in eine Schule zu boxen, wo es vielleicht einfach nicht hingehört? Schliesslich gibt es im (Berufs-)Leben draussen auch keinen NTA.

Auch die NZZ titelt am 7.4.2016: Nachteilsausgleiche an Zürcher Kantonsschulen: Benachteiligt oder zu wenig intelligent?

«Es handelt sich nach wie vor um Einzelfälle», sagt Daniel Kunz, der an der Kantonsschule Zürich Nord seit Jahren für das Thema zuständig ist. Von den rund 2000 Schülerinnen und Schülern haben derzeit 43 eine sogenannte «Vereinbarung über Massnahmen zum Nachteilsausgleich». Über die Hälfte, 27 Personen, leiden an einer Dyslexie (Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Schwäche). Weiter gibt es 4 Personen mit einer Autismusspektrum-Störung, ebenfalls 4 mit einer Hörbehinderung, 2 mit einer Sehbehinderung und jeweils eine Person mit ADHS, Dyskalkulie, Muskelschwäche, sozialer Phobie, einer starken körperlichen Behinderung (im Rollstuhl) und einen Stotterer. «Diese Jugendlichen sind alles andere als dumm», sagt Kunz.

Die betroffenen Jugendlichen sind «alles andere als dumm» aber trotzdem titelt die NZZ: «Benachteiligt oder zu wenig intelligent?»

Gewissen Kreisen wäre es aus kleinkarierten egoistischen Motiven offensichtlich lieber, man liesse die Jugendlichen (egal auf welcher Ausbildungsstufe) aufgrund ihrer Behinderung überhaupt keinen Abschluss machen und stecke sie dann in die «Behindertenversicherung». Da gehören die ja schliesslich hin. Ach nein, ich vergass, Arbeitgeberverband und Gewerbeverband forderten in ihren Vernehmlassungsantworten zur 7. IV-Revision, dass «an Personen unter 30 Jahren keine Renten mehr gesprochen werden sollten».

Was ist denn da die Message an die betroffenen Jugendlichen?

Keine IV-Rente! Integriert euch! Und dann: Nachteilsausgleich? Geht’s noch? Mit so einer Behinderung habt ihr im Berufsleben eh keine Chance!

Vielleicht könnte man sich mal entscheiden, was man eigentlich will?

Endlos auf Jugendlichen mit Beeinträchtigungen herumhacken können, um daraus politisches Kapital zu schlagen?

Ja, das dachte ich mir.

Weiterführend:
FAQ Nachteilsausgleich
hindernisfreie-hochschule.ch

Die falsche Diskussion

Für die 2011 erschienene BSV-Studie «Schwierige Mitarbeiter» wurden 1000 Führungskräfte und Personalverantwortliche aus der Region Basel in einer online-Befragung gebeten, sich an eine besonders herausfordernde Situation mit einem/r psychisch belasteten Mitarbeiter/in zu erinnern. Damit die folgenden Fragen nicht alle geschlechtsneutral gestellt werden mussten, wurden die Teilnehmenden aufgefordert, das Geschlecht des/r betreffenden Mitarbeiters/in, sowie einen (die Anonymität wahrenden) Spitznamen anzugeben. Die gewählten Spitznamen korrelierten deutlich mit den im Nachgang geschilderten Problematiken:
Baer_Spitznamen(Quelle der Abbildung)

Man kann sich sehr genau vorstellen, wie gewisse Seiten empört einwenden, diese Bezeichnungen seien doch ziemlich stigmatisierend gegenüber psychisch Kranken. Dem ist folgender Auszug aus der Studie entgegenzuhalten:

Diese Spitznamen sind insofern ein relevantes Resultat dieser Untersuchung, da sie erstens auf die Ventilfunktion solcher Ausdrücke und damit auf die hohe emotionale Belastung der Vorgesetzten durch diese Mitarbeitenden hindeuten. Die häufig festzustellenden Bemühungen, «schwieriges» Verhalten oder Behinderungen nicht klar zu benennen, müssen demnach in Frage gestellt werden, weil sie ein wesentliches Belastungs-Ventil der Vorgesetzten behindern und sich so negativ auf deren Tragfähigkeit und Verpflichtungsbereitschaft auswirken. Vielmehr scheint eine klare Benennung des Problems der erste Schritt zur Lösung zu sein.

Und nun ein sehr grosser Sprung zur gestrigen Club-Sendung zum Thema Präimplantationsdiagnostik. In beeindruckender Ehrlichkeit erklärte darin Beat Glogger, Wissenschaftsjournalist und Vater eines mehrfach behinderten Sohnes, dass er, wenn er hätte er wählen können  – und bei aller Liebe zu seinem Sohn – die letzten 20 Jahre nicht so gewählt hätte. Glogger hatte kürzlich auch eine Kolumne zum Thema geschrieben und sagte in der Sendung, er hätte daraufhin mit grosser Empörung gerechnet, stattdessen hätte er Rückmeldungen anderer betroffener Eltern bekommen, die ihm dafür dankten. Glogger schrieb u.a.:

Die PID betrifft nicht ein Individuum, sondern dessen Umfeld: die Eltern. Wie viel Last können sie auf sich nehmen? Wer diese Frage ausblendet, blendet die enorme Anstrengung aus, die es kostet, einem behinderten Kind den Weg in die Welt zu bahnen. Einige gehen daran kaputt. Darum hat jede Familie das Recht, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden.

Aus so unterschiedlichen Bereichen die beiden gezeigten Beispiele auch stammen mögen, im Kern geht es um das selbe: Statt moralinsauer zu diktieren, dass Kinder Embryonen mit Behinderung auch ein «Lebensrecht» hätten, oder Arbeitnehmer mit psychischen Auffälligkeiten gefälligst «integriert» werden sollten, sollte man mal genauer hinschauen und fragen: Was braucht denn die Umgebung, um so eine herausfordernde Situation überhaupt tragen zu können?

Auf der «anderen» Seite (Eltern/Arbeitgeber) stehen nämlich auch nur ganz normale Menschen, deren Kraft/Ausdauer/Energie/Frustrationstoleranz begrenzt ist. Und die sich deshalb auch dafür entscheiden dürfen, ein behindertes Kind nicht zu bekommen, oder einen «schwierigen Mitarbeiter» nicht weiter zu beschäftigen. Das hat nichts mit «Behindertenfeindlichkeit» zu tun, denn eine überforderte Umgebung nützt schussendlich niemandem etwas. Die Frage sollte also nicht lauten: Wie können wir Arbeitgeber zwingen, psychisch kranke MitarbeiterInnen anzustellen oder Frauen behinderte Kinder zu bekommen? Sondern: wie muss die Umgebungssituation sein, damit das eine oder andere als Option in Betracht gezogen werden kann?

Dass sich die allermeisten PID-Gegner auf’s moralische (und sehr bequeme) Zeigefinger erheben beschränken, sieht man exemplarisch an der SVP, die ist nämlich gegen die PID, weil:

Die geschaffenen Möglichkeiten im Bereich der Präimplantationsdiagnostik führen unsere Gesellschaft ethisch und sozialpolitisch an einen Punkt, den die SVP nicht mittragen kann.

Aber gegen Barrierrefreiheit, gegen schulische Inklusion, gegen Integration am Arbeitsplatz und für Kürzungen bei der IV zu sein kann die SVP «ethisch und sozialpolitisch» offenbar problemlos mit ihrem Gewissen vereinbaren. Das wären halt ein bisschen komplexere Themengebiete als die Gebärmütter einiger tausend Frauen. (Ca. 6000 künstliche Befruchtungen pro Jahr, 2000 Kinder werden aufgrund einer künstlichen Befruchtung geboren  –  die restlichen rund 80’000 Babys werden auf natürlichem Weg gezeugt – Dem gegenüber stehen 230’000 real exisitierende IV-BezügerInnen). Aber wenn diverse Behindertenorganisationen eine solche Steilvorlage liefern, wie man sich mit so geringem Aufwand, so wenig Denkarbeit und ohne Engagement für real existierende Menschen mit Behinderungen als «behindertenfreundlich» profilieren kann, kann man es der SVP und den anderen ethisch korrekten PID-Gegnern natürlich nicht verdenken, wenn sie das auch tun.

Es ist halt einfach die komplett falsche Diskussion, die hier geführt wird.

Sozialhilfe – ein paar Fakten

Letzte Woche stellte die Zürcher SVP medienwirksam ihr Grundlagenpapier «Gegen Kostenexzesse in der Sozialindustrie» vor. Das Papier ist eine bunte Mischung aus «Kostenexplosion», «Grundbeträge sind zu hoch», «Volksabstimmung über SKOS-Richtlinien», «Ein schärferes Sozialhilfegesetz muss her, um denjenigen, die sich weigern, eine Arbeit zu suchen, den Geldhahn zudrehen können» und mischt Zahlen aus der Schweiz und dem Kanton Zürich (Weshalb ich das im folgenden auch tue).

Als Beweis für den «Sozialirrsinn» werden die explodierenden Kosten in den Zürcher Gemeinden im Bereich «Soziales» angeführt, die sich 2013 auf insgesamt 1,4 Mia Franken beliefen. Ohne allerdings aufzuzeigen, wie sich die Summe genau zusammensetzt oder sonstige weiterführende Hintergründe.

Deshalb hier erstmal ein paar Grundlagen über die rund 250’000 Sozialhilfebezüger in der Schweiz. Das Diagramm links zeigt, dass 30% der SozialhilfebezügerInnen Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre sind (was die SVP nicht erwähnt) und es sich nur bei einem Viertel (66’000) aller Bezüger effektiv um «erwerbslose» Personen handelt. Das Diagramm rechts zeigt unter Weglassung der Minderjährigen, dass ausserdem 10,5% aller erwachsenen SozialhilfebezügerInnen in Vollzeit erwerbstätig sind und weitere 18% in Teilzeit. Ein Drittel der erwachsenen Sozialhilfebezüger ist zudem nicht erwerbsfähig. Gründe dafür können eine vorübergehende oder dauerhafte Behinderung/Erkrankung, Ausbildung oder Betreuungsaufgaben sein.

SozialhilfediagrammNun zurück zu den 1,4 Mia, welche die Zürcher Gemeinden pro Jahr fürs «Sozialwesen» ausgeben. Die folgende Grafik aus dem Sozialbericht des Kantons Zürich 2012 zeigt die Zusammensetzung der 1,4 Mia (hier 1,2 Mia, da letzte Daten von 2012) auf:

SozialwesenkostenZHHieraus ist ersichtlich, dass der Löwenanteil an den Kosten bei den Sozialleistungen» nicht die Sozialhilfe (380 Mio/ 44’000 Bezüger), sondern die Ergänzungsleistungen (740 Mio/42’000 Bezüger) ausmachen. Das sagt die SVP aber natürlich nicht, weil neben den 17’000 IV-Bezügern auch 25’000 AHV-RentnerInnen im Kanton Zürich Ergänzungsleistungen beziehen. Es käme vielleicht nicht ganz so gut an, wenn man den AHV-RentnerInnen (speziell den Pflegebedürftigen) «ein Leben in der sozialen Hängematte» vorwerfen würde…

Oder auch, wenn man sich mal genau anschauen würde, bei welcher Altersklasse in der Sozialhilfe sich «das Leben in der sozialen Hängematte» offenbar zunehmender Beliebtheit erfreut:

SHAlterDie Sozialhilfequote der jungen Erwachsenen ist zwar nach wie vor deutlich höher, allerdings erhalten sie nach einem Stellenverlust nach der Verschärfung des AVIG (Volksabstimmung 2010) weniger lang Arbeitslosengelder als ältere Arbeitslose und haben vermutlich ebenfalls seltener Vermögen, auf das sie zur Überbrückung zurückgreifen können, weshalb sie tendenziell schneller in der Sozialhilfe landen.

Von den 30’500 jungen Erwachsenen, welche Sozialhilfe beziehen, sind ausserdem 40% in Ausbildung/Lehre oder erwerbstätig, 20% nicht erwerbsfähig und «nur» 12’000 erwerbslos.

18bis25SHSelbstverständlich sollte man sich darum kümmern, dass daraus bei den Betroffenen keine «Sozialhilfekarriere» entsteht (Im Kanton Waadt läuft deshalb seit einigen Jahren das Projekt «Stipendien statt Sozialhilfe»). Nichtsdestotrotz sind die «Langzeitfälle» bei älteren Sozialhilfebezügern häufiger als bei jungen Erwachsenen. Ganz generell (heisst: über alle Altersklassen betrachtet) werden laut Zahlen aus dem Kanton Zürich 40% der Sozialhilfefälle in weniger als einem Jahr abgeschlossen. Weitere 18% nach ein bis zwei Jahren und drei Viertel aller Fälle innerhalb von vier Jahren. Angesichts der Tatsache, dass Alleinerziehende mit mehreren (kleinen) Kindern ein stark erhöhtes Risiko für Sozialhilfebezug aufweisen, ist es nicht verwunderlich, dass die Unterstützung auch mal etwas länger dauern kann, schliesslich werden Kinder nicht in einem Jahr erwachsen.

BezgugsdauerSHBei den «Langzeitfällen» ist zudem davon auszugehen, dass sich darunter auch zunehmend Menschen mit schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen befinden. Oder wie SVP-Ständerat Alex Kuprecht es in der parlamentarischen IV-Debatte am 19. Dezember 2011 ausdrückte:

«Eine Sozialversicherung, die mit 15 Milliarden Franken verschuldet ist (…) muss wohl oder übel zuletzt auch mit Leistungskürzungen konfrontiert werden – im Bewusstsein, dass im schlimmsten Fall noch weitere Auffangnetze bereit sind, um Menschen in akuter wirtschaftlicher Existenzgefährdung aufzufangen.»

Erst Leute mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen ins «letzte Auffangnetz» abschieben und dann darüber herziehen, dass es immer mehr Langzeitfälle gebe, die es sich in der Sozialhilfe «gemütlich machen» ist schon ein kleines bisschen zynisch. Da Alkohol-/Drogenprobleme von der Invalidenversicherung grundsätzlich nicht als invalidisierend anerkannt werden, finden sich unter den Langzeitfällen vermutlich auch viele Betroffene mit Suchtproblemen. Ich bezweifle, dass kranke oder seit Jahren schwer suchtmittelabhängige Menschen durch eine Kürzung des Grundbedarfs ganz plötzlich eine famose Arbeitsmarktfähigkeit erlangen.

Es ist sicher nicht verkehrt, die Systeme unserer sozialen Sicherheit immer wieder zu überprüfen. Aber das Verschweigen von Fakten, Zusammenhängen und Hintergründen verschleiert das, worum es den Urhebern der aktuellen Polemik wohl vor allem geht und was Ökonomieprofessor Reiner Eichenberger in einem lesenswerten Interview in der NZZ über Jugendliche in der Sozialhilfe überraschend ehrlich als Schlusssatz anbringt:

Für viele Menschen ist die psychische Schwelle, Sozialhilfe zu beantragen, sehr hoch. Sie hätten zwar Anrecht auf Unterstützung, aber sie beziehen sie nicht. Unser Sozialhilfesystem überlebt nur, wenn das so bleibt.

Die Beschämung gehört mit zum System. Ich will glaub lieber nicht wissen, wie das aussieht, wenn man anfängt, die schweizweit 181’500 AHV-BezügerInnen (2012) welche Ergänzungsleistungen beziehen, (wieder) zu beschämen. Ich halte es nämlich für eine Errungenschaft, dass sich ältere Frauen (es sind überwiegend Frauen, bei denen die AHV nicht zum Leben reicht) immer weniger schämen, Ergänzungsleistungen zu beziehen. Über die Finanzierung der steigenden Kosten müssen wir uns trotzdem Gedanken machen. Nicht polemisch, aber ehrlich. Sonst explodiert das System tatsächlich irgendwann.

Artikel zum Thema:
Teurere Sozialhilfe – die Gründe des Kostenanstiegs (srf 27.10.2014)
Sozialhilfe: Keiner wartet auf schwache Schüler (NZZ, 20.10.2014)
Wir müssen uns Sozialhilfe leisten (Tagi, 19.10.2014)
Sozialindustrie: Was soll dieser Kampfbegriff? (Die Zeit Schweiz, 17.10.2014)
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Datenquellen:
bfs: Sozialhilfe – Detaillierte Daten
bfs: Ergänzungsleistungen – Detaillierte Daten
BSV: Monitoring SHIVALV
Sozialbericht Kanton Zürich 2012

Können sie nicht oder wollen sie nicht?

Im Mai 2013 startete die SVP einen Testballon, wie es um das Empörungspotential in der Bevölkerung bezüglich Sozialhilfeleistungen bestellt ist. Federführend dabei war unter anderem der Sozialvorsteher von Köniz (BE) Ueli Studer (SVP), der im 20min sagte: «Vielen ist es in der Sozialhilfe recht wohl» oder in der Berner Zeitung «Eine Familie erhält gut und gern 5600 Franken Sozialhilfe».

Ich kommentierte damals die voraussehbaren Abläufe unter dem Titel «Diffamierung. Diskreditierung. Diskriminierung.» Kurzfassung: Diffamierung der Betroffenen sowie ihrer Helferorganisationen durch mediale Skandalisierung von Einzelfällen rechtfertigt schliesslich die Infragestellung eines ganzes Systems. Mein Schlusssatz im Bezug auf die Rolle der FDP und ihres Publikationsorgans, der NZZ lautete: «Nein, man macht sich nicht (offiziell) selbst die Finger dreckig, aber ganz am Schluss dem gewünschten Resultat noch den letzten Schliff zu verleihen; das macht man dann gerne. Noblesse oblige.»

Und die NZZ reagierte Mitte September exakt wie vorhergesagt auf die Ankündigung eines Positionspapier der SVP, welche die Sozialhilfe drastisch kürzen möchte: «Die SVP setzt die richtigen Akzente»

Auch der Direktor der Industrie- und Handelskammer St. Gallen/Appenzell Kurt Weigelt (FDP) holte alte Forderungen aus der Schublade und goss sie in in ein neues Papier mit dem Titel «Sozialhilfe: Zurück an die Arbeit». Darin benutzt Weigelt das vom eingangs erwähnten Könizer Sozialvorsteher Studer (SVP) erwähnte Beispiel der vierköpfigen Familie, die 5600.- Sozialhilfe pro Monat erhalte. Weigelt schreibt dazu: «Nur wenige Erwerbslose werden bereit sein, eine Arbeit anzutreten, die nicht ein spürbar höheres Einkommen bietet, als die Leistungen der Sozialhilfe». Pikant daran ist, dass Weigelt nicht erwähnt, dass der im Gesamtbetrag von 5600.- enthaltene Anteil von 600.- nur ausbezahlt wird, falls ein Elternteil auswärts arbeitet.
A.r.b.e.i.t.e.n. Also das, was Sozialhilfebezüger aus der Sicht von FDP und SVP ja generell nicht tun. Vor allem nicht, «wenn es nicht nicht lohnt».

Darum sollte man sie zwingen; oder wie Herr Weigelt es vornehmer formuliert: «Die staatlichen Leistungen sind in Abhängigkeit zur eigenen Leistung zu setzen» oder wie Katja Gentinetta (Ehemals Vizedirektorin Avenir Suisse) an der IVSK-Plenartagung 2012 postulierte: «Ausserdem wird, um der Erosion der Sozialstaatsmoral entgegenzuwirken, soweit möglich für jede Rente eine Gegenleistung gefordert, z.B. in Form von niederschwelligen Arbeiten im öffentlichen oder privaten Sektor.»

Bereits in meiner Buchkritik von «Die IV – Eine Krankengeschichte» (Bütler/Gentinetta 2007) attestierte ich den Autorinnen aufgrund von Sätzen wie «Deshalb liegt die einfachste Motivation, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in der Senkung der staatlichen Transferleistungen.» einen blinden Fleck. Ich schrieb damals: «Wunderheilungen durch Senkung der Transferleistungen? Eine interessante These.»

Und hier stellt sich nun die Titelfrage: «Können sie nicht oder wollen sie nicht?» Und zwar nicht in erster Linie, die Frage, ob Empfänger staatlicher Leistungen nicht arbeiten können oder nicht arbeiten wollen, sondern was das eigentlich für ein nicht zu behebender blinder Fleck der Liberalen ist, nicht erkennen zu können, dass die Arbeitsmarktfähigkeit einer gewissen Anzahl von Menschen nicht mit einer Senkung der staatlichen Transferleistungen gesteigert werden kann. Sei es, weil sie zu krank sind, zu alt, zu wenig gut ausgebildet, die Sprache nicht genügend gut beherrschen, aus persönlichen Gründen (z.B. Pflege eines behinderten Kindes) oder (meist) aufgrund einer ungünstigen Kombination mehrerer solcher Faktoren.

Das sind dann die Leute, die beispielsweise zu 80% bei einer Sozialfirma wie der DOCK arbeiten, dafür aber (im allerbesten Fall) höchstens 500.- mehr als mit Sozialhilfe verdienen und ihr Lohn von der Sozialhilfe subventioniert wird. Weil sie ihre «Leistung» auf dem «freien» Markt schlichtweg nicht gewinnbringend «verkaufen» können. Das ist auch daran ersichtlich, dass von Sozialhilfebezügern, die bei der DOCK arbeiten, nur 15-20% den Sprung in den 1. Arbeitsmarkt schaffen (Und wie genau diese Jobs dann aussehen, wäre auch mal eine Untersuchung wert).

In der WOZ erschien zum Thema Sozialfirmen heute ein sehr lesenswertes Interview mit Peter Schallberger der das System von DOCK scharf kritisiert:

«Die Sozialfirma erledigt Aufträge beispielsweise einer privaten Recyclingfirma – natürlich kann diese dann sehr günstig arbeiten, weil die Löhne das Sozialamt übernimmt. Mit den Erträgen finanziert die Sozialfirma ihre Infrastruktur und die Löhne ihrer regulären Angestellten. (…) Die Recylingfirma maximiert ihre Gewinne, weil sie dank staatlich subventionierter Löhne auf Billigarbeitskräfte zurückgreifen kann. Am Ende stellen sich diese Leute als Philanthropen dar, obwohl sie die Notlage der Menschen und den Staat schamlos ausnützen. Und in den Medien werden sie auch noch als Wohltäter gefeiert.»

(…)

«Es besteht die Gefahr, dass ein auf Zwangsbeschäftigung basierter und staatlich subventionierter Arbeitsmarkt entsteht, ein Heer von Billigarbeitskräften, auf die Unternehmen zurückgreifen können. Das widerspricht fundamental unserer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung und der freien Marktwirtschaft. Unternehmen sollen nicht vollwertige Arbeitsplätze zerstören – darauf läuft dieses System nämlich hinaus –, sie sollen Arbeitsplätze schaffen und existenzsichernde Löhne bezahlen. Das ist Unternehmertum, das andere ist ein parasitäres Verhalten. Was sich hier abzeichnet, ist also nicht nur moralisch hochproblematisch, es ist einer liberalen Wirtschaft nicht würdig, verzerrt den Wettbewerb und entwürdigt Menschen.»

Ich verstehe zu wenig von Wirtschaft, um beurteilen zu können, ob es in der Schweiz tatsächlich möglich ist, auch mit sehr eingeschränkter Arbeitsmarktfähigkeit den eigenen Lebensunterhalt im 1. Arbeitsmarkt selbst erwirtschaften zu können (schön wäre es natürlich). Wenn aber zum Beispiel eine Gemeinde wie Laufen (BL) händeringend nach Nischenarbeitsplätzen für ihre arbeitswilligen(!) Sozialhilfebezüger sucht und der Direktor der Baselbieter Wirtschaftskammer, Christoph Buser, das zwar «begrüsst» aber bescheidet: «Man habe bei seinen Mitgliedern nicht nach der Verfügbarkeit von Nischenjobs gefragt, da man sich auf die Kernaufgaben konzentriere» bleibt einmal mehr die Frage: Können sie nicht oder wollen sie nicht? Und ändert sich das «Wollen» schlagartig, wenn die Arbeitskräfte keinen regulären Arbeitsplatz bekommen sollen, sondern zwangsmässig (mit staatlich finanzierten Dumpinglöhnen) durch das Sozialamt zugewiesen werden?

Und ist DAS der eigentliche Grund für die geforderten Kürzungen und Verschärfungen im Sozialbereich…?

Ich hoffe mal, dass ich mich täusche.

SVP: «Gesunde sollen nicht als psychisch Kranke stigmatisiert werden». [Finde den Fehler]

Es gibt wohl kaum eine Publikation, welche in den letzten Monaten nicht über die im Mai 2013 erschienene Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM 5) der American Psychiatric Association berichtet hat. Meist mit einem drohenden Unterton à la «Der Wutanfall wird zur Krankheit». Auch wenn hiesige Psychiater beschwichtigen, dass in der Schweiz nicht das DSM sondern das ICD als Klassikfikationssystem gilt, zitierten viele Journalisten mit allergrösster Wonne (und einem gruseligen Schaudern) den bekannten amerikanischen Psychiater Allen Frances, der eindringlich vor dem DSM 5 warnt, denn danach gälte bereits die normale Trauer nach einem Todesfall als Depression und der Wutanfall eines Kindes als «schwere Emotionsregulationsstörung».

Geht man nach dem Grundtenor der Schweizer Medien ist das alllerallergrösste Problem, dass wir als Gesellschaft im Umgang mit psychischen Erkrankungen momentan haben, dass man als psychisch «Gesunder» ungerechtfertigterweise als «psychisch krank» eingestuft werden könnte. Und böse Medikamente nehmen müsse. Und an allem seien die bösen Psychiater und die noch böseren Pharmafirmen schuld. Als ob komplett gesunde Menschen auf der Strasse mit grossen Netzen eingefangen, in die Psychiatrie verschleppt und dort gegen ihren Willen zwangsweise Medikamente verabreicht bekämen.

Im Kontext-Gespräch vom 24. April 2013 erläuterte der Psychiater Paul Hoff die ganze Thematik angenehm unaufgeregt und differenziert und legte u.a. dar, dass psychiatrische Diagnosen vor allem als «Handwerkszeug» dienen und nicht in «Stein gemeisselt» sind. Sein Kollege Wulf Rössler sagte zudem in der Schweiz am Sonntag: «Wir suchen ja die Leute nicht und erklären sie für krank, sondern sie kommen zu uns, weil sie an einem psychischen Problem leiden und Hilfe suchen»

Unaufgeregt und differenziert ist ja aber leider eher nicht nicht so das Ding der SVP und so beglückt sie uns aktuell – nachdem das Thema jetzt monatelang medial wunderbar vorgespurt wurde – mit der parlamentarischen Interpellation «Inflation psychischer Störungen»: «In den letzten Jahren ist in der Psychiatrie eine Tendenz zur Findung und Ausweitung von Diagnosen auszumachen, bei welchen ehemals normale Verhaltensweisen zu Krankheiten umdefiniert werden(…)»

Darauf werden eine ganze Reihe Fragen gestellt:

  • 3. Wie hoch sind die gesamten Gesundheitskosten von psychischen Störungen und deren Behandlungen in der Schweiz?
  • 4. Wie hoch sind die dadurch anfallenden Kosten bei den Krankenversicherungen und Invalidenversicherung?
  • 8. Welche Instanz prüft neue psychische Störung in Bezug auf deren Anerkennung bei der IV und der obligatorischen Krankenversicherungen?
  • 10. Mit welchen Massnahmen gedenkt der Bundesrat sich einem allfälligen Trend der stetigen Ausweitung von psychischen Störungen und deren Definition als Krankheiten entgegenzustellen, zumal dadurch (…) die Stigmatisierung von Personen mit Problemen als psychisch Kranke (…) verhindert werden könnten?

Die SVP sagt hier also, dass psychische Krankheiten mit einem Stigma verbunden sind. Und damit nicht etwa GESUNDE, die einfach nur «ein Problem haben» aber auf gar keinen Fall «echt» psychisch krank sind, fälschlicherweise mit dem Stigma einer psychischen Krankheit leben müssen, muss der Bundesrat was tun. (Auf Deutsch: «Also die mit den neumodischen Krankheiten halten wir zwar nach wie vor für faule Scheininvalide, die eine Menge Kosten verursachen, aber PR-mässig kommt es besser, wenn wir uns um deren Stigmatisierung sorgen. Wir hatten da ja auch diesen Fall in der eigenen Partei… Burn-out oder… und deshalb muss man das Ganze jetzt etwas einfühlsam wirkend formulieren»)

Ähm wo war ich? Ja eben, weil für «Gesunde» ist so ein Stigma eine echte Zumutung, aber die wirklich Kranken, die haben’s ja nicht anders verdient… (Siehe auch: Angebliche Depression = rufschädigend?)

Einmal mehr macht hier die SVP etwas zum «Problem» was nicht das echte Problem ist. Das grösste Problem, das wir in der Schweiz mit psychischen Krankheiten haben, ist nämlich nicht, dass Gesunde fälschlicherweise für krank erklärt werden, sondern dass die SVP sich seit 10 Jahren anmasst, die Deutungshoheit über ein medizinisches Fachgebiet zu übernehmen, von dem sie nichts versteht dass psychisch Kranke oft erst zu spät behandelt werden, weil Betroffene sich aus Furcht vor Stigmatisierung nicht trauen, über ihre Probleme zu reden. 50% der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens einmal an einer psychischen Störung, das ist also kein Nischenproblem einiger «Freaks». Unbehandelt können sich jedoch hartnäckige und chronifizierte Krankheiten entwickeln, die im schlimmsten Fall zur Invalidität führen können. Mit einer frühzeitigen und fachgerechten Behandlung könnte diese Entwicklung in vielen Fällen vermieden oder vermindert werden. Kostet dann auf lange Sicht auch weniger. Dazu müssen diese Krankheiten aber entstigmatisiert werden.

Aber genau das will die SVP nicht. Wär ja blöd, dann hätte man eine Randgruppe weniger, auf der man rumhaken kann – Entstigmatisierung psychisch Kranker… wo kämen wir denn da hin, wenn wir diese Freaks als Menschen sehen würden?

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Apropos «Stigmatisierung bitte nur für die Anderen»: In der aktuellen Diskussion um die Revision des Strafrechts findet die SVP, dass es einen Unterschied gäbe zwischen «eigentlichen Kriminellen» und «zehntausenden von Strassenverkehrsteilnehmern» die – wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt kämen – nicht als «kriminell» stigmatisiert werden dürften. Woher kennen wir das Prinzip gleich nochmal? Ahja: alle IV-Bezüger sind Betrüger, denen man die Leistungen kürzen muss, ausser die (teil)invaliden Bauern, denen soll eine Sonderbehandlung zukommen.

Diffamierung. Diskreditierung. Diskriminierung.

Diffamierung. Diskreditierung. Diskriminierung. Mit diesen drei Worten beschrieb der Präsident der Schweizerischen Sozialhilfekonferenz (SKOS) Walter Schmid Anfang Mai während der «Zürcher Prozesse» die Art und Weise wie die Weltwoche über – zumeist ausländische – Sozialhilfebezüger berichtet. Im Fokus stehen dabei natürlich nie die rechtmässigen Bezüger, sondern ausschliesslich Betrüger. Anhand empörender Einzelfälle wird kontinuierlich ein manipuliertes Bild der Wirklichkeit entworfen, nachdem die Betrüger nicht etwa Einzelfälle, sondern vielmehr den Normalfall darstellen. Aufgrunddessen wirken Forderungen nach diskriminierenden Gesetzen irgendwann dann nicht mehr diskriminierend, sondern höchst legitim.

Wir kennen das ganze Prozedere bereits aus dem IV-Bereich. Stichwort «Scheininvalide». Wer damals die verschiedenen Stufen etwas verschlafen hat (diverse Behindertenorganisationen beipsielsweise) hat aktuell Gelegenheit, den Prozess am Beispiel der Sozialhilfe nochmal live und in Farbe mitzuerleben.

Zuallererst verbaut sich natürlich kein bürgerlicher Politiker die Karriere, indem er öffentlich verkünden würde, dass man bei Behinderten sparen wolle. Oder bei unverschuldet in Not geratenen alleinerziehenden Müttern in der Sozialhilfe. Die «Schwächsten» angreifen. Sowas macht man doch nicht. Jedenfalls nicht direkt. Erstmal lässt man die Profis fürs Grobe – Weltwoche und SVP – das Feld vorpflügen. Hiess im Falle der IV; den Begriff Scheininvalide in die öffentliche Diskussion einbringen, das ganze parallel mit parlamentarischen Vorstössen und regelmässiger Berichterstattung in der Weltwoche begleiten.

Oder um es im Jargon von Herrn Köppel zu sagen: Auf Missstände aufmerksam machen.

Diffamierung und Diskreditierung dienen u.a. auch dazu, die Betroffenen mundtot zu machen. (Nicht, dass die sich etwa noch wehren!). Beschämung ist dazu eines der wirkungsvollsten Mittel überhaupt. Ist von IV- oder Sozialhilfebezügern in der öffentlichen Debatte hauptsächlich im Zusammenhang mit Betrug die Rede, färbt das auch auf die redlichen Bezüger ab. (Und das, mal am Rande bemerkt, freut durchaus auch viele Bürgerliche jenseits der SVP, denn eine möglichst hohe Schamgrenze für den Bezug von Sozialleistungen verringert die Kosten für ebenjene).

Und damit sich nicht etwa die Helfer(organisationen) für die Betroffenen einsetzen, werden diese gleichsam diffamiert (Dann sind sie nämlich erstmal damit beschäftigt, sich selbst/die eigene Organisation zu verteidigen). Da bei der IV-Scheininvaliden-Kampagne psychisch Kranke im Fokus standen, traf es damals die Pro Mente Sana, der die Weltwoche unterstellte, sie verhelfe «Versicherten zu zweifelhaften IV-Renten». Des Weitern wurde der angebliche Kausalzusammenhang zwischen der Psychiaterdichte und der IV-Quote immer wieder bemüht, obwohl sich ein analoger statistischer Zusammenhang auch zwischen der Zahnarztdichte und der Anzahl der IV-Renten aus psychischen Gründen festellen lässt. Niemand käme aber wohl auf die Idee, die Zahnärzte für die angestiegenen IV-Renten aus psychischen Gründen verantwortlich zu machen.

Nichtsdestotrotz funktioneren solche einmal in die Welt gesetzten einfachen Erklärungsversuche natürlich trotzdem hervorragend. So sehen wir exakt das gleiche jetzt bei der Sozialhilfe, titelte das Newsnet doch am 29. Mai 2013: «Wo es viele Sozialarbeiter gibt, gibt es viele Sozialfälle»

(btw. hat mal jemand die Zahnarztdichte in Biel untersucht…?)

Und nachdem die Weltwoche auch bei der Sozialhilfe mit jahrelanger Missbrauchsberichterstattung genügend vorgepflügt hat, steht nun also auch die Schweizerische Sozialhilfekonferenz (SKOS) im Fokus. Schön abgestimmt mit der SVP, die in verschiedenen Kantonen mit Vorstössen die Kürzung der von der SKOS vorgegeben Ansätze fordert oder aber Gemeinden mit der SVP angehörigen Sozialvorstehern treten medienwirksam gleich ganz aus der SKOS aus.

Zum effektiven Missbrauch gibt es übrigens analog der IV (Nachtrag 2015: Mittlerweile gibt es eine Zahl: die IV-Missbrauchsquote liegt unter 1%) auch bei der Sozialhilfe bis heute keine konkreten Zahlen (Cui bono?), aber das macht nichts, denn die Diskussion ist – analog zu den zu den nicht objektivierbaren Krankheiten, die nun nicht mehr IV-berechtigt sind – bei der Sozialhilfe mittlerweile bei der nicht genau definierbaren «Renitenz» angelangt. Und von der «aktiven Renitenz» ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur «passiven Renitenz» oder wie es der Sozialvorsteher von Köniz (BE) Ueli Studer (SVP) formuliert: «Vielen ist es in der Sozialhilfe recht wohl».

Das ist dann der Punkt, wo Ökonomen – natürlich – sehr sachlich die «falschen Anreizen» hervorheben, die die Betroffenen vom Arbeiten abhalten. Und darum müsste man die betreffende Sozialleistung eben kürzen. Damit sich «Arbeit lohnt». Auch das kennen wir bereits von der IV.

Das Problem sind in meinen Augen nicht mal so sehr die geforderten Kürzungen. Ich finde nur das jeweils um die zehn Jahre dauernde Affentheater drumherum unfassbar erbärmlich. Keiner hat die Eier (Ja Entschuldigung die Wortwahl, aber ist doch wahr) hinzustehen und zu sagen: Hey, die Behinderten und all die sonstigen Sozialfälle kriegen jetzt weniger Geld. Punkt. (Ergänzung Juni 2018: Diesen Abschnitt würde ich heute – fünf Jahre später – angesichts der immer radikaler formulierten Forderungen der SVP zum Ab- und Umbau der Sozialhilfe nicht mehr so formulieren.)

Nein, man lässt erstmal (sehr wohlwollend) SVP und Weltwoche jahrelang die Drecksarbeit machen (Kollateralschäden inbegriffen, in Form der Beschämung der Betroffenen sogar sehr erwünscht) um dann am Ende aus dem feinen Büro an der Falkenstrasse in die Berichterstattung über die diesjährige Mitgliederversammlung der SKOS ganz subtil einzuflechten: «Die allerwichtigste Frage, ob die Sozialhilfe insgesamt zu hoch sei, wurde zwar erwähnt, nicht aber erörtert.»

Nein, man macht sich nicht (offiziell) selbst die Finger dreckig, aber ganz am Schluss dem gewünschten Resultat noch den letzten Schliff zu verleihen; das macht man dann gerne. Noblesse oblige.

Den Anti-SVP-Reflex überwinden

Ugugu vom Journalistenschredder hat dazu aufgerufen, das neueste Plakat der SVP zu «verhunztexten».  Und wenn man sich dann dran setzt, ist der erste Reflex  – auch bei mir – natürlich der hier:


Das Problem daran; egal was neuerdings draufsteht, das Gehirn hat die ursprüngliche Botschaft schon lange abgespeichert und je öfter man das zugehörige Bild sieht, für desto relevanter hält das Gehirn diese Botschaft. Im Prinzip also genau das, was die SVP beabsichtigt und mit grossen Erfolg praktiziert; je öfter auch die Medien über noch so verrückte Ideen der SVP berichten – Hauptsache es wird berichtet.

Je länger ich dann aber auf das Plakat auf meinem Bildschirm geguckt habe, desto mehr hat es mich angewidert und ich befand dass man der Sache irgendwie anders begegnen sollte, etwa so:


Darauf ist zwar das ursprüngliche Plakat kaum mehr zu erkennen, allerdings nimmt es doch noch klar Bezug auf die SVP – ja erwähnt sie sogar. Also immer noch genau das, was die SVP will: Den Massstab setzen und alle orientieren sich an dem von ihr gesetzten Massstab. «Gegen die SVP zu sein» ist aber kein Programm. Grundsätzlich vor allem mal «dagegen sein», aber keine Alternative aufzuzeigen, ist im Gegenteil die genaue Adaption des von der SVP-geprägten Politstils. Im Prinzip wäre die einzige Reaktion auf die SVP, überhaupt nicht mehr auf sie zu reagieren, die eigenen Werte hochzuhalten, absolut ungeachtet dessen was man in Herrliberg oder sonstwo wieder ausbrütet. Wie man sowas macht, hatte der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg der Welt kürzlich eindrücklich gezeigt:


Nur leider hat das in der Schweiz nicht funktioniert. Unsere Politik und unsere Gesellschaft haben ihre Werte nicht hochgehalten und sich in einer richtigehenden Appeasement-Politik ein Klima von Hass und Verachtung aufzwingen lassen. Kürzlich äusserte sich der der SVP angehörende Obwaldner Kantonsratspräsident Adrian Halter geradezu stolz über das Verdienst seiner Partei, dass Begriffe wie Scheinasylanten oder Scheininvalide heute zum Volksmund gehören.

Leider gehören diese Begriffe nicht nur zum allgemeinen Wortschatz, es ist zum festen Usus geworden, dass bei jeglicher Diskussion zu den Themen Asylbewerber, Sozialhilfe- oder IV-Bezüger, Ausländer, Islam, Integration ect. von denjenigen, die die Meinung der SVP nicht teilen, sozusagen als Glaubensbekenntnis gefordert wird, dass sie eingestehen, dass es selbstverständlich Probleme gäbe, dass natürlich nicht alle Ausländer/IV oder Sozialhilfebezüger integrationswillig seien ect. ect. (Wohingegen sich von der SVP keiner in irgendeiner Weise bemüssigt fühlte, sich von den politischen Inhalten, die den Attentäter von Norwegen zu seiner Tat inspirierten zu distanzieren).

Und dieses «Glaubensbekenntnis» das alle schön brav mitbeten, dient als Vorzeichen, nach dem die Gesetze gemacht werden – und genauso sehen unsere Gesetze, die diese Bevölkerungsgruppen betreffen mittlerweile auch aus.

Wer es wagt, daran Kritik zu üben, wird als naiver Gutmensch gebrandmarkt, der der «Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wolle». Derjenigen «Wahrheit», die uns seit Jahren über alle Kanäle eingetrichtert wird. In unerbittlicher Regel-mässigkeit werden unsere Städte und Dörfer mit diesen hasserfüllten «Wahrheiten» zugepflastert und ausser einem matten «Stopp SVP» fällt uns dazu schlichtweg nichts mehr ein. Weil wir uns an der SVP orientieren und versuchen, sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Und mit der Anwendung ihrer eigenen Mittel machen wir uns zu den Handlangern ihrer Ideologie und ihres Stils (falls man da überhaupt noch von Stil reden kann).

Wir sollten anfangen, eigenständig und unabhängig vom Fahrplan der SVP für unsere Werte zu einzustehen und aufhören zu denken, das täten wir, wenn wir doch nichts anderes tun, als wie die pavlov’schen Hunde auf die SVP zu reagieren.

Es scheint allerdings, als müssten wir das erst wieder lernen.

Der exemplarische Gesinnungswandel des Herrn W. aus S.

Ich könnte sehr sehr viel über die Art und Weise schreiben, mit welcher abgrundtiefen Menschenverachtung in den letzten Jahren viele Parlamentarierer die IV-Gesetzgebung an die Hand genommen haben.
Ich wähle dafür stellvertretend nur ein Beispiel aus – und nein, es ist kein Exponent der SVP, denn alleine hätte die SVP all die Forderungen aus ihren IV-Positionspapieren  gar nie durchsetzen können. Sie hatten fleissige und willfährige Helfer, die sich anfangs noch etwas widerborstig gaben, aber schliesslich nicht nur spurten, sondern geradezu Gefallen an der Sache fanden.

Besonders hervorgetan hat sich hierbei Nationalrat Reto Wehrli (CVP/SZ). Er ist Mitglied der SGK-NR und war bei der Behandlung der 5. IV-Revision im Parlament deren Kommissionssprecher. Den Antrag der Kommissionsminderheit (Federführend damals: NR Bortoluzzi), die bereits mit der 5. IV-Revision die Überprüfung und gegebenenfalls Streichung von bisherigen Renten im Gesetz verankern wollte, kommentierte Rechtsanwalt Wehrli anno 2006 noch folgendermassen: «Die Kommissionsminderheit hat hier zum Zweihänder gegriffen. Bei allem Verständnis für das Bedürfnis, komplexe Probleme einfach zu lösen: So geht es wohl nicht. (…) Eine Anpassung der laufenden Renten an die neue Rechtslage bei gleichbleibendem Sachverhalt würde zu einer unzulässigen echten Rückwirkung des neuen IVG führen. Das ist rechtsstaatlich nicht haltbar(…)».

Das war wie gesagt anno 2006. Eine Mehrheit des Nationalrates sprach sich damals denn auch gegen die Anpassung laufender Renten aus.

Man weiss nicht genau, was in den nächsten drei Jahren passiert ist: Amnesie? Ziegelstein auf Kopf gefallen? Im Ratssaal und in der Kommission zu oft SVP-Parolen anhören müssen und irgendwann selbst geglaubt? Vergessen, dass man eigentlich Jurist ist?

Man weiss es nicht.

Jedenfalls hat ausgerechnet Wehrli 2009 die Motion «Neuüberprüfung von laufenden IV-Renten. Rechtsstaatlich klare Regelung» eingereicht, in der er fordert, dass auch laufende IV-Renten einer vollständigen Neubeurteilung zu unterzogen werden können.

Was Wehrli drei Jahre zuvor noch als «rechtsstaatlich nicht haltbar» verurteilt hatte, forderte er nun plötzlich selbst. (Der Eingang dieser Forderung in die IV-Revision 6a und und deren Gutheissung durch das Parlament war dann nur noch Formsache).

Falls jemand eine plausible Erklärung für Wehrlis Neuinterpretation von Rechtsstaatlichkeit parat hat: Bitte in den Kommentaren kundtun. Ich bin gespannt.

Das wirklich Traurige an der Sache ist aber, dass Wehrli kein Einzelfall ist. Es ist mittlerweile ganz offenbar absolut salonfähig, Menschen die gesundheitlich beeinträchtigt sind, zu behandeln wie den letzten Dreck. Respekt? Rechtsstaatlichkeit? Faire Begutachtung? Faire Verfahren? Alles unnötig. Sind ja nur Menschen dritter Klasse…

David Siems hatte in Anlehung an Martin Niemöller nach der Annahme der Minarettinitiative folgendes geschrieben:

Als sie von Asylmissbrauch sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Asylant.
Als sie von Scheininvaliden sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Invalider.
Als sie von Islamisten sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Moslem.
Als sie von Perversen sprachen, habe ich geschwiegen,
ich war ja nicht homosexuell.
Als sie auf MICH losgingen, war keiner mehr da,
der etwas hätte sagen können.

Es hat an Aktualität nichts eingebüsst, tragischerweise nur noch dazugewonnen.

Und wenn dann (als ein Beispiel unter vielen) der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli heute im Tagesanzeiger sagt «Die SVP missachtet die Gewaltenteilung konsequent – und dies auf extensive Weise.» Ein Beispiel dafür sei der Umstand, dass SVP-Richter regelmässig in der Partei zum Rapport antraben müssten, was eigentlich höchst unzulässig sei, selbst wenn die Vorladungen offiziell unter dem Deckmantel «Information» vorgenommen würden.»

Dann ist das mehr als nur ein Warnzeichen. Denn das Gedankengut der SVP hat sich mittlerweile wie eine Infektion weit über deren Parteigrenzen hinaus ausgebreitet. Und dieses Gedankengut ist eine ernsthafte Bedrohung unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates. Eine Partei mag pointierte Meinungen haben, das gehört zu einer Demokratie dazu. Eine Partei aber, die sich immer wieder über bestehende Gesetze hinwegsetzt, die Gewaltenteilung nicht akzeptiert und für sich selbst jedes Recht herausnimmt bei gleichzeitiger Beschneidung der Rechte derjenigen, die sie als minderwertig brandmarkt (Ausländer, Muslime, Empfänger staatlicher Leistungen ect.) – eine solche Partei ist nicht einfach der lustige Pausenclown, damit das Newsnetz regelmässig eine gute Schlagzeile hat. Das Newsnetz und alle anderen Medien, die der Gesinnung der SVP immer wieder noch so gerne eine grosse Bühne bieten (die Klickraten!) machen sich mitschuldig an der Verbreitung dieses gefährlichen Gedankengutes.

Denn dass die Menschen die Propaganda der SVP irgendwann glauben, wenn man sie ihnen nur oft genug serviert, dass sehen wir exemplarisch an der IV-Gesetzgebung. Aber nicht nur dort, dass sehen wir auch dann, wenn wir selbst uns dabei ertrappen, wie wir genervt reagieren ob der Frau mit dem Kopftuch, dem deutschen Arzt am Unispital oder uns ein bisschen mulmig fühlen, wenn uns nachts auf der Strasse eine Gruppe ausländischer Jugendlicher begegnet. Es sind nur kurze Momente der Irritation und wenn wir genauer reflektieren wissen wir, woher es kommt: es wurde uns über die letzten Jahre über alle Kanäle eingebläut: Dass von diesen Menschen eine Bedrohung der einen oder anderen Art ausgeht.

Und was der Mensch immer wieder hört, das glaubt er irgendwann. Schlimmer noch, er nimmt irgendwann nur noch alle Begebenheiten wahr, die seine Sichtweise bestätigen. Was man an diesem Blog übrigens auch sehr gut beobachten kann: Ich sehe auch (fast) nur noch das, was sich gegen Menschen mit Behinderungen/chronischen Krankheiten richtet… Allerdings sehe ich darin auch oft Metaphern, die weit über die Thematik Krankheit/Behinderung/Invalidenversicherung hinausgehen. Man könnte sie wahrscheinlich anhand einer anderen Thematik genau so gut aufzeigen.

IV-Revisionitis

Ende März 2009 wurde auf Initiative des Basler Kultursenders ‚Radio X’ unter dem Titel «Die Charta – Berufschancen für Menschen mit einer Behinderung» ein Projekt lanciert, das innerhalb von 3 Jahren  in der Region Basel 100 zusätzliche Stellen für Menschen mit einer Behinderung schaffen soll. Bisher haben 108 Arbeitgebende die Charta unterschrieben und innerhalb des ersten Jahres wurden gerade mal sechs neue Stellen für Menschen mit Behin-derungen geschaffen.

Rechnet man das ganze auf 26 Kantone hoch, ergäbe das für die ganze Schweiz 156 neue Stellen innerhalb eines Jahres – und auf 6 Jahre hinausgerechnet: 936 neue Stellen.

Mit der 6. IV-Revision sollen allerdings innerhalb von 6 Jahren 16’000 Menschen mit gesundheitlichen Beinträchtigungen in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Wie das gehen soll? Das weiss niemand und vor allem;  man will bei den verantwortlichen Politikern auch lieber nicht so genau wissen, dass vor der 5. Revsion vollmundig angekündigt wurde, es würden mittels Otto Ineichens Projekt «Passerelle» 3000 neue Stellen für Menschen mit Behinderungen geschaffen – das Projekt ging bachab, effektiv geschaffen wurden gerade mal 30 neue Stellen. Da will man auch nichts mehr davon wissen, dass man vor der 5. IV-Revision die Früherkennung mittels «Studienergebnissen» anpries, die «belegten» dass eine Eingliederung ins Arbeitsleben unbedingt innerhalb der ersten 12 Monate nach dem Beginn der Erkrankung erfolgen müsste, da die Erfolgsaussichten ansonsten äusserst gering wären (nun aber will man auf einmal Menschen eingliedern, die schon jahrelang aus dem Arbeitsleben herausgefallen sind).

Da will man auch keine Resultate abwarten, die die Erfolge oder Misserfolge der 5. IV-Revision aufzeigen. Und nein, liebe Politiker und Verantwortliche des BSV: Die um 40% reduzierte Neurentenquote der letzten Jahre ist kein Erfolg, wenn die Betroffenen danach in der Sozialhilfe landen. Aber weil es keine offiziellen Zahlen dazu gibt, wieviele von den bei der IV Abgewiesenen schlussendlich bei der Sozialhilfe anklopfen müssen (oder aber von Verwandten bzw. Ehepartnern unterstützt werden müssen, weil die Sozialhilfe erst bezahlt wenn alle andere Möglichkeiten ausgeschöpft sind) existiert dieses Problem hochoffiziell natürlich gar nicht.

Genausowenig wie Zahlen dazu existieren, wie erfolgreich die mit der 5. IV-Revi- sion eingeführten Instrumente zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt denn nun wirklich sind. Und selbst wenn es offizielle Zahlen gäbe: Wieviele «Erfolge» sind denn da nun wirklich auf die Intervention der IV zurückzuführen? Und wieviele Menschen wären früher auch ohne «Früherkennung» der IV so oder so im Arbeitsmarkt verblieben?

Die ganze IV-Revisioniererei ist ein einziges Desaster. Früher wurden Menschen via IV frühpensioniert und bei den heute so gescholtenen psychisch Kranken interessierte man sich bei der IV keinen Deut darum, wie man diese erfolgreich wiedereingliedern könnte. Selbst wenn die Betroffenen sich eine Eingliederung gewünscht hatten, wurde diese in den allermeisten Fällen nicht bewilligt, weil man schlicht keine funktionierende Eingliederungsprogramme für diese spezi-fische Gruppe anbieten konnte und sich da auch nicht weiter drum kümmerte.

Dann wurde in den letzten Jahren der politische Druck auf die IV immer grösser und nun gibt man diesen Druck an die Betroffenen weiter, die sich nun gefälligst wieder einzugliedern haben, auch wenn man den selben Menschen vor zehn Jahren beschied, sie hätten sowieso keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.

Und wenn das mit der Eingliederung nicht funktioniert (nicht funktionieren kann, weil irgendjemand die gesundheitlich eingeschränkten Menschen ja auch anstellen muss), erhöht man einfach von IV-Revision zu IV-Revision den Druck auf die Betroffenen und versucht mit allerlei Tricks sie trotz bestehender Behin-derung von Versicherungsleistungen der Invalidenversicherung auszuschliessen. Beispielsweise indem Gutachten zu Ungunsten der Versicherten ausgestellt werden. Oder indem per Bundesgerichtsentscheid festgelegt wird, welche Krankheiten fortan nicht mehr IV-berechtigt sind. Oder indem schlicht und einfach das Gesetz in der 6. IV-Revision dahingehend geändert wird, dass Menschen von heute auf morgen die IV-Rente entzogen werden kann, die ihnen einst rechtmässig zugesprochen wurde – obwohl sich ihr Gesundheitszustand seither nicht verändert hat.

Eingliederung ist gut, wichtig und richtig – aber eine Umstellung eines Systems, das jahrelang seine Pflicht zur Eingliederung nur sehr mangelhaft wahrge-nommen hat, kann nicht innerhalb weniger Jahre geschehen. Auch in Wirtschaft und Gesellschaft muss ein Umdenken stattfinden, was die Integration von Menschen mit Behinderungen betrifft. Und gerade wenn die SVP immer am lautestesten «sparen» schreit bei der Invalidenversicherung, so macht sie sich doch gänzlich unglaubwürdig, wenn sie sich auf der anderen Seite ebenso vehement gegen die Integration von behinderten Kindern in die Regelschule wehrt. Integration beginnt nicht erst beim Eintritt ins Arbeitsleben. Integration beginnt viel früher und muss viel früher beginnen. Wer es als Kind bereits als selbstverständlich erlebt, gemeinsam mit Kindern mit Behinderungen zur Schule zu gehen, der ist später als Arbeitgeber auch MitarbeiterInnen mit Behin-derungen gegenüber aufgeschlossener.

Eine solche gesellschaftliche Änderung lässt sich aber nicht mittels der x-ten IV-Revision und unendlichem einseitigen Druck auf Menschen mit Behin-derungen erzwingen. Dazu braucht es ein bis zwei Generationen Zeit. Die die Politiker, welche für die Revisionitis verantwortlich sind, aber nicht haben. Schliesslich wollen sie schon vor den nächsten Wahlen «ihre Erfolge» präsentieren können.