EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem, Teil 3/4: Neue Mietzinsmaxima: Mitleidslobby gewinnt, Selbstbestimmung verliert

Am 1.1.2024 wird die neue EL-Gesetzgebung nach einer dreijährigen Übergangsfrist auch für jene bisherigen EL-Beziehenden in Kraft treten, für die sich durch die EL-Reform finanzielle Verschlechterungen ergeben. Neben den offensichtlichen Sparmassnahmen (u.a. bei den Krankenkassenprämien) haben auch die von Verwaltung, Politik und sogar von den Behindertenorganisationen als «Erhöhung der Mietzinsmaxima» geframten Veränderungen bei der Berechnung der Mietansätze für bestimmte Anspruchsgruppen effektiv keine höheren, sondern tiefere Mietzinsmaxima zur Folge. Die meisten Betroffenen werden durch die Veränderung ihrer Wohnsituation schon (für die EL teils kostensteigernde) Konsequenzen gezogen haben, andere werden den Fehlbetrag (erstmal) aus eigener Tasche berappen (müssen).

Das neue System bei der Berechnung der Mietzinsmaxima orientiert sich viel stärker als vorher am (vermeintlichen) «Bedarf». Weil allerdings der Bedarf gewisser Anspruchsgruppen bei der Gesetzgebung komplett vergessen ging, mussten diese nachträglich noch möglichst mitleiderregend um entsprechende Anpassungen betteln.

Die ursprüngliche Idee der Ergänzungsleistungen, welche den Bezüger·innen einst möglichst viel Eigenverantwortung und finanzielle Selbstbestimmung zugestand, wurde durch diese «bedarfsorientierte» Neugestaltung der Mietzinsmaxima zudem stark beschnitten.

Die Ausgangslage

Vor der EL-Reform galten schweizweit folgende Mietzinsmaxima für EL-Beziehende (vergütet wurde/wird nur der effektive Mietzins, keine Pauschale):

  • Alleinstehende Personen erhielten höchstens 1’100.-/Monat und Person (als «alleinstehend» galten nicht nur Alleinwohnende, sondern auch Personen in Konkubinaten, WG’s und anderen gemeinschaftlichen Wohnformen, da in ihre EL-Berechnung keine weiteren Personen wie Ehepartner oder Kinder einbezogen werden.
  • Ehepaare und Familien erhielten höchstens 1’250.-/Monat – pro Wohnung, nicht pro Person.
  • Der Zuschlag für eine rollstuhlgängige Wohnung betrug 300.-/Monat und Person.

Diese Ansätze galten seit 2001 und wurden ab ca. 2008 von Senioren- und Behindertenverbänden immer wieder lautstark als zu niedrig kritisiert. Von allen Seiten wurden im Parlament über die Jahre unzählige Vorstösse eingereicht, die eine Anpassung der Mietzinsmaxima verlangten. Sogar SVP-Ständerat Alex Kuprecht forderte 2009:

Diese realen Mietzinse sind in der heutigen Zeit kaum mehr marktkonform, sie liegen sehr oft 50 Prozent bis 80 Prozent höher. Eine Anpassung drängt sich deshalb auf.

09.4328 Motion Anpassung der anerkannten Ausgaben im Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung

Doch der Bundesrat hatte keine Eile – und ausserdem: Was das kosten würde!

Ein komplett neues System mit Gewinnerinnen… und Verlierern

2014 wurde schliesslich eine Vorlage zur Änderung der Mietzinsmaxima in die Vernehmlassung geschickt. Die Beratung des Geschäftes wurde dann aber weiter verschoben, weil es in die anstehende EL-Reform integriert werden sollte. Die Behinderten- und anderen sogenannt «sozialen» Organisationen waren höchst empört über diese weitere Verzögerung. Wenn man allerdings die Vernehmlassungsunterlagen nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte, war schon 2014 klar, dass einige EL-Beziehende sehr froh darüber sein dürften, wenn die alte Regelung noch möglichst lange bestehen würde. Denn vorgesehen waren nicht etwa gleichmässige Anpassungen, sondern eine komplette Neugestaltung des Systems mit drei verschiedenen regionalen Ansätzen. Für Alleinwohnende, Familien und Rollstuhlfahrer·innen waren zwar Erhöhungen vorgesehen, aber gleichzeitig (irgendwo muss man ja schliesslich sparen) enthielt die Vorlage für Erwachsene in Mehrpersonenhaushalten (WG’s, Konkubinate, Clusterwohnungen ect.) massive Verschlechterungen.

