«Die Debatte über Missbrauch ist älter als die Sozialversicherungen selbst.»

Philipp Sarasin hat mir für «Geschichte der Gegenwart» ein paar Fragen gestellt. Im Gespräch geht es um das neue Observationsgesetz, wie mit der Empörung über Missbrauch Politik gemacht wird und um die weit zurückreichende Vorgeschichte. Ein Auszug:

Die Debatte über Miss­brauch ist effektiv älter als die Inva­li­den­ver­si­che­rung selbst. Bereits vor der Einfüh­rung der IV 1960 wurde befürchtet, dass eine Versi­che­rung gegen Inva­li­dität falsche Anreize setze, weil Menschen mit einer Behin­de­rung sich nicht mehr genü­gend bemühen würden, sich ins Arbeits­leben einzu­glie­dern. Solche Über­le­gungen waren mit ein Grund, warum die Vorlage für die Inva­li­den­ver­si­che­rung erst mehr als ein Jahr­zehnt nach der AHV umge­setzt wurde. Diskus­sionen um miss­bräuch­li­chen Leis­tungs­bezug wurden seither immer wieder geführt. Einmal stand die Verwal­tung im Fokus, ein andermal die Ärzte und oft natür­lich die Betrof­fenen selbst. Bereits in den 70er Jahren wurde verun­fallten Auslän­dern unter­stellt, sie würden nach Zuspre­chung einer Suva- oder IV-Rente lieber in ihre Heimat zurück­kehren, statt im fremden Land eine ange­passte Tätig­keit aufzu­nehmen.*

Die SVP fasste schliess­lich ab 2003 die voran­ge­gan­genen Debatten zusammen und atta­ckierte (fast) alle invol­vierten Akteure mit bisher unbe­kannter Schärfe. Der Schwer­punkt lag zudem auf so genannt «unklaren» Erkran­kungen, da die Zahl der Renten aus psychi­schen Gründen in den 90er Jahren markant zuge­nommen hatte. Die Trenn­linie zwischen unsicht­baren Erkran­kungen und miss­bräuch­li­chem Leis­tungs­bezug wurde in der Debatte bewusst flie­send gehalten. Dahinter steckte das Kalkül, bestimmte Krank­heits­gruppen von Versi­che­rungs­leis­tungen ausschliessen zu können.

Das ganze Interview: «Die Debatte über Missbrauch ist älter als die Sozialversicherungen selbst.»

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*Dazu weiterführend: Alan Canoncia: Missbrauch und Reform: Dimensionen und Funktionen der Missbrauchsdebatten in der schweizerischen Invalidenversicherung aus historischer Perspektive. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit, Heft 12 (2013), S. 24-37.

Keine IV-Rente vor 25, 30, 40, 45… Natürlich «nur» bei psychischen Krankheiten. Macht das Sinn?

Im Rahmen der Vernehmlassung zur Weiterentwicklung der IV forderte eine bemerkenswerte Anzahl von Vernehmlassungsteilnehmern (u.a. FDP, CVP, BDP, diverse Wirtschaftsverbände, IV-Stellen-Konferenz sowie 15 Kantone), dass für junge Erwachsene unter 25 bzw. 30 Jahren keine (bzw. nur zeitlich beschränkte) IV-Renten gesprochen werden sollten. Der Schweizerische Gewerbeverband schrieb beispielsweise:

Der sgv fordert daher mit Nachdruck, dass das IV-Rentensystem so angepasst wird, dass keine Renten mehr an Personen unter 30 Jahren gesprochen werden. Ein deutlich höheres Mindestalter für den Bezug einer Rente zwingt alle Beteiligten, sich noch intensiver um eine Wiedereingliederung zu bemühen. Die Erfahrung lehrt uns leider, dass es gerade bei den Jugendlichen viele Versicherte gibt, die diesen zusätzlichen Druck benötigen, damit sie nicht zu bequem werden und sich nicht zu früh mit dem Dasein als IV-Rentner zufrieden geben.

Vermutlich meint der Gewerbeverband damit all die unmotivierten geistig Behinderten (40% der als «psychisch» codierten NeurentnerInnen zwischen 18 und 21 Jahren haben effektiv eine geistige Behinderung). Oder die bequemen Jugendlichen mit einer Cerebralparese, die einen Rollstuhl benutzten, weil sie sogar zu faul zu laufen sind (14.5% aller 18/19-jährigen NeurentnerInnen leiden an cerebralen Lähmungen).

Die FDP äusserte sich ein bisschen differenzierter:

Wir fordern, dass junge Erwachsene nur noch in Ausnahmefällen (z.B. Geburtsgebrechen, etc.) IV-Renten zugesprochen erhalten. Anstelle einer Rente soll neu ein Taggeld entrichtet werden, welches Erwerbsanreize richtig setzt. Parallel dazu sollen junge Erwachsene eng von der IV betreut werden, um ihre gesundheitlichen Probleme zu stabilisieren und ihre Arbeitsmarktfähigkeit wiederherzustellen.

Der FDP ist immerhin noch eingefallen, dass das «Wiederherstellen der Arbeitsmarktfähigkeit» bei Jugendlichen mit Geburtsgebrechen (also denen mit «richtigen» Behinderungen) nicht alleine an der Bequemlichkeit der Betroffenen scheitern könnte. Gleichzeitig zeigt der Hinweis auf die «Geburtsgebrechen», dass man sich mit dem Thema nur oberflächlich befasst hat. Denn natürlich gibt es auch Versicherte mit Geburtsgebrechen, die (zumindest Teilzeit) arbeiten können. Die Erwerbs(un)fähigkeit hängt – und so definiert es auch das ATSG – nicht von der Diagnose ab, sondern von der Schwere der Krankheit/Behinderung und den dadurch – im individuellen Fall – verursachten Einschränkungen. Das gilt auch für psychische Störungen, von denen – Achtung FDP, jetzt wird’s etwas kompliziert – manche bei der IV ebenfalls als Geburtsgebrechen gelten (z.B. Autismus, ADHS). Nichtsdestotrotz bezieht sich die Forderung «Keine Rente vor 25/30» vor allem auf junge Erwachsene mit psychischen Störungen.

Dass sich so viele Kantone für eine höheres IV-Mindestalter aussprechen, dürfte u.a. auch einen ganz profanen Grund haben: Junge IV-Bezüger sind auf Ergänzungsleistungen angewiesen, an deren Kosten sich die Kantone beteiligen müssen. Erhalten Betroffene hingegen bis 25/30 statt IV-Rente/EL ein Taggeld, bezahlt das die IV. Also der Bund.

Wie kommen all die Vernehmlassungsteilnehmer eigentlich auf diese Idee?

Anfang 2014 veröffentlichte die OECD den Länderbericht Schweiz zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung. Darin sprach die OECD eine ganze Reihe von Empfehlungen aus (u.a. sollten IV, Arbeitgeber und Ärzte besser zusammenarbeiten). Worauf sich aber alle Medien einschossen, war, dass mehr getan werden müsse, um zu vermeiden, dass Jugendliche mit psychischen Problemen überhaupt erst zu IV-Bezügern werden. Man hat allerdings nicht die bessere Unterstützung in den Vordergrund gestellt, sondern, nun ja:

(Screenshot vom Artikel im 20min). Siehe dazu auch: Unterschiedliche Bilder junger IV-BezügerInnen)

Auch die NZZ schrieb:

Prinz betonte – auch mit Blick auf Jugendliche in der IV –, die IV-Renten inklusive Ergänzungsleistungen seien zu hoch. Sie hemmten die Arbeitsaufnahme.

Einige Monate später griff die NZZ das Thema erneut auf und zitierte wieder Christopher Prinz (OECD-Verantwortlicher für Fragen zu Krankheit, Invalidität und Arbeit):

Besser wäre es, so weit als möglich keine Renten zu gewähren, weder befristet noch permanent, sondern jungen Menschen zu helfen, ihren Platz in der Arbeitswelt zu finden.» Man müsse den Zugang zur IV blockieren, dafür aber etwas anderes anbieten, und zwar ein «offensives Aktivierungsmodell».

Mit Bezug auf das dänische System wurde dann auch die Idee von «keine Rente vor 40» unter die Leserschaft und vor allem unter die SozialpolitikerInnen gebracht, indem man diese fragte «Was halten Sie davon?» Die NZZ kolportierte, dass die SozialpolitikerInnen «Interesse» am dänischen Modell zeigten (Lobbying in the making).

An der OECD-Studie beteilgt war auch der Basler Psychologe und Forscher Niklas Baer, der mit Hinweis auf das dänische Modell in diversen Interviews (u.a. im Tages Anzeiger oder der SRF-Sendung ECO) ebenfalls dafür plädierte, vor 30 (bzw. später 40) keine Renten zu sprechen.

Im Februar 2016 (drei Wochen vor Ende der Vernehmlassung zur Weiterentwicklung der IV) veröffentlichte das BSV die Studie: «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» von Baer et al. in der die Forscher Dossiers von NeurentnerInnen zwischen 18 und 29 Jahren mit – laut IV-Codierung – psychischen Störungen untersucht haben. Die Autoren der Studie kamen zum Schluss, dass bei ungefähr 75% der untersuchten Dossiers eine Berentung aufgrund der starken Beeinträchtigungen nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint. Dies trifft vor allem auf sehr jung Berentete mit geistiger Behinderung, gewissen kinderpsychiatrischen Störungen und multiplen schweren Störungen zu. Bei einem Viertel der Versicherten (vor allem später Berentete mit Depressionen, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen) hätte sich aus Sicht der Forschenden eine Invalidisierung mit besseren und nachhaltigeren Unterstützungsmassnahmen womöglich vermeiden lassen.

Niklas Baer – der Hauptautor der Studie – sagte im Interview mit der NZZ dennoch einmal mehr:

Unter 30 Jahren sollte niemand eine IV-Rente erhalten. Natürlich braucht es einige Ausnahmen. Eine solche Definition dürfte sicher nicht ganz einfach sein. Beim Rest zwingt das erhöhte Eintrittsalter der IV alle Beteiligten – von den Ärzten über IV-Stellen bis zu den beruflichen Einrichtungen – zu einer besseren Kooperation und vor allem zum Dranbleiben.

Hat noch jemand Fragen, wie die Vernehmlassungsteilnehmer auf die Idee mit «Keine Rente vor 30» gekommen sind?

Die NZZ reagierte dann etwas säuerlich, weil der Bundesrat in der am 15.2.2017 verabschiedeten Botschaft zur Weiterentwicklung der IV nicht darauf eingegangen war. Man hatte doch so engagiert lobbyiert – und… und… der Experte rät doch auch dazu:

Der Bundesrat will dabei aber nicht so weit gehen wie der Arbeitgeberverband, der fordert, unter 30-Jährigen keine Rente auszurichten. Baer hält den Entscheid des Bundesrates für falsch: Für Junge müsse klar sein, dass sie in keinem Fall eine Rente erhielten, denn wer erst einmal berentet sei, finde so gut wie nie mehr den Weg in einen Beruf.

Grundsätzlich keine Renten für junge Erwachsene – Nützt das was? Und wem?

2014 wurden 2600 Versicherten zwischen 18 und 29 Jahren eine IV-Rente zugesprochen. Davon haben 1600 (also gut 60%) eine psychische Problematik. Ein nicht unbeträchtlicher Teil – speziell der ganz jungen IV-Bezügerinnen – dieser «psychischen» hat allerdings effektiv eine geistige Behinderung (Grund: ungenaue Codierung der IV). Laut der BSV-Studie von Baer et al. liesse sich bei einem Viertel der 1600 eine Invalidisierung – vermutlich – vermeiden (Ob bei den körperlich und -offiziell- geistig behinderten jungen Erwachsenen auch Eingliederungspotential brach liegt, hat niemand untersucht. Unter denen gibt es natürlich selbstredend keine Null-Bock-Jugendlichen). Das wären dann also 400 «psychische» Versicherte mit Eingliederungspotential. Von insgesamt 2600. Und deshalb sollen nun grundsätzlich keine IV-Renten vor 30 mehr gesprochen werden (Kanonen und Spatzen und so?).

Insgesamt nehmen die Neurenten (alle Gebrechensarten) bei den Jungen über die letzten Jahre nicht zu:

Auch die Neurenten aufgrund psychischer Erkrankungen (alle Alterskategorien) sind stabil:

Grafiken aus: «Keine Rente vor 30? Der andere Weg des Bundesrates» (BSV)

Angesichts der immer populärer werdenden Idee «Keine Rente vor 30» hatte das BSV die IV-Systeme verschiedener Länder untersucht, die eine Altersbegrenzung eingeführt haben. Die im März 2017 veröffentlichte Studie kam zu folgendem Schluss:

Zurzeit lässt sich nicht nachweisen, dass Länder mit einem erhöhten Mindestrentenalter in der Invalidenversicherung bei der beruflichen Eingliederung erfolgreicher sind.

Auch das deutsche Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hatte 2016 einen Ländervergleich vorgenommen und zum dänischen Modell geschrieben:

Dass arbeitsmarktferne Problemgruppen mittels hochsubventionierter Arbeitsplätze wieder näher an den Arbeitsmarkt rücken, zeigen auch Erfahrungen mit sogenannten Flex­Jobs in Dänemark. Die Arbeitsmarktpartizipation von zuvor erwerbsinaktiven Teilnehmern war 33 Prozent höher als bei Nicht­teilnehmern (Datta Gupta et al. 2015). Allerdings tendiert die Übergangsrate in nicht subventionierte Beschäftigung gegen Null.
Flex­Jobs (…) sind auf Dauer angelegte und großzügig geförderte Arbeitsverhältnisse bei privaten und öffentlichen Ar­beitgebern. Mit dem Instrument sollte die hohe Zahl an Zugängen in Erwerbsminderungsrenten verrin­gert werden. Die Attraktivität des Instruments führ­te aber zu einer starken Expansion, ohne dass die Zahl der Invaliditätsrentner nennenswert gesunken wäre. 2012 waren 2,3 Prozent der Erwerbspersonen in Flex­Jobs, obwohl die am stärksten Eingeschränk­ten gar nicht erreicht wurden. Vielmehr gab es eine Verdrängung von regulären Jobs, die auf 20 Prozent geschätzt wird.

Die NZZ blieb unbeirrt auf ihrem Kurs. In einem Gastkommentar schreiben Christopher Prinz und Niklas Baer am 2.6.2017 unter dem Titel «Weniger Renten, mehr Integration» über das dänische System:

Die Zahl der Neurenten ist in Dänemark seit 2013 im Schnitt auf unter die Hälfte zurückgegangen; ein Rückgang der alle Altersgruppen betrifft, aber in der Gruppe zwischen 30 und 39 Jahren am stärksten ausfällt; hier spielen – wie bei den ganz jungen IV-Rentnern – psychische Behinderungen eine entscheidende Rolle. Etwa ein Drittel dieser Personen hat nun einen (zumeist subventionierten) Job, die anderen zwei Drittel sind noch im Rehabilitationsprozess. Die Kosteneinsparung ist vergleichsweise gering, weil kaum ein Antragsteller ohne Sozialleistung oder Lohnsubvention auskommt, aber der kulturelle Wandel ist beachtlich: Renten zuzusprechen, ist nicht mehr en vogue.

Der Artikel endet mit: «Insofern ist «Keine Rente unter 30» nicht die optimale Lösung – diese sollte vielmehr heissen: «Keine Rente unter 45». Im NZZ-Artikel wird allerdings ein winziges Detail nicht erwähnt: Dänemark hat auch nach der Reform noch eine deutlich höhere IV-Quote als die Schweiz. (Quelle: Junge Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen: rentenvermeidende und aktivierende Massnahmen, BSV 2017)

Die HSG-Professorin Monika Bütler vertwitterte den NZZ-Artikel als «lesenswert:

Bütler veröffentlichte 2007 mit Katja Gentinetta (der damaligen Vizedirektorin von Avenir Suisse) das Buch «Die IV – Eine Krankengeschichte» (erschienen im, ja genau, NZZ-Verlag). Die Autorinnen propagieren darin u.a. folgende Idee im Hinblick auf die Zukunft der IV:

Wo keine physische Erwerbsunfähigkeit vorliegt, würde die Verrichtung niederschwelliger gemeinnütziger Arbeiten im zweiten Arbeitsmarkt standardmässig eingeführt. (…) Bei einer Verletzung der Mitwirkungs- und Präsenzpflicht können Sanktionen zum Einsatz kommen, die über eine Reduktion der Unterstützungsleistungen über gewisse Einschränkungen bis zu einem zeitlich befristeten Aussetzen der Hilfeleistungