Die IV pfeift auf das Vertrauen des Bürgers

Wenn heutzutage («Arbeit statt Rente!») jemand eine IV-Rente von 88% («Harte aber faire Entscheide!») zugesprochen erhält («Reduktion der Neurenten um fast 40%!) – Dann… würde man mal so denken, hat die IV-Stelle (in diesem Fall diejenige von Zürich) sich dabei schon was (medizinisch fundiertes) gedacht.

Da bei einer IV-Rente oft auch Privatversicherungen (z.B. Pensionkassen) zahlungspflichtig werden, können diese gegen den Entscheid einer IV-Stelle Einsprache erheben. Im eingangs erwähnten Fall hat die involvierte Versicherung (AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur) dies getan. Das an sich ist nichts Ungewöhnliches (mehr). Stirnrunzeln bereitet vielmehr folgender Satz aus dem Protokoll des Bundesgerichtes: «Die IV-Stelle schloss sich der Antragstellung der AXA an».

Also dieselbe IV-Stelle, die verfügt hat, dass jemand eine ganze IV-Rente erhält, schliesst sich einige Monate nach der von ihr selbst verfassten Verfügung dem Begehren der Privatversicherung an, dass ebendiese Verfügung aufgehoben werden soll…? Ähem…?

Juristisch mag das ja (aus welchen Gründen auch immer) «korrekt» sein, aber das Vertrauen des Bürgers in die IV, also das… wird dadurch nicht unbedingt gestärkt.

Das Bundesgericht – unter Präsident Ulrich Meyer übrigens – das bestätigte den Entscheid der Vorinstanz (Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich), wonach die Verfügung aufzuheben und keine Rente auszurichten sei und zwar unter Berufung auf «die fehlende Organizität der Symptome». Schön gell? Mit jedem Urteil dehnt man die Begrifflichkeiten ein kleines bisschen weiter aus – ist  ja auch schon bald 2012. Da muss man dann ordentlich was in der Hand haben, um die 17’000 IV-Bezüger «juristisch korrekt» aus der IV werfen zu können.

Und was mit den Betroffenen geschieht, ist den Bundesrichtern dann auch Hans was Heiri – oder wie es im Protokoll heisst: «Dem Versicherten ist der Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess so oder anders zuzumuten».

So oder anders, was kümmert uns das.

http://jumpcgi.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=16.09.2011_9C_511/2011

Weiterer Blogartikel zum Thema: «Der sogenannt Versicherte erfährt dann, dass er plötzlich nicht mehr versichert ist»

«Der sogenannt Versicherte erfährt dann, dass er plötzlich nicht mehr versichert ist»

Der Artikel von Rene Staubli im Tagesanzeiger über den Fall von Elsbeth Isler hat viele Reaktionen ausgelöst. Unter anderem auch den folgenden Leserbrief des Zürcher Psychoanalytikers Werner A. Disler:

Politik und Rechtsprechung erarbeiten fern von der Praxis Entscheide, die sich in sehr vielen Einzelfällen (also bei konkreten Menschen aus Fleisch und Blut) existenziell vernichtend auswirken.

In der alltäglichen Praxis der Medizin, besonders in der Psychiatrie und in der Psychotherapie, begegnen wir Menschen, die sich in grosser Not befinden. Die behandelnden Fachleute befinden sich täglich an der Front leidender Menschen. Das ist die Arbeit der Behandlungsmedizin. Daneben hat sich, fern von dieser Front, im Hintergrund eine andere, eine zweite Medizin, die Versicherungs-rechtsmedizin, etabliert, welche die Arbeit der behandelnden Ärzte und besonders deren Diagnosen und Prognosen aufheben und wirkungslos machen kann. Dies führt zur Entmündigung der Behandlungsmedizin und zur willkürlichen Verfügung über das Leben von Patienten durch medizinische/psychiatrische Laien, nämlich Juristen.

Die so «behandelten» Prämien- und Steuerzahler (Patienten) verlieren damit nicht nur ihren Glauben an den Sozial- und Rechtsstaat, weil sie sich in ihrem Rechtsempfinden schwer verletzt fühlen, sie werden durch dieses Rechtsverständnis einer oligarchen Versicherungsrechtselite auch real als Sozialhilfeempfänger ausgegrenzt. Die Mittel der Organisationen, die eingesetzt werden, um die Leistungspflicht zu umgehen, sind vielfältig. Wir lesen in den Medien, wie Begutachtungsinstitutionen, die von ihren Auftraggebern weitgehend abhängig sind, ihren Auftraggebern die Leistungsverweigerung empfehlen. Sie arbeiten durchwegs mit dem fragwürdigen Krankheitsbegriff des Sozialversicherungsrechts. Der sogenannt Versicherte erfährt dann, dass er plötzlich nicht mehr versichert ist. Sein Rechtsempfinden wird schwer verletzt.

Professor Meyer sagt es so: «Der betroffenen Person muss klargemacht werden, dass sie zwar aus medizinischer Sicht krank und arbeitsunfähig ist, es aber aus juristischer Sicht nicht sein soll, weil die Morbiditätskriterien nicht erfüllt sind, an deren Vorhandensein die Rechtsprechung die Leistungsberechtigung knüpft.» (Meyer U. (2009): Krankheit als leistungsauslösender Begriff im Sozialversicherungsrecht. In: Gächter u. Schwendener (2009), S. 20). Diese «Morbiditätskriterien» basieren nicht etwa auf beweisbaren, sondern auf den umstrittenen «Foerster»-Kriterien und auf der von Sozialversicherungsrechtlern frei erfundenen unwahren Behauptung, verschiedene Störungen, u. a. Schmerzstörungen und depressive Episoden, seien mit dem Willen überwindbar. So die Diagnose des Bundesrichters Dr. iur. Ulrich Meyer im BGE 131 V 50.

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Der Leserbrief ist ein Auszug aus einem längeren Artikel mit dem Titel «Die Entmündigung der Medizin durch die Justiz» in dem Werner A. Disler die ganze Problematik aus der Sicht des Psychotherapeuten ausführlich und mit juristischen Fachwissen gespickt darlegt. Diese disziplinübergreifende Sichtweise ist leider sehr selten und absolut lesenswert. Der ganze Text kann als Worddokument heruntergeladen werden. Herzlichen Dank an dieser Stelle an Herrn Disler für die Erlaubnis, den ganzen Artikel hier zugänglich zu machen.

Medas-Gutachten sagt: 100% invalid, Bundesgericht entscheidet: 0% invalid

Medas-Gutachter stehen nicht unbedingt im Ruf, sich in übermässiger Weise für die Begutachteten stark zu machen. Um es mal sanft auszudrücken. Wenn also ein multidisziplinäres Medas-Team jemanden während einem 5 Tage dauernden stationären Aufenthalt begutachtet und zum Schuss kommt, dass der Betreffende «sowohl in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als auch in jeder anderweitigen Erwerbstätigkeit als nicht mehr arbeitsfähig zu betrachten» sei, dann ist davon auszugehen, dass derjenige ein ernsthafteres gesundheitliches Problem haben dürfte.

Rein medizinisch gesehen zumindest. Und rechtlich gesehen, also vor Gericht, wurde den Medas-Gutachten bisher stets ein ziemlich hoher Beweiswert zugestanden. In der Regel zu Ungunsten des Betroffenen. Im vorliegenden Fall aber verneint das Bundesgericht die im Medas-Gutachten konstatierte 100% Arbeitsunfähigkeit, denn «der vorinstanzlichen Rechtsauffassung, wonach bei nichtorganischen Hypersomnien* ebenfalls die Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352 und seitherige) sinngemäss heranzuziehen sei, ist beizupflichten».

Das Bundesgericht unter Bundesrichter Meyer frönt hier also mal wieder seiner bevorzugten Beschäftigung, nämlich dem Ausweiten der Liste der «patho-genetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage».

Und zeigt uns mit diesem Urteil exemplarisch auf, warum BR Burkhalter unter keinen Umständen eine Liste der Beschwerdebilder, die mit der Schluss-bestimmung der IV-Revision 6a unter die Renten-Überprüfung fallen werden, anfertigen wollte: Damit diese Liste vom Bundesgericht ständig und ungehindert erweitert werden kann.

Bemerkenswert an diesem Urteil ist aber noch etwas ganz anderes: Das Medas-Gutachten wird nämlich nicht komplett ignoriert, sondern nur selektiv – einzelne Teile daraus werden zu einer Argumentationskette herangezogen, bei der der Begriff der Logik mal wieder sehr stark strapaziert wird… Hier muss kurz vorrausgeschickt werden, dass bei somatoformen Schmerzstörungen in Ausnahmefällen ein invalidisierender Gesundheitschaden anerkannt werden kann, wenn bestimmte andere Kriterien (sog. Försterkriterien) erfüllt sind. Das Bundesgericht verneint in diesem Fall aber das Vorhandensein der Förster-kriterien, und zwar indem es sich auf das Medas-Gutachten beruft… (das selbe Medas-Gutachten notabene, das auch ohne Vorhandensein der Försterkriterien dem Versicherten eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt…)

Eines dieser Försterkriterien sind «unbefriedigende Behandlungs-ergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanterund/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmass nahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person.»

Hierzu meint das Bundesgericht im vorliegenden Fall mit Berufung auf das Medasgutachten: «Denn unter dem hier einzunehmenden objektiven Blickwinkel reicht es für eine Bejahung des Kriteriums nicht, dass die versicherte Person sämtliche Therapievorschläge des Hausarztes oder der übrigen behandelnden Ärzte in kooperativer Weise umgesetzt hat(…) In der MEDAS-Expertise wird ausgeführt, dass das therapeutische Potential noch keineswegs ausgeschöpft sei.»

Ein anderes dieser Försterkriterien ist eine «psychisch ausgewiesene Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer». Die Medas-Gutachter konnten jedoch ausdrücklich keinen psychischen Gesundheitsschaden beim Versichtern feststellen. Sie befanden jedoch, dass er «aus seinem „praktisch ausschliesslich … passiven Lebensstil“ (Anmerkung meinerseits: zur Erinnerung, der Mann leidet unter einer Hypersomnie*) insofern einen „ausgeprägten sekundären Krankheitsgewinn“ zu ziehen scheine, als er „von seinen Angehörigen geschont und unterstützt und dabei in seiner Krankenrolle lediglich bestätigt und fixiert“ werde» (…) Deshalb empfehlen die Gutachter u.a. «eine intensive Psychotherapie (mindestens eine Sitzung pro Woche) zwecks Aufdeckung und Bearbeitung eventueller unbewusster Konflikte. Dabei sei mit der Möglichkeit einer positiven Veränderung der Arbeitsfähigkeit innerhalb von einem bis zwei Jahren zu rechnen».

Der Mann hat also kein psychisches Problem. Aha. Soll aber während ein bis zwei Jahren mindestens 1 Mal pro Woche zur Psychotherapie. Soso. Da könnten nämlich eventuelle unbewusste Konflikte aufgedeckt werden. Und man rechnet mit der Möglichkeit einer positiven Veränderung. So richtig überzeugt klingen die Medasgutachter aber nicht wirklich und vor allem befinden sie ja auch, dass der Mann aktuell auf jeden Fall zu 100% arbeitsunfähig ist.

Das Bundesgericht aber zieht einen anderen Schluss: «Es genügt nicht, dass das Merkmal des mehrjährigen, chronifizierten Verlaufs der Schlafstörung mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Remission hier nicht von der Hand gewiesen werden kann. Denn für sich allein reicht dieses Kriterium aus IV-rechtlicher Sicht nicht aus, um in einer körperlich leichten Erwerbstätigkeit eine Leistungseinschränkung zu begründen(…) Nach dem Gesagten vermag die von den MEDAS-Fachärzten in ihrem (ansonsten in keiner Weise zu beanstandenden) Gutachten bescheinigte vollständige Arbeitsunfähigkeit einer Überprüfung anhand der normativen Leitlinien gemäss BGE 130 V 352 und seitheriger Rechtsprechung nicht standzuhalten.»

Man hätte auch sagen können: «Wir finden das Medas-Gutachten nur dort relevant, wo es uns Argumente an die Hand liefert, das Leistungsbegehren des Versicherten abzulehnen, aber den Rest, den könnt ihr behalten – denn: relevant ist nicht, was die Ärzte sagen, sondern die IV-Gesetzgebung». Und die IV-Gesetzgebung, die vorsieht, dass «somatoforme Schmerzstörungen mit zumutbarer Willenanstrengung überwindbar sind» die beruht nicht etwa auf fundierten medizinischen Kentnissen, -Nein, diese Interpretation stammt praktischerweise vom Bundesgericht selbst.

Im Prinzip braucht man beim Bundesgericht eigentlich gar keine medizinischen Gutachten mehr. Man weiss es ja selbst sowieso besser. Mit Medizin hat das alles allerdings überhaupt gar nichts mehr zu tun.

Und jedes weitere Bundesgerichtsurteil dient als Grundlage für weitere (noch fragwürdigere) Bundesgerichtsurteile – und natürlich auch für die Praxis der IV-Stellen.

Und es mag dann zwar wieder unglaublich schick aussehen in den IV-Statistiken (« Die rückläufigen Neurentenzahlen beweisen den Erfolg der IV-Revisionen!») – realerweise wird jemand mit einer solchen Problematik doch gar nie eine Stelle finden oder sie nicht lange behalten können.

Urteil: http://jumpcgi.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=25.02.2011_9C_871/2010

*Nichtorganische Hypersomnien haben die Form von starker Schläfrigkeit während des Tages. Typisch sind auch Schlafanfälle, die nicht durch eine unzureichende Schlafdauer erklärbar sind. Ferner können sie sich als verlängerte Übergangszeiten vom Aufwachen aus dem Schlaf bis zum völligen Wachsein manifestieren. Bei monotonen Tätigkeiten (z.B. Fahren auf der Autobahn) oder in körperlich passiven Situationen (z.B. Zeitung lesen) drohen Hypersomniker nach wenigen Minuten einzuschlafen. Chronische Hypersomnie ist mit grossem Leidensdruck verbunden: Die Leistungsfähigkeit in Beruf und Privatleben sinkt mitunter erheblich. (Quelle: KSM – Klinik für Schlafmedizin).