Ich schrieb 2014 nach der Veröffentlichung der Vernehmlassungsunterlagen:

Liebe ErgänzungsleistungsbezügerInnen, die in einer WG oder mit dem Konkubinatspartner zusammen wohnen
Was seitens des BSV in formvollendetem Neusprech unter dem Titel «Höhere anrechenbare Mietzinse in den Ergänzungsleistungen» Mitte Februar in die Vernehmlassung geschickt wurde, klingt zwar sehr grosszügig («Neben der Erhöhung der Mietzinsmaxima sieht der Bundesrat vor, die unterschiedliche Mietzinsbelastung zwischen Grosszentren, Stadt und Land zu berücksichtigen und dem erhöhten Raumbedarf von Familien Rechnung zu tragen») geht aber voll auf eure Kosten.

Doch die Behindertenorganisationen hatten die Situation von Wohngemeinschaften nicht auf dem Schirm. Man war so fixiert auf die bemitleidenswerten Familien und noch viel bemitleidenswerteren Rollstuhlfahrer·innen, dass alles andere komplett egal war. Nach der Verabschiedung der EL-Reform im März 2019 feierten sich die Verbände öffentlich dafür, dass sie sich so heldenhaft für «höhere» Mietzinsmaxima eingesetzt hatten:

Beim dringendsten Problem konnte sich das Parlament endlich zu substanziellen Verbesserungen durchringen. Die Mietzinsmaxima – die maximalen EL-Beiträge an die Wohnkosten – werden erhöht. Seit 18 Jahren sind diese nicht mehr angepasst worden. Da die Mieten seither exorbitant gestiegen sind, wurden viele Betroffene in die Armut gedrängt. (…) Speziell betroffen sind Mieterinnen und Mieter im Rollstuhl, da rollstuhlgängige Wohnungen fast durchwegs teurere Neubauten sind. Deshalb ist es erfreulich, dass die Behindertenverbände Gehör fanden und das Parlament neben den Mietzinsmaxima auch den Rollstuhlzuschlag um CHF 2400.- jährlich erhöht hat (auf insgesamt maximal 6000 Franken pro Jahr).

Inclusion Handicap, März 2019

Alle Behindertenorganisationen übernahmen in der Folge auch die völlig irreführende Grafik des BSV (siehen Bild unten) die suggerierte, dass alle Mietansätze (Zahlen gelten für 2021, wurden seither der Teuerung angepasst) nun höher seien als vorher. Die grünen Ergänzungen (durch mich) zeigen, dass das eine ziemlich verfälschte Darstellung ist:

Ergänzungsleistungen (EL) 2021: Was ändert?

Der dreckige Trick bei der obigen Darstellung war, dass Mehrpersonenhaushalte auf den Papier grundsätzlich nur als «Familienwohnungen» existierten, für die schon vor der EL-Reform eine Höchstgrenze von 1250.-/ Wohnung galt. Für Mehrpersonenhaushalte, in denen aber mehrere Erwachsene wohnten, die nicht miteinander verheiratet waren, gab es vorher keine Höchstgrenze pro Wohnung, sondern nur jene von 1’110.-/Person. In den Vernehmlassungsunterlagen zu den höheren Mietzinsmaxima von 2014 war dazu als empörendes Beispiel ausgeführt worden:

Heute wird für eine alleinstehende Person in einem Mehrpersonenhaushalt ein Mietzinsanteil bis zum Mietzinsmaximum für Alleinstehende berücksichtigt. Allerdings wird bereits heute in diesen Fällen eine Aufteilung des Mietzinses auf die Anzahl Personen im Haushalt gemacht. Trotzdem wäre es möglich, dass einer EL- beziehenden Person, die mit zwei weiteren Personen zusammen lebt, ein Mietanteil von bis zu 1’100.- im Monat berücksichtig wird. Die Wohnung könnte in diesem Fall bis zu 3’300 Franken im Monat kosten. Gemäss vorliegendem Vorschlag sollen dieser Person noch höchstens 592 Franken (Grosszentren) für die Miete berücksichtigt werden.

Die 592.-/Person in einer Dreier-WG in einer Grosststadt wie Zürich (Region 1) wurden dann zwar im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses noch äusserst grosszügig um 8.- auf sagenhafte 600.- erhöht, aber ansonsten wurde das Thema WG komplett vergessen. Im Vordergrund stand für Politik und Verwaltung die Idee, dass es sich für EL-Beziehende keinesfalls lohnen darf, (zu)viele Kinder zu haben, weshalb bei den Mietzinsmaxima für Mehrpersonenhaushalte höchstens vier Personen berücksichtigt wurden. Während die Mietansätze für Familien mit (wenigen) Kindern einerseits erhöht wurden, wurden aber gleichzeitig die Ansätze für den Lebensbedarf für Kinder unter elf Jahren gekürzt. Vor der Reform hatten Familien zwar weniger Geld zu Verfügung, aber sie konnten dafür eigenverantwortlich entscheiden, wie viel Geld aus dem Lebensbedarf der Kinder in die Miete floss. Sprich: Ob sich z.B. Geschwister als Kleinkinder ein Zimmer teilen und man das Geld stattdessen für andere Dinge benutzt, weil der Familie etwas anderes wichtiger ist. Nach der EL-Reform ist diese Selbstbestimmung nicht mehr möglich.

Oh shit, shit, shit…

Bloss einige Wochen nachdem das Parlament im März 2019 EL-Reform verabschiedet hatte, dämmerte es einigen Leuten aus der Praxis, was die neue Gesetzgebung für Bewohner·innen grösserer gemeinschaftlicher Wohnformen bedeuten würde und auch die Behindertenorganisationen bemerkten endlich, was sie seit der Eröffnung der Vernehmlassung 2014 komplett verschlafen hatten. Ihre Reaktion: «Oh shit, shit, SHIT!»

Oder anders formuliert in der Interpellation «Gemeinschaftliches Wohnen und Bezug von Ergänzungsleistungen. Werden kostengünstige Lösungen durch die EL-Reform verhindert?» die BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti am 8.5.2019 einreichte:

Neu wird in der EL-Berechnung einer erwachsenen Person mit einer Behinderung, die bei ihren Eltern lebt, ein Betrag von höchstens 575 Schweizerfranken berücksichtigt (Reg. 2); in einer 4er-WG in Zürich noch maximal 490 Schweizerfranken. Bei einer 16er-Cluster-WG, in der sich Mitbewohner gegenseitig unterstützen und die der sozialen Isolation auch im Alter entgegenwirkt, stünden nur noch Fr. 122.50 im Monat zur Verfügung (Reg. 1).

Qudranti fragte unter anderem:

Entsprechen die neuen Ansätze für Erwachsene mit Behinderungen, die bei den Eltern oder in WG wohnen, den effektiven Kosten sowie dem Recht auf Achtung des Privatlebens, was auch die Wahl der Wohnform beinhaltet?

Die Antwort des Bundesrates, welche jeweils durch das BSV formuliert wird, ist etwas vom abschätzigsten, was ich jemals vom BSV vernommen habe (und das will etwas heissen):

1./2./4. Die Achtung des Privatlebens wird durch die Höhe der Mietzinsmaxima nicht beeinträchtigt. Die Höhe der Mietzinsmaxima ermöglicht es EL-beziehenden Personen, weiterhin ein eigenes Zimmer in einer Wohngemeinschaft oder bei den Eltern zu bewohnen, sodass eine Rückzugsmöglichkeit besteht und das Privatleben gewahrt bleibt. EL-beziehende Personen können mit den neuen Mietzinsmaxima allerdings keinen grossen Beitrag an Gemeinschaftsräume leisten. Die individuellen Mietzinsmaxima, welche sich beispielsweise in einer 16-Clusterwohngemeinschaft ergeben würden, sind tatsächlich sehr tief. Daher sieht das Gesetz für solche Konstellationen eine auf drei Jahre befristete Übergangsbestimmung vor.

«Gemeinschaftsräume» für EL-Beziehende? Also bitte, wo kämen wir denn da hin? Sollen sich die Leute doch einen Camping-Kocher ins Zimmer stellen, aus dem Fenster pinkeln und wenn’s mal regnet, stellen sie sich einfach nackt auf die Strasse – die brauchen nun wirklich keine Küche oder gar – welch unnötiger Luxus – ein Badezimmer. Und hey, wenn ihnen das nicht passt, dann haben sie immerhin drei Jahre Zeit, um in eine eigene Wohnung mit Küche und Bad umzuziehen. Als Alleinwohnende betragen die Mietzinsmaxima in den verschiedenen Regionen nämlich ein vielfaches der Ansätze für Gross-WGs und für die EL wird es dann erst richtig richtig teuer (Was ich übrigens schon 2014 voraussagte).

Der Tages Anzeiger griff das Thema am 28.7.2019 unter dem Titel «Rentner erhalten mehr Geld, wenn sie alleine wohnen» auf:

In manchen Fällen wird das Wohngeld so stark gekürzt, dass die Betroffenen aus der WG ­werden ausziehen müssen, so wie die IV-Rentnerin M.K.* Sie lebt in einer mittelgrossen Stadt am Zürichsee in einer 8er-Wohngemeinschaft und bezahlt monatlich 740 Franken Miete. Zurzeit deckt die EL die Wohnkosten, M.K. könnte sogar maximal 1100 Franken Miete in Rechnung stellen. Mit der EL-Revision erhält sie künftig nur noch 235 Franken. Denn die neuen Wohnbeiträge sind maximal auf einen 4-Personen-Haushalt ausgerichtet, und für einen solchen gibt es in mittelgrossen Städten höchstens 1875 Franken. Um den Anspruch von M.K. zu berechnen, wird dieser Betrag durch 8 geteilt, die Anzahl der Bewohner.

Den Fehlbetrag von 500 Franken könne sie unmöglich ausgleichen, sagt M.K., die an starkem ADHS leidet. Deshalb sucht sie nun eine Einzelwohnung. Dafür werden ihr monatlich bei den EL maximal 1325 Franken zustehen, über 1000 Franken mehr als in ihrer WG. Der Umzug in eine Einzelwohnung wäre für M.K. allerdings einschneidend. Die Wohngemeinschaft biete ihr ein familiäres Umfeld und Stabilität, sagt sie. «Wir tauschen uns aus, teilen und helfen einander – ganz praktisch wie auch emotional.» Dank dieser Unterstützung habe sie die Klinikaufenthalte minimieren können und benötige im Alltag keine Begleitung.

«Rentner erhalten mehr Geld, wenn sie alleine wohnen» Tages Anzeiger, 28.7.2019

Die neue WG-Kategorie schafft falsche Anreize – für die Behörden

In einer Feuerwehrübung wurde dann kurzfristig doch noch ein WG-Tarif geschaffen: EL-beziehende Personen, die in einer WG wohnen, sollten neu gleichviel Geld für die Miete erhalten, wie wenn sie in einem 2-Personen Haushalt wohnen würden – egal, wie gross die WG ist. Aktuell (Stand 2023) betragen die Mietzinsmaxima für WG-Bewohner·innen für die Region 1: 867.50, für die Region 2: 842.50 und für die Region 3: 782.50.

Die neuen WG-Ansätze liegen damit immer noch deutlich unter den 1’100.-, welche vor der Reform maximal an Einzelpersonen ausgerichtet wurden, egal, ob sie alleine oder mit anderen zusammenwohnten. Da die Mietzinsmaxima für Alleinwohnende zusätzlich sehr grosszügig erhöht wurden (Region 1: 1465.-, Region 2: 1420.-, Region 3: 1295.-) erhalten WG-Bewohner·innen 500.- bis 600.- pro Monat weniger als Alleinwohnende. Damit wurde für die EL-Durchführungsstellen ein grosser Anreiz geschaffen, äussert kreativ auszulegen, was denn nun denn genau ein «WG-Zimmer» ist.

So befand zum Beispiel die Berner Ausgleichskasse im Fall eines 89-jährigen Rentners, der selbständig in einem an ein Pflegeheim angeschlossenen Altersstudio wohnt, dass es sich dabei – trotz eigenem Bad und Kochnische – um ein WG-Zimmer handle und kürzte kurzerhand die Beiträge auf WG-Niveau. Deshalb kann der Rentner sein 1’200.- teures Studio nun nicht mehr bezahlen und wird ausziehen müssen.

Die Begründung der Berner Ausgleichskasse ist geradezu bösartig:

Bei der Wohnung handle es sich um eine Wohngemeinschaft. Das sei in einem Video auf der Webseite und auf Flyern der Altersresidenz so angegeben. In der Tat spricht eine Seniorin in einem Video von einer WG. Für Wohngemeinschaften seien laut Gesetz tiefere EL-Beiträge vorgeschrieben, schreibt die Ausgleichskasse: «Wir haben keinen Ermessensspielraum.» Man könne nicht von den geltenden Regelungen abweichen.

Weil er in «WG» wohnt, steht ein Heimbewohner vor dem Ruin, SRF Regionaljournal Bern, Freiburg, Wallis, 27.08.2023

Angeblich «teure Luxus-WG’s» oder noch teureres Alleinwohnen?

Auch für EL-Beziehende, die effektiv in einer WG wohnen, wirken sich die neuen massiv tieferen WG-Mietzinsmaxima negativ aus. Der Tages Anzeiger berichtete im Sommer 2022 über zwei junge Männer, die mit den neuen Ansätzen ihre 2790 Franken teure Wohnung – nach der am 1.1.2024 endenden Übergangsfrist – nicht mehr bezahlen könnten.

Auf den ersten Blick wirken 2790.- für eine Zweier-WG natürlich nicht gerade günstig. Doch Peter Buri und Thomas Bertolosi sind nicht nur auf eine völlig barrierefreie Wohnung (die i.d.R. nur in teuren Neubauten zu finden ist), sondern auch auf Elektrorollstühle, sowie Assistenzpersonen angewiesen. Und das benötigt Raum: die beiden Elektrorollstühle zum Manövrieren und die Assistenzperson ein Zimmer zum Übernachten. Nach altem Recht haben Buri und Bertolosi je maximal 1’100.- für die Wohnung und je 300.- Rollstuhlzuschlag erhalten und konnten so – die von der IV zusätzlich extra für ihre Bedürfnisse umgebaute Wohnung – gemeinsam gerade eben bezahlen.

Nach neuem Recht erhalten die beiden Männer nur noch den WG-Ansatz, der in der Region 2 aktuell (2023) 842.50/Person beträgt. Der Rollstuhlzuschlag, der bisher pro Person maximal 300.- betrug, wird neu nicht mehr jeder Person, sondern nur noch einmal pro Wohnung gewährt. Wir erinnern uns an dieser Stelle kurz an die Behindertenorganisationen die sich – siehe weiter oben – auch dafür feierten, wie heldenhaft sie sich für höhere Rollstuhlbeisträge eingesetzt hatten. Effektiv beträgt der Rollstuhlzuschlag pro Wohnung aktuell 535.- in einer Zweier-WG pro Person also nur noch 267.50.
Pro WG-Bewohner ergibt sich dadurch ein Höchstbetrag von 1110.- statt wie nach altem Recht von 1400.- Mit den 2220.- könnten Buri und Bertolosi aber ihre 2790.- teure Wohnung nicht mehr bezahlen.

Zögen hingegen beide in eine eigene Wohnung, erhielte jeder von ihnen bis zu 1420.- plus 535.- Rollstuhlzuschlag, also maximal 1955 Franken. Mal zwei würde das die EL dann 3910.- kosten. Der Tagi schrieb:

Ziehen Buri und Bertolosi in eigene Wohnungen, entstehen der EL höhere Wohnkosten als in der WG. Aber auch die IV fährt schlechter, weil dann jeder für sich eine Assistenzperson braucht und eine angepasste Wohnung, statt sie wie bisher teilen zu können. Buri, der politisch in der SP aktiv ist, bezeichnet die EL-Reform als eine «bürgerliche Idiotie». Geradezu grotesk sei es, dass der IV bei einem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung horrende Rückbaukosten entstünden und zusätzlich noch Umbaukosten in den neuen Wohnungen.

Ausserdem:

Da sei dem Parlament tatsächlich ein Fehler unterlaufen, sagt Erich Ettlin, Präsident der ständerätlichen Sozialkommission. Die EL-Reform sei sehr komplex gewesen, und bei den WGs mit Assistenzzimmer handle es sich um einen Spezialfall. Nun müsse geprüft werden, wie der Fehler korrigiert werden könne, sagt der Mitte-Politiker. Dass eine Korrektur nötig sei, sei offensichtlich, denn die Auflösung solcher Wohngemeinschaften sei nicht sinnvoll, nur schon weil dies Mehrkosten verursache.

WG-Bewohner mit Behinderung: Seine Freiheit ist gefährdet – wegen eines Fehlers des Parlaments, Tages Anzeiger 3.6.2022,

Spezialgesetze für die Allerärmsten und Bemitleidenswertesten

Die angeblich unbeabsichtigten «Fehler» welche Politik und Verwaltung mit ihrer gehässigen denen «Denen zeigen wir’s jetzt aber! – Attitüde bei den neuen Mietzinsmaxima verursacht haben, sollen nun im Rahmen der aktuell im Gesetzgebungsprozess befindlichen Vorlage über die «Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung Anerkennung des betreuten Wohnens für Bezügerinnen und Bezüger von EL zur AHV» behoben werden.

Unter anderem sind Speziallösungen für altergerechtes Wohnen vorgesehen, EL-Beziehende die eine Nachtassistenz benötigen, sollen einen Zuschlag für die Miete eines zusätzlichen Zimmers erhalten und der Rolllstuhlzuschlag soll nur bei der Berechnung der Person berücksichtigt werden, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist (wenn mehrere Personen auf einen Rollstuhl angewiesen sind und zusammenleben, soll jedoch pro Wohnung nur ein Zuschlag gewährt werden).

Oder anderes gesagt: Für die Anspruchsgruppen, welche in der Öffentlichkeit am meisten Mitleid erregen (Gebrechliche Senior·innen, Rollifahrer·innen und schwerbehinderte Menschen mit Assistenzbedarf) konnte durch erfolgreiches Lobbying im Nachhinein eine Extra-Spezial-Gesetzgebung erwirkt werden, während für diejenigen EL-Beziehenden, die nicht ganz so bemitleidenswerte Merkmale aufweisen können, nach wie vor gilt: «Denen zeigen wir jetzt aber, die müssen dann nicht meinen!»

Beispielhaft dafür, wie zum Beispiel Procap in seinem Magazin im März 2023 gross titelte:

«EL-Kürzungen für Wohngemeinschaften per Ende 2023: Eine Lösung ist in Sicht!»

Natürlich sind hier nicht Wohngemeinschaften von Fussgänger·innen gemeint, denn der Procap-Jurist Daniel Schilliger befand Ende 2020 in einem Artikel im Tages Anzeiger, dass die tieferen Ansätze für Konkubinate und WG-Bewohnder·innen vertretbar seien:

Auch EL-Bezüger in Wohngemeinschaften (WG) profitierten bis anhin davon, dass sie als Einzelpersonen betrachtet wurden. In einem ersten Anlauf hat das Parlament die WGs den Familienhaushalten gleichgestellt. Damit wären die Bewohner von Behinderten-WG deutlich schlechter weggekommen als heute. Nach Kritik von Behindertenorganisationen korrigierten die Räte ihren Entscheid. Die neuen Maximalbeträge für WG-Bewohner seien zwar tiefer als bisher, «sie entsprechen aber dem neuen Ansatz für Konkubinate und sind damit vertretbar», sagt Daniel Schilliger.

Mehr Geld für die Miete, strengere Regeln beim Vermögen, Tages Anzeiger, 12.10.2020

«Vertretbar», aber doch nicht für die Rollifahrer·innen…!

Schillinger tätigte obige Aussage im Tages Anzeiger, bevor man bei den Behindertenorganisationen begriffen hatte, dass nicht nur die profanen Fussgänger·innen in Konkubinaten/WG’s trotz der neu geschaffenen WG-Kategorie von «vertretbaren» Kürzungen» (sprich bis rund 300.- weniger pro Monat) betroffen waren, sondern tatsächlich auch manche Rollifahrer·innen in gemeinschaftlichen Wohnformen trotz angeblich «erhöhtem» Rollstuhlzuschlag plötzlich zum Umzug gezwungen sein würden.

Und das geht natürlich nicht! Also drängte man auf eine neue Extra-Spezial-Gesetzgebung (siehe oben) die aber auch nur wieder ganz bestimmten – nämlich ganz besonders bedürftigen – Gruppen zu Gute kommen wird (Spoiler: Auch manche Rollifahrer·innen müssen – trotzdem – umziehen, da das Problem nicht (nur) beim Rollizuschlag, sondern auch bei den deutlich tieferen WG-Ansätzen liegt).

Da der Gesetzgebungsprozess für diese Extra-Spezial-Gesetzgebung nicht bis Ende Jahr abgeschlossen sein wird und für bisherige EL-Beziehende die Übergangsfrist am 31.12.2023 abläuft, rät die Procap in ihrem Magazin:

Wenden Sie sich an den Fonds des Bundes «Finanzielle Leistungen für Menschen mit Behinderung» (FLB), der von Pro Infirmis verwaltet wird (www.proinfirmis.ch). Wenden Sie sich möglichst früh an Pro Infirmis, damit eine allfällige finanzielle Unterstützung durch den FLB geprüft werden kann. (…)

Die Zwischenlösung, dass Wohngemeinschaften den FLB zur Überbrückung von finanziellen Notlagen verwenden, die aufgrund der EL-Kürzungen entstehen können, wurde vom Bundesrat vorgeschlagen. Bis eine langfristige Lösung gefunden ist, soll so verhindert werden, dass Wohngemeinschaften aufgelöst werden oder Menschen unnötigerweise umziehen oder in ein Heim eintreten müssen.

Procap Magazin, März 2023

Nur, die «Finanziellen Leistungen für Menschen mit Behinderung (FLB)» sind an diverse Bedingungen geknüpft, unter anderem wird geprüft, ob die Antragstellenden auch wirklich genügend «bedürftig» sind. Als nicht bedürftig gelten laut FLB Leitsätzen alleinstehende Personen, deren «bewegliches Vermögen» 10’000.- überschreitet. Und das wird sehr genau geprüft:

Zum verwertbaren Vermögen wird das bewegliche Vermögen (Bargeld, Bank- und Postguthaben, Obligationen, Aktien und andere Vermögenstitel, Rückkaufswerte von Lebensversicherungen, Vermögen aus unverteilten Erbschaften, verfügbares Vermögen aus dem Kapitalbezug der 2. Säule, Edelmetalle, wertvolles Mobiliar, usw.) zugerechnet.

Finanzielle Leistungen an Menschen mit Behinderung (FLB) Leitsätze 2013 (neuer gibt’s wohl nicht).

Jene Betroffenen, die also mehr als 10’000.- Vermögen haben (Bei den EL gilt ein Vermögensfreibetrag von 30’000.-) sind also nicht «richtig» bedürftig und müssen nun für die Unfähigkeit der Gesetzgebenden buchstäblich bezahlen.

Fazit: Besser bereits am Anfang an Selbstbestimmung denken, statt im Nachhinein irgendwas wurschteln

Zwar wurden die Mietzinsmaxima für verschiedene Anspruchsgruppen erhöht, für manche allerdings bei genauerem Hinsehen nur vorgeblich und für dritte gar deutlich gesenkt. Der öffentlichkeitsheischende Einsatz von Behinderten- und anderen sogenannt sozialen Organisationen für «höhere anrechenbare Mietzinsmaxima» wurde aber – nicht zuletzt dank der äusserst willigen Mithilfe, Ignoranz und Inkompetenz ebendieser Organisationen – von Politik und Verwaltung auch pervertiert, um bei einem weiteren Aspekt der Ergänzungsleistungen den Fürsorgecharakter zu stärken und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Betroffenen praktisch auszuschliessen.

Die Mietzinsmaxima für Ehepaare und Familien waren vor der EL-Reform tatsächlich sehr tief, aber das hätte man völlig umkompliziert (u.a. über höhere Ansätze beim Lebensbedarf für Kinder) regeln zu können. Durch den kompletten Umbau des Systems mit je nach Wohnort und -situation unterschiedlichen Ansätzen wurde ein zuvor einfaches System massiv verkompliziert und zudem viele neue Ungerechtigkeiten geschaffen.

Es mutet zudem anachronistisch an, dass in Zeiten, in denen im Behindertenbereich das Schlagwort vom angeblich «Selbstbestimmten Wohnen» in aller Munde ist, der Gesetzgeber bei den Ergänzungsleistungen den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat.

Die Prämisse war hier nämlich nicht: «Wie können Menschen mit einer Behinderung mit den ihnen zur Verfügungen stehenden finanziellen Mitteln die für sie selbst beste Wohnsituation wählen?» sondern die Herangehensweise war genau umgekehrt: Die Gesetzgeber gingen davon aus, dass EL-Beziehende ihre Situation keineswegs eigenständig «optimieren» dürften. Wer zum Beispiel aufs Land zog und dafür eine schlechtere Infrastruktur und Verkehrsanbindung in Kauf nahm, konnte sich mit der alten Gesetzgebung eine grössere Wohnung als in der Stadt oder vielleicht auch ein WG-Zimmer in einem gemeinschaftlich bewohnten Haus leisten. Mit der neuen Gesetzgebung wurden solche Wahlmöglichkeiten bewusst unterbunden, weil solcherlei Optimierungsmöglichkeiten als Unverschämtheit, ja geradezu als Sozialschmarotzerei dargestellt wurden.

Der Treppenwitz an der ganzen Geschichte ist, dass es offenbar nicht als Sozialschmarotzerei empfunden wird, wenn EL-Bezüger·innen nun bewusst vom Land in die Stadt (mit höheren Mietansätzen) ziehen oder (teils gewungenermassen) aus einer billigeren WG in eine teure Einzelwohnung umziehen. Die Vorstellung dahinter ist, dass EL-Beziehende ja nichts dafür können, dass Wohnungen in der Stadt bzw. Einzelwohnungen teurer sind. Sie sind diesen Marktmechanismen schliesslich «hilflos» ausgeliefert und die EL sollte den «Hilflosen» dann schon «fürsorgerisch» beistehen, auch wenn sie in einer absurd teuren Stadt wie zum Beispiel Zürich wohnen. (Nicht-EL-Beziehende müssen ihre Situation auch «optimieren», wenn sie sich keine Wohnung in Zürich leisten können, sie bekommen allerdings nicht weniger Lohn von ihrem Arbeitgeber, wenn sie in eine Gemeinde mit tieferen Mieten ziehen, weil: Eigenverantwortung!)

Ganz besonders «hilflos» im Wohnungsmarkt gelten Rollstuhlfahrer·innen, weil die meisten Wohnungen schlicht nicht barrierefrei gebaut sind und die, die es sind, sind meistens neu und entsprechend teuer. In der neuen Gesetzgebung schlägt sich das dann so nieder, dass sich eine Rollstuhlfahrerin in der Region 2 aktuell eine Wohnung leisten kann, die bis zu 1955.- pro Monat kosten darf. Wohnen jedoch zwei Fussgänger in einer Wohnung, darf diese in der Region 2 höchstens 1685.- kosten. Die Wohnung, welche von zwei Personen bewohnt wird, muss also mindestens 270.- weniger kosten als die von der Rollstuhlfahrerin allein bewohnte Wohnung. Auch ein Ehepaar mit einem Kind (alles Fussgänger·innen) bekommt für seinen 3-Personenhaushalt immer noch 110.- weniger als die alleinlebene Rollstuhlfahrerin. Erst ein Ehepaar mit zwei oder mehr Kindern erhält ganze 55.- mehr als die alleinlebene Rollstuhlfahrerin. Das sind doch etwas merkwürdig anmutende Relationen, welche an die Idee von «würdigen» und «unwürdigen» Armen Behinderten gemahnen.

Vollends ad absurdum geführt werden die neuen Regelungen zudem, wenn es sich beim Paar mit Kindern nicht um eine Ehe- sondern ein Konkubinatspaar handelt, das patchworkmässig je ein eigenes Kind in die familiäre Wohngemeinschaft einbringt. Die Bewohner·innen gelten dann nicht als Familie, sondern jeweils einzeln als «Alleinstehend mit Kind». Entsprechend erhält jeder Elternteil zusammen mit seinem Kind in der Region 2 1685.- und die gemeinsame Wohnung kann deshalb bis zu 3370.- kosten. Das sind 1360.- mehr als die Familie in der die Eltern miteinander verheiratet sind. Hat man beim BSV gedacht, dass eheliche Kinder irgendwie kleiner sind als nichteheliche und sich deshalb platz- und kostensparender im Wandschrank verstauen lassen?

Eigentlich bestand ja eine Idee der Reform darin, dass Konkubinatspaare finanziell beim Mietzinsmaxima nicht mehr «besser» als Ehepaare gestellt sind, aber durch die nachträglich noch schnell hineingewurschtelte WG-Regelung wurden nun wieder neue Ungleichheiten geschaffen. Gescheiter als nach Wohnort und -Situation hätte man ausschliesslich nach Minderjährigen und Erwachsenen unterschieden und bei Minderjährigen – wie bereits erwähnt – eine Wohnpauschale in die Lebenshaltungskosten eingeschlossen.

Bei gemeinschaftlichen Wohnformen von Erwachsenen ist ausserdem zu erwähnen, dass es es sich hier nicht um Studenten-WG’s handelt, wo es darum geht, während weniger Jahre im Rahmen einer üblicherweise ganztägigen Ausbildung quasi «einen Platz zum Schlafen» zum haben. Die Situation von erwachsenen Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen, die nicht selten viel Zeit zu Hause verbringen – und dies über Jahrzehnte hinweg – ist eine grundsätzlich andere. Spätestens seit der Coronapandemie dürften viele Menschen aus eigener Erfahrung wissen, dass bei einem länger dauerndem ganztägigen Zusammensein in einer Wohnung mit anderen Personen begrenzte Platzverhältnisse einen grossen Stressfaktor darstellen.

Dass sich zudem nun wie oben im Falle des 89-jährigen Rentners gezeigt, Ausgleichskassen als WG-Detektive betätigen, um Wohn-Studios als angebliche WG-Zimmer zu «enttarnen», zeigt, dass durch die geradezu fanatische Besessenheit, jegliche vermeintlich falschen «Anreize» auf Seiten der Bezüger·innen zu eliminieren, an unerwarteten Orten ganz neue merkwürdige Anreize geschaffen werden können.

Kurz: Dass Politik und Verwaltung sich bei der Gesetzgebung einerseits dermassen stark von Missgunst und Missbrauchsfantasien einerseits leiten liessen und bei den nachträglich eingefügten Basteleien einzelnen Anspruchsgruppen dann aus Mitleid einige Extra-Spezialregelungen für Dinge (Beispiel Assistenzzimmer) gewährten, die die Betroffenen vor der Reform völlig unkompliziert eigenständig ohne extra Bittibätti machen zu müssen realisieren konnten, ist absolut unwürdig und ein Rückfall in die längst vergangen geglaubten Zeiten der maximalen Bevormundung von Menschen mit Behinderung.

Behindertenorganisationen, die den paternalistischen Geist dieser Reform unterstützten, können ihre euphemistischen Konzepte vom angeblich «Selbstbestimmten Wohnen» nun endgültig in einem schönen grossen Feuer verbrennen.