«Wir sind mit der Alltäglichkeit von Behinderungen momentan ungefähr da, wo die Homosexualität Anfang der Neunziger war»

Der deutsche Inklusions-Aktivist und Mitbegründer von leidmedien.de Raúl Krauthausen sagte neulich in einem Gespräch mit der «Welt»:

Wir sind mit der Alltäglichkeit von Behinderungen momentan ungefähr da, wo die Homosexualität Anfang der Neunziger war. In etwa zu Zeiten von Komödien wie ,Der bewegte Mann‘, als Schwule noch vorwiegend als lustige Tunten gezeigt wurden

Wie um Krauthausens Aussagen zu unterstreichen, geschahen in den Schweizer Medien kürzlich zwei Dinge: Zum einen erschien in der Aargauer Zeitung ein Artikel über die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, der mit folgenden Worten begann:

Den einen ist Ruth Humbel zu forsch. Wenn beispielsweise aus Anlass der IV-Revision Behinderte in die Wandelhalle des Bundeshauses eingeladen werden, dann sagt sie: «Ob dieser Betroffenheitspolitik wird mir fast schlecht.» Andere finden diese direkte Art erfrischend – endlich sagt ein Politiker, was er wirklich denkt.

Solche Aussagen kann man als gewählte Volksvertreterin in der Schweiz mal eben ganz locker machen – das finden die einen dann allerhöchstens etwas «forsch» oder eben gar «erfrischend». Auch die NZZ drückte vor einem Jahr deutlich ihr Unbehagen mit der «Betroffenheitspolitik» von Christian Lohr aus. Protest von irgendeiner Seite? Nö.

Ganz anders sieht es aus, wenn ein SVP-Nationalrat sich über die angeblich «verkehrt laufenden Hirnlappen» Homosexueller äussert. Empörung auf allem Kanälen. Die Medien greifen das Thema auf und Herr Bortoluzzi erhält allüberall Plattformen um (je nach Sichtweise) den anderen «Ewiggestrigen» zu versichern, dass sie mit ihrer Meinung («ich bin normal und die anderen abnormal») nicht alleine sind oder aber um sich weiter mit seiner (aufgeklärten Zeitgenossen zufolge) ewiggestrigen Meinung zu blamieren. Zweitere veröffentlichen dann engagierte Postings und «offene Briefe» in den Socialmedia, um für die Gleichberechtigung homosexueller Menschen zu plädieren die eigene Coolheit zu demonstrieren, weil man doch so weltoffen und aufgeklärt ist. Gleiches bei der NZZ am Sonntag wo man man sich in der Rubrik «Wortkontrolle» süffisant über Bortoluzzi lustigmacht.

Dabei befinden sich sowohl die Socialmediaempörten wie die NZZ auf der sicheren Seite, da man ja weiss, dass man sowieso in der Mehrheit ist, schliesslich hat das Schweizer Volk bereits vor neun Jahren das Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare angenommen. Damit möchte ich im übrigen nicht sagen, dass es  – besonders in ländlichen konservativen – Gegenden nicht nach wie vor schwierig sein kann für homosexuelle Jugendliche sich zu outen. Aber in Zeiten, in denen die Stadtpräsidentin der grössten Schweizer Stadt öffentlich in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben kann, ist Homosexualität vielleicht nicht mehr ganz so exotisch.

Es wäre allerdings einmal interessant zu erfahren, wieviele der heutigen «Weltoffenen» vor 25 Jahren (wären sie denn damals schon alt genug dazu gewesen und hätte es die Socialmedia schon gegegeben) öffentlich ihre Unterstützung gegen Diskriminierung Homosexueller gezeigt hätten. Vermutlich nicht ganz so viele wie heute, da es ihren «Coolheitsfaktor» damals nicht unbedingt erhöht hätte.

Und da stehen wir heute mit «Behinderung». Ist nicht ganz so cool. Menschen mit Behinderungen dürfen zwar kurz vor Weihnachten ihre behinderten Körper in Form von Schaufensterpuppen mal kurz in der Öffentlichkeit präsentieren, trifft man dann aber real in der Wandelhalle des Bundeshauses oder gar im Parlament auf sie, findet man das nicht mehr ganz so herzerweichend eine Zumutung. Und das, das darf man nach wie vor öffentlich unwidersprochen äussern. Als Nationalrätin wie auch als NZZ.

Herrn Bortoluzzi wurde übrigens öffentlichkeitswirksam von Vertretern aller(!) Parteien augenzwinkernd ein Putzlappen überreicht (den er drehen und wenden kann wie er will). Dazu gab’s einen Auszug aus der Bundesverfassung, wonach niemand aufgrund seiner Lebensform diskriminiert werden darf.

Wenn Frau Humbel vor der nächsten Behandlung von Behindertenbelangen im Parlament von Vertretern aller Parteien ein Fläschchen Paspertin (und als charmante Zugabe vielleicht eine mit einem sinnigen Spruch bedruckte Spucktüte?)* überreicht bekäme, mit gleichzeitiger Lesung von Artikel 8, Absatz 2 der Bundesverfassung:

«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung»

wären wir mit der Alltäglichkeit von Behinderung (und dem Nichtakzeptieren von diesbezüglicher Diskriminierung) einen Schritt weiter. Bis dahin ist es aber offenbar noch ein weiter Weg.

*Diese Idee hatte ich im Übrigen schon vor der der Bortoluzzi-Putzlappenaktion, aber ich hoffte (da so naheliegend) da käme man bei der einen oder anderen Behindertenorganisation von selbst drauf und würde vielleicht…

Nun ja… Mal wieder die spontane Reaktionsfähigkeit von Behindertenorganisationen überschätzt. Man trinkt ja erst Tee. Meditiert. Oder … schläft gründlich aus.

Behindertenorganisationen sollten für Behinderte da sein. Nicht umgekehrt.

Es war gerade mal eine gute Woche her, seit ich geschrieben hatte: «Zu beratende Behinderte ist der Traum jeder Behindertenorganisation. Je mehr und je verzweifelter um so besser» als Pro Infirmis kürzlich (am 5. Mai 2014) unter dem Titel «Ausbau der Leistungen für Behinderte – stabile Finanzen» folgendes veröffentlichte:

Das Geschäftsjahr 2013 der grössten Fachorganisation der Schweiz für Menschen mit Behinderung schliesst erneut mit einem erfreulichen Ergebnis: Die Leistungen im Kerngeschäft der Organisation stiegen um 6 %.(…)

Mit professioneller Unterstützung und Beratung in allen Lebenslagen, insbesondere in belastenden Situationen und Krisen, hilft Pro Infirmis den Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen in der Schweiz. Die Non-Profit-Organisation unterstützt sie darin, ihre Selbständigkeit und ihre Rechte zu wahren und erschliesst bei finanziellen Engpässen Unterstützungsmöglichkeiten. Diese Dienstleistung (Sozialberatung) wurde  im vergangenen Jahr von über 154‘000 Personen in Anspruch genommen, was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 6 % entspricht.

Um die steigende Zahl von «Behinderten in Krisen» als «erfreuliches Ergebnis» zu bezeichnen, braucht man schon einen etwas speziellen Humor…  Oder man ist eben eine Behindertenorganisation, wo glückliche, selbständige, sorgenfreie Behinderte schlecht für’s Geschäftsergebnis sind. Darin liegt vermutlich auch der Grund, weshalb ich mir seit Jahren schwertue mit den Kampagnen der Pro Infirmis. Ich sehe wohl die Ambitionen («Wir lassen uns nicht behindern» bzw. der neuere Slogan «Kommen Sie näher»), ich spüre wohl die gute Absicht, aber noch viel deutlicher eben auch die unterschwellige Absicht:

«Bei allem Anspruch ein neues Bild von Menschen mit Behinderung in den Köpfen der Gesellschaft zu verankern, ist Pro Infirmis auch auf finanzielle und freiwillige Ressourcen angewiesen. Würden Menschen mit Behinderung als zu selbständig und nicht hilfsbedürftig dargestellt, wäre die Unterstützung der Organisation für den Betrachter wohl hinfällig. Um auch das Bild des hilfsbedürftigen Menschen unterschwellig aufrecht zu erhalten, sind Bilder von Kindern mit Behinderung besonders wirksam, da Kinder ohnehin hilfsbedürftig sind und stärker Emotionen auslösen als Erwachsene.»

(Quelle: «Sozio-Mediale Konstruktion von Behinderung in den Werbekampagnen der Pro Infirmis» Oberseminararbeit von Janine Werner, Universität Konstanz) von der PI selbst auf ihrer Seite verlinkt)

Die Aussage bezüglich der Abbildung von Kindern mit Behinderung bezieht sich auf folgende frühere Kampagnen der Pro Infirmis, die bei mir (aber Empfindungen sind ja verschieden) vor allem einen Impuls auslöst: Freakshow!

2002/2003:Bild 9

2004/2005:

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2006:

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Mittlerweile – immerhin – in den neueren Film-Kampagnen keine bedauernswerten Kinder mehr. Aber auch bei der letzten im Dezember 2013 veröffentlichten Kampagne

wieder das Gefühl von: «Freakshow!». Nicht mehr mit dem klinisch weiss-kaltem Hintergrund und den geradezu unerbittlich ausgeleuchteten Fotografien früherer Jahre zwar, sondern näher an den Menschen, weicher und mit schön flauschiger Musik unterlegt. Aber immer noch steht das «Abnormale» das «Andersartige» im Zentrum, wird fokussiert, auf den Zentimeter genau bemessen, benannt und in Schaufensterpuppen modelliert.

PI schreibt dazu: «Die Aktion von Pro Infirmis zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung steht unter dem Motto «Wer ist schon perfekt? Kommen Sie näher.» und regt zum Nachdenken über die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung an.»

Wie man genau bemessen kann, wieviele Leute aufgrund der PI-Kampagne über Behinderung nachdachten  – und ob da auch was Gescheites dabei rauskommt – weiss ich zwar nicht (Per Hirnscanner vielleicht?), aber die Jury vom Werberpreis Effie kürte die PI-Kampagne kürzlich mit dem Effie in Gold zu einer der «effektivsten und effizientesten» Kampagnen der Schweiz. Wie das bei Werberpreisen so ist; die Branche feiert sich vor allem selbst und die ausführende Agentur (Jung von Matt/Limmat) kann bei zukünftigen Kunden anführen, dass sie in der Lage ist, auch im schwierigen herausfordernden Behindertenbereich total effektive Kampagnen zu machen.

In der Tat wurde das deutschsprachige Video auf Youtube über 127’000 mal und die englische Version gar 14.5 Mio mal angeklickt. Ohne Zweifel ist das für die Pro Infirmis ein grosser Erfolg. Aber ist ein Erfolg für die Pro Infirmis auch einer für Menschen mit Behinderung? Wird durch die Kampagne nicht einfach ein weiteres Kapitel in der der langjährigen Storytelling-Tradition der Behindertenorganisationen geschrieben? Nämlich; dank uns (und dank den grosszügigen Spenden) dürfen «die Behinderten» auch mal so tun, als ob sie dazugehören würden. Eng begrenzt auf einen Tag, eine Aktion, einen Film natürlich. Und kurz vor Weihnachten, da ist man schliesslich besonders grosszügig.

Die Präsenz von Menschen mit Behinderungen sollte aber weder von «Grosszügigkeit» abhängen, noch begrenzt auf einen Tag kurz vor Weihnachten, sondern einfach «normal» sein.

Alex Oberholzer, einer der Akteure im PI-Video sagt im Procap Magazin 4/13 (Thema «Behinderung in den Medien») im Interview folgendes:

«In der Schweiz kenne ich keine Person mit einer Behinderung, welche am Bildschirm präsent ist. Es gibt auch beim Radio, bei den Zeitungen und Zeitschriften nur sehr wenige. Inklusion heisst für mich aber, dass es auch möglich sein müsste, einen Sportmoderator oder eine Tagesschausprecherin mit Behinderung anzutreffen.

Es ist übrigens interessant: Wenn ich als Filmkritiker ab und zu am Fernsehen zu sehen bin, schauen die Regisseure darauf, dass der Rollstuhl bzw. meine Stöcke im Bild nicht zu sehen sind. Es ist nicht mein Entscheid und ich kann auch nicht darauf beharren, dass meine Mobilitätsbehinderung gezeigt wird. Leute, die mich aus dem Fernsehen kennen, reagieren oft perplex, wenn sie mich dann in der Realität im Rollstuhl sehen. Sie denken dann, ich hätte kürzlich einen Unfall gehabt.»

Menschen mit Behinderungen gehören nicht einmal im Jahr «zum Angucken» in ein Schaufenster oder in ein Proinfimis-Video, sie gehören selbstverständlich  – und sichtbar – überall dorthin, wo Nichtbehinderte auch sind, in Fernseh- und Radiostudios, und an alle anderen Arbeits- und Freitzeitorte auch. Nicht zuletzt um im Sinne von Diversity ihre Sichtweise einzubringen und nicht nur «Objekte» zu sein, über die bspw. in den Medien berichtet wird, sondern selbst handelnde und mitbestimmende Personen – die dadurch wiederum als positive Role Models von anderen Betroffenen wahrgenommen werden können.

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein der Betroffenen die wichtigsten Kernelemente sind, die es zu fördern gilt. So, dass es beispielsweise eines Tages schlichtweg keine Frage mehr sein wird, ob sich ein Transportunternehmen grosszügigerweise dazu bequemen möchte, sein Angebot barrierefrei zu gestalten oder nicht. Oder ob eine Firma grosszügigerweise behinderten Mitarbeitern «eine Chance gibt». «Gönnerhafte Grosszügigkeit» gegenüber Behinderten wird hoffentlich irgendwann ähnlich gestrig wirken, wie heute ein Foto aus den 50iger Jahren des ausschliesslich aus Männern bestehenden Parlamentes.

Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob die Behindertenorganisationen wie die Pro Infirmis das auch so sehen. Würden sie das, würde ihr Slogan lauten: «Wir arbeiten daran, uns eines Tages überflüssig zu machen!» DAS wäre mal mutig und zukunftsorientiert. Naja gut, für den Anfang wäre auch «Wir arbeiten an besseren gesellschaftlichen Bedingungen für Menschen mit Behinderungen, damit unser Beratungsvolumen nicht mehr steigt sondern sinkt» schon ganz gut. Pro Infirmis soll nämlich bitte mal aufhören, behinderte Menschen dazu zu benutzen, für sich (also die PI) Werbung zu machen, sondern stattdessen in ihrer Werbung mal zeigen, was sie als Organisation konkret für bessere Lebensbedingungen für Behinderte tut oder zu tun gedenkt. Ich weiss, dass sich die PI selbstverständlich für Barrierefreiheit ect. einsetzt, aber man sollte auch den Mut haben, damit zu werben, statt mit den irgendwie eben doch betont «andersartigen» Betroffenen. Damit sich am Bild – und vor allem der Situation – «der armen» Behinderten wirklich was ändert.

Einfach nochmal zur Erinnerung: Behindertenorganisationen sollten für Behinderte da sein. Nicht umgekehrt.

Btw: Ich mag den Slogan der Deutschen «Aktion Mensch» zu deren 50-jährigen Jubiläum: «Schon viel erreicht, noch viel mehr vor» und das zugehörige Bild aus der Kampagne:

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Presseschau zum OECD Länderbericht Schweiz zur psychischen Gesundheit & Arbeit

Ich wollte mit dem Schreiben dieses Artikels eigentlich warten, bis sich die Pro Mente Sana zum OECD-Bericht Länderbericht Schweiz zur psychischen Gesundheit und Arbeit geäussert hat. Pro Mente Sana – Sie wissen schon, die Organisation, die sich laut ihrem Leitbild als «Sprachrohr für die Anliegen und Bedürfnisse psychisch erkrankter und behinderter Menschen» sieht. Ein Sprachrohr, das einen Bericht auf dem Silbertablett serviert bekommt und sich vier Wochen später immer noch in ausgiebiges Schweigen hüllt, hat dann aber vielleicht doch nicht ganz verstanden, was es mit der Funktion eines Sprachrohrs genau auf sich hat.

Der Arbeitgeberverband hingegen machte es lehrbuchmässig vor. Bereits kurz nach der Medienkonferenz zum OECD-Bericht nutzte er ebendiesen als Schützenhilfe in eigener Sache und publizierte auf seiner Website folgendes: «Der Schweizerische Arbeitgeberverband will die mehrheitsfähigen Massnahmen der gescheiterten IV-Revision 6b schnellstmöglich umsetzen. Sukkurs erhält er nun auch von der OECD. Laut der Organisation sah 6b wichtige Massnahmen für den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit und die Integration psychisch handicapierter Menschen vor. Viele Arbeitgeber engagieren sich diesbezüglich bereits – alleine können sie die zunehmenden Herausforderungen aber nicht meistern. Die erforderlichen Massnahmen müssen daher rasch umgesetzt werden(…)»

Diese Stellungsnahme des Arbeitgeberverbandes floss dann auch in die offizielle SDA-Meldung zur OECD-Studie ein.

So macht man das, liebe Pro Mente Sana. Wer die entsprechende Diskussion in den Medien mitprägen will, sollte sich vielleicht einigermassen zeitnah äussern, sonst findet die Diskussion nämlich ohne einem statt. Und wohin das dann führt, sahen wir mal wieder exemplarisch. Doch der Reihe nach. Die ersten Berichte zur OECD-Studie hangelten sich grösstenteils der SDA-Meldung entlang, so dass sogar der Artikel im Blick für einmal nicht reisserisch, sondern wohltuend neutral wirkte. Auch der Artikel «Die Schweiz tut zu wenig» des NZZ-Journalisten Michael Schönenberger liest sich wie ein Stenogramm der Medienkonferenz. Nüchtern, aber auch erstaunlich ausgewogen, sogar der aus der Schönenbergerschen Feder oft zu vernehmende «Falsche Anreize!»-Unterton war für einmal eher dezent: «Prinz betonte – auch mit Blick auf Jugendliche in der IV –, die IV-Renten inklusive Ergänzungsleistungen seien zu hoch. Sie hemmten die Arbeitsaufnahme».

Nichtsdestotrotz war das natürlich exakt das Stichwort, auf das sich die Medien – mit einiger Verspätung – schliesslich stürzten. Da kann der Mitautor der Studie, Niklas Baer, im Interview mit der Basler Zeitung die ganze Situation und die Rollen der unterschiedlichen Akteure durchaus differenziert darlegen, der Titel lautet dann doch: «Einmal IV-Rente, immer IV-Rente» oder beim Tagesanzeiger «Junge beziehen immer häufiger eine IV-Rente». Und 20Minuten macht dann folgendes daraus:

20minbotellonUnd mit dem Foto eines Botellóns als Bebilderung wären wir dann wieder da, wo wir schon immer waren: Faule IV-Bezüger, die lieber Partys feiern, statt zu arbeiten. Und alle anderen Akteure wie IV-Stellen, Ausbildungsstätten, Arbeitgeber, Sozialhilfe und RAV, bei denen der OECD-Bericht auch einen gewissen Handlungsbedarf sieht, sind mal wieder fein raus. Mehr noch: Deren Vertreter nutzen die Gelegenheit geschickt für Werbung in eigener Sache, siehe der Arbeitgeberverband weiter oben oder auch Markus Krämer, Geschäftsleiter des Appisberg (welcher geschützte Ausbildungsplätze für Jugendliche mit psychischen Problemen anbietet) im Tagesanzeiger (linke Spalte): «Sie [die IV] hat in den letzten Jahren aufgrund des Spardrucks alle Karten auf den ersten Arbeitsmarkt gesetzt, in dem junge Menschen mit psychischen Problemen oder Lerneinschränkungen überfordert sind und scheitern.»

Die Frage, warum die Ausbildungen im sogenannt geschützten Rahmen betroffene Jugendliche nur so selten befähigen, sich genügend – auch persönliche – Kompetenzen anzueignen, um im freien Arbeitsmarkt – womöglich auch mit einer Teilrente – tätig sein zu können, wird dabei nicht gestellt.

20Minuten beispielsweise richtet lieber suggestive Fragen à la «Hast du gegenüber der Gesellschaft ein schlechtes Gewissen, dass du IV beziehst?» an die junge IV-Bezügerin «Anita Stadler».

Verdankenswerterweise hat Markus Brotschi vom Tagesanzeiger mit dem tiefergehenden Portrait  «Es hiess: Nicht eingliederungsfähig» des an ADHS leidenden Marcel H. den Betroffenen auch noch auf nicht boulevardeske Weise Gehör verschafft.

Immerhin… Betroffene kamen zu Wort. Allerdings verfügen sie natürlich nicht über eine «Kommunikationsabteilung» die ihre Anliegen wie diejenigen der anderen Akteure «ins beste Licht rückt». Bände spricht zudem auch, dass sowohl beim Interview mit der IV-Bezügerin «Anita Stadler» im 20Minuten, sowie bei jenem mit «Marcel H.» im Tagesanzeiger die Namen wie auch die Fotos zum Schutze der Betroffenen anonymisiert wurden. (Dieses sehr deutliche Zeichen der Stigmatisierung habe ich anhand eines früheren Berichtes des Schweizer Fernsehens über die Arbeitsintegration von psychisch Kranken schon mal thematisiert).

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Eigentlich wäre es die Aufgabe des «Sprachrohrs der psychisch Erkrankten» die Geschichten der einzelnen Betroffenen in einen grösseren Gesamtzusammenhang einzuordnen, dazu auch Studienergebnisse anzufügen, wie beispielsweise jenes der Arbeitgeberbefragung der Universität St. Gallen, die aufzeigt, dass kaum mehr als 3% der Arbeitgeber bereit wären, Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung in ihrem Betrieb auszubilden. And so on… wie gesagt…  das Sprachrohr sollte das eigentlich machen…

Wenn eben dieses Sprachrohr aka Pro Mente Sana sich nicht gerade in ausgiebigem Winterschlaf Schweigen üben würde.

Würde sich die PMS da mal ein bisschen engagieren, kämen wir vielleicht eins Tages noch dahin, dass Artikel zum Thema Arbeit und psychische Erkrankung in den Medien nicht mehr von verschämten anonymsierten Fotos begleitet werden müssten, sondern die Thematik mit einem wesentlich grösserem Selbstbewusstsein vermittelt werden könnte, wie es beispielsweise die britische Kampagne TimetoChange aktuell vormacht:

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Kann vielleicht mal jemand einen grossen Wecker an der Hardturmstrasse vorbeibringen?

Mens aegra in corpore sano

Von klein auf lernen wir, uns die Zähne zu putzen (und brav regelmässig zur zahnärztlichen Kontrolle zu gehen), was gesunde Ernährung ist (Wenig Zucker! Viel Gemüse!), dass wir uns sportlich betätigen sollen, nicht rauchen, einen Velohelm tragen und Sicherheitsgurten im Auto sowieso. Die Liste liesse sich noch endlos fortsetzen, zusammengefasst lautet das gesellschaftlich tief verankerte Mantra: Körperliche Unversehrtheit ist ein hohes Gut, das bis ins hohe Alter gepflegt und erhalten werden soll.

Angesichts der Tatsache, dass ungefähr 50% der Arbeitsabsenzen und (allen Verschärfungsmassnahmen in diesem Bereich zum trotz) im Jahr 2012 bereits 43% aller IV-Neurenten auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind, scheint die Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit der physischen bedenklich hinterherzuhinken. Oder eher mehr: Kaum vorhanden zu sein. Unsere Gesellschaft ist zwar körperlich «gesund» wie nie zuvor, aber psychisch offenbar etwas ziemlich angeschlagen. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz zum grossen Teil nach wie vor etwa so aussieht:

Die drei Affen 01

Natürlich gibt es viele ökologische Nischenreservate in denen sich fleissig um Aufklärung, Antistigmatisierung und Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit gekümmert wird. In den letzten Jahren entstanden beispielsweise in diversen Kantonen Depressionsbündnisse. Oder auch das schweizweite Netzwerk psychische Gesundheit. Netzwerk… wie gleich nochmal….? Nie gehört. Und was die Pro Mente Sana konkret so macht? «Ähem…»

«Ähem…» trifft wahrscheinlich in etwa die Antwort des Durchschnittsschweizers, der Durchschnittsschweizerin, wohingegen beispielsweise mit dem Stichwort «Aidshilfe» mit Sicherheit diverse Plakatkampagnen und Slogans in Verbindung gebracht werden dürften. Gut erinnerbare Slogans sind natürlich nicht der einzige Gradmesser einer erfolgreichen Tätigkeit einer Organisation. Ein in vielen Köpfen verankertes «Ohne Dings kein Bums» dürfte allerdings durchaus eine gewisse (Aids)präventive Wirkung haben.

Nun kann man natürlich einwenden: Aber bei den psychischen Erkrankungen ist das alles vielvielviel komplizierter und da kann man nicht so offensive Kampagnen und überhaupt… Genau darüber (wie und warum und wie ganz sicher nicht) zerbricht sich seit Jahren eine Expertengruppe den Kopf (Entsprechendes Arbeitspapier Entstigmatisierung als PDF) Und wenn sie nicht gestorben sind, dann denken sie in 100 Jahren noch darüber nach. Man hört munkeln, mit einer schweizweiten Kampagne unter Federführung der Pro Mente Sana soll es bald soweit sein. Man darf hoffen, dass die Kampagne besser wird, als die ziemlich tristen Plakate der Pro Mente Sana zum Tag der psychischen Gesundheit 2010.

Und wo wir grad bei trist sind: Es wäre sehr zu wünschen, wenn die Website der Pro Mente Sana (allerspätestens) im Rahmen dieser Kampagne auch gleich rundumerneuert wird und nicht mehr aussieht wie: «Wir mussten halt eine Website haben, weil man das jetzt halt so macht in diesem Internet». Und auch wenn man als Organisation «die Interessen von Menschen mit psychischen Erkrankungen vertritt» sollte der eigene Internetauftritt nicht bei jedem Besucher gleich eine mittelschwere reaktive Depression und den dringenden Wunsch die Seite so schnell wie möglich wieder verlassen, auslösen.

(Bei einer Neugestaltung vielleicht ein bisschen von der gestalterischen Leichtigkeit vom Webauftritt von Insieme inspirieren lassen? Einfach nicht den Webdesigner von den Kollegen vom Netzwerk psychische Gesundheit engagieren. Wer einer Schweizer Organisation im Sozialbereich einen amerikanischen Look mit glossy Buttons verpasst, hält es offenbar nicht für nötig, sich mit den kulturellen Codes der Zielgruppe auseinanderzusetzen. Sensibles und passgenaues Ausrichten auf die Bedürfnisse eines Auftraggebers sieht anders aus.)

Der abweisende Charakter der Webseite der Pro Mente Sana ist allerdings nicht nur designmässig sondern auch inhaltlichzu spüren. Web 2.0, Twitter, Facebook oder Communityaufbau scheinen grosse Unbekannte aus fernen Galaxien zu sein. Nicht mal die Newssektion wird wirklich ernsthaft gepflegt. Dort wäre beispielsweise eine Erwähnung der im Juni erschienenen Obsan-Studie zu Depressionen (inkl. kurze Zusammenfassung und Link zur Studie) eine nette Dienstleitung für den interessierten Leser.

Oder auch jeweils zwei oder drei Artikel aus dem wirklich immer gut und sorgfältig zusammengstellten Print-Magazin PMS aktuell als Leseprobe. Online. So dass man sie in einem Blog verlinken oder auf Twitter empfehlen kann, und sie so auch mal einem interessierten Publikum zugänglich machen kann, das nicht mal eben eine Zeitschrift mit Schwerpunkt psychische Erkrankungen abonnieren würde. Das wäre auch auch eine Form von Barrierefreiheit.

Aber unter Barrierefreiheit versteht man bei der PMS ja eher mehr folgendes: «Die Power-Point-Präsentationen der übrigen Referate können wegen der Barrierefreiheit unserer Homepage nicht auf die Website geladen werden. Sie können aber bei uns bestellt werden: kontakt@promentesana.ch oder Telefon 044 563 86 00» – Weil sie nicht barrierefrei sind, bauen wir einfach gerechterweise Barrieren für jeden ein, der die Dokumente haben will. (…?)

Überholtes Design, fehlende Usability, Texte aus dem eignen Magazin nur Printabonnenten zugänglich machen, keine Vernetzung mit Social Media… Und Einladungen an die Presse für die Jahrestagung (heuer mit dem wichtigen Thema «Kinder psychisch kranker Eltern» gibt’s wahrscheinlich auch nicht. Und entsprechende auf der Website verfügbare Medienmitteilungen im Nachhinein… ach wo denken wir hin…

Es ist mir ehrlich gesagt komplett unverständlich, warum der Online-Auftritt (und somit ein entscheidendes Mittel der Öffentlichkeitsarbeit) einer Organisation, die sich um DAS gesundheitspolitisch relevante Thema* unserer Zeit kümmert kümmern soll, daherkommt, wie derjenige eines Häkelvereins aus dem Hinterwallis. Und die Informationen offenbar nur einem streng kontrollierten exklusiven Publikum (Magazinabonnenten, Fachleute) in der Art einer Geheimgesellschaft zugänglich gemacht werden.

*50% der Bevölkerung erkranken in ihrem Leben einmal psychisch. Psychische Erkankungen stellen wie oben gesagt, fast 50% der Neurenten und Absenzen, nicht zu vergessen, der bei psychischen Krankheiten stark verbreitete Präsentismus ect. ect. ect.  Das alles verursacht neben dem persönlichen Leid der Betroffenen nicht zuletzt auch enorme volkswirtschaftliche Kosten.

Wenn der Umgang mit psychischen Erkrankungen sowie deren Prävention so selbstverständlich werden soll, wie das tägliche Zähneputzen, müssen Informationen dazu für jedermann leicht und niederschwellig zugänglich sein. Das ist im Moment auf der Webseite von Pro Mente Sana überhaupt nicht der Fall (Von komplett fehlenden Inhalten wie beispielsweise «Wie gehe ich mit der psychischen Krankheit eines Angehörgen um?»  oder «Wie erkläre ich als psychisch kranke Mutter meinem Kind kindgrecht die Krankheit?» ect. ganz zu schweigen.)

Der Lug mit dem Betrug

Vor einigen Tagen erschien im Landanzeiger nebenstehendes Inserat. Zeitungsinserat mit dem Text: Ich bin körperlich nicht ganz auf der Höhe, möchte mich zur Ruhe setzen, bina aber ncht nicht 65. Deshlab suche ich einen verständnisvollen ARZT, der mir zur IV verhilft. Ein gutes Trinkgeld ist dir gewiss. Angebote unter CHiffre Z001/1047 an den VerlagAargauer Zeitung und 20 Minuten berichteten darüber, und die Kommentarschreiber durften mal wieder fröhlich Gift und Galle spucken. Zwar vermutete der eine oder andere, dass das Inserat möglicherweise ein «Scherz» sei, (was der Landbote dann heute auch bestätigte) aber diejenigen, die mit einem Brustton der Überzeugung von einer «immensen» Betrugsquote schreiben, die sterben nie aus. Das hat man «dem Volk» jahrelang intravenös verabreicht, das kriegt man nun nie wieder raus.

Nicht, dass man das aus den Köpfen der Menschen überhaupt rauskriegen wollte. Kürzlich berichtete 20 Minuten über einen durch Observationen überführten IV-Betrüger und zitierte im betreffenden Artikel den Luzerner IV-Direktor Donald Locher folgendermassen: «(…)Zudem konnten wir rund 140 Betrüger selbst überführen», so Locher. Die hohe Zahl täusche jedoch: «Im Vergleich zu Grossstädten gibt es in der Zentralschweiz wenig Betrugsfälle.»

140 Betrüger alleine aus Luzern und das sei noch wenig…? Auch da geiferten die Kommentarschreiber was da Zeug hielt: Betrug en Masse! Wenn 20 Minuten sowas aufdeckt, MUSS das ja stimmen und die vom BSV veröffentlichten Zahlen von 240 Betrügern pro Jahr und aus der gesamten Schweiz, die sind natürlich falsch.

Weil ich das mit den 140 Luzerner IV-Betrügern nochmal genauer wissen wollte, frage ich beim Luzerner IV-Direktor Donald Locher nach – er antwortete folgendermassen: «(…)Die Zeitung 20Minuten hat mir am Sonntagnachmittag – während ich beim Wandern war – auf mein Handy telefoniert und ich habe von rund 140 bearbeiteten und erledigten Fällen im 2010 gesprochen. Da ich die Statistik lediglich aus dem Kopf zitiert habe, kann ich diese Zahl noch leicht nach oben korrigieren. Es sind nämlich genau 155 erledigte Fälle von Total 176 eingegangene Meldungen durch Mails, Telefonanrufe, anonyme Briefe etc. Diese Zahl ist nicht gleich zu setzen mit bestätigten Betrugsfällen.»

Auf die Rückfrage, wieviele Betrugsfälle es in Luzern dann tatsächlich gab, erhielt ich leider keine Antwort mehr. Sie dürften sich aber wohl im einstelligen Bereich bewegen. Erschreckend sind da doch vielmehr die laut Locher «Total 176 eingegangenen Meldungen durch Mails, Telefonanrufe, anonyme Briefe etc.». Jeder Bürger ein Möchtegern IV-Detektiv. Wie konnte es dazu kommen?

Es wäre zu viel der Ehre für die SVP, ihr die ganze Verantwortung dafür nun in die Schuhe zu schieben. Da wirken noch ganz andere Kräfte.

Um mal ein Beispiel herauszupicken: 2006 verfassten die zwei Juristen Reto Bachmann und Markus D’Angelo im Rahmen eines Nachdiplomstudiums für Sozialversicherungsmanagement eine Diplomarbeit mit dem Titel: «Die Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs (BVM) in der Invalidenversicherung unter besonderer Berücksichtigung der Beweissicherung vor Ort». In den Medien wurde als Quintessenz dieser Arbeit hauptsächlich die geschätzte Zahl von jährlich rund 400 Mio. Franken, die auf «Missbrauch» entfallen würden zitiert. In der Schweizerischen Ärztezeitung 22/2007 legte der Medas-Arzt(!) Jürg Jeger ausführlich dar, dass diese Schätzung absolut nicht wissenschaftlich korrekt erhoben worden und zudem viel zu hoch sei. Auch Saldo griff das Thema Anfang 2008 auf:«IV: Politisieren mit unbrauchbaren Zahlen».

Das änderte dann aber auch nichts mehr daran, dass 20 Minuten ein dreiviertel Jahr zuvor ganz selbstverständlich geschrieben hatte: «IV-Betrug: 400 Millionen verschwinden jährlich – Jetzt steht es Schwarz auf Weiss: Bei der Invalidenversicherung werden Jahr für Jahr über 400 Millionen Franken ergaunert und erschwindelt.» Und der damalige IV-Chef Alard du Bois Reymond sagte: «Die Zahlen überraschen mich nicht. Auch unsere Schätzungen der unrechtmässig ausbezahlten IV-Gelder bewegen sich in diesem Bereich».

Vergleichen wir das mal kurz mit den Zahlen, die BR Burkhalter im Dezember 2010 anlässlich der Anfrage von NR Schelbert bekannt gab: 180 ganze Renten (240 Betrüger) x 1600.- (durchschittliche IV-Rente/Monat) = 288’000. Das ganze multipliziert mit 12 Monaten = 3’456’000.-/Jahr – Also 3,5 Millionen pro Jahr statt 400 Millionen. Ein Detail nur. Ein Detail auch nur, dass die Miss- brauchsbekämpfung in der Invalidenversicherung 7 Millionen Franken pro Jahr kostet… (Muss man diese 7 Mio jetzt eigentlich von den 3,5 Mio abziehen oder dazuzählen…?).

Ein Detail übrigens auch, dass die Verfasser der 400-Mio IV-Betrugsstudie zuerst bei der IV und dann bei der Suva (Reto Bachmann) beziehungsweise immer noch bei der IV als Abteilungsleiter Fallmangement (Markus D’Angelo) arbeite(te)n. Cleveres Thema gewählt, um sich beruflich erfolgreich zu profilieren. Macht ja nix, dass man damit den IV-Bezügern einfach mal so pauschal den Ruf versaut. Auch wenn die Studie ja eigentlich gar nicht so gemeint war. Es ging den Autoren, wie sie in ihrer Replik zu Jeders Kritik in der SAEZ schreiben, eigentlich vielmehr darum, «die Begriffe „Versicherung-missbrauch“ und „ungerechtfertigter Leistungsbezug“ auseinanderzudividieren». Und: «(…)auch verschiedene Fragen zum Thema in medizinischer Hinsicht zu klären. So werden beispielsweise die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und die Diagnosenstellungen AD (Anxiety Disorder), BO (Burnout und Boreout), CFS (Chronic Fatigue Syndrome), LSE (Low Self-Esteem), MPD (Multiple Personality Disorder), PTSD (Post-Traumatic Stress Disorder), RSI (Repetitive Strain Injury), SDS (Stress Depression Syndrome), SP (Soziale Phobie) von Medizinern sehr unterschiedlich vorgenommen, was schliesslich zu missbräuchlichen Leistungsausrichtungen führen kann.»

Und jetzt wissen wir auch endlich, wer die ersthaften Krankheitsbilder kunterbunt vermischt mit einigen Befindlichkeitsstörungen dem BSV pauschal als «zweifelhaft» untergejubelt hat. Zwei Juristen. Alles klar. Einst drehte sich die Diskussion um den angeblich immensen Betrug bei der Invalidenversicherung. Und weil der sich als nicht ganz so immens herausstellte, dreht man den Spiess einfach um und macht IV-Bezüger, denen die Rente einst absolut rechtmässig zugesprochen wurde zu Betrügern, in dem man den Krankheitsbegriff einfach mal neu defniert. Auch eine Möglichkeit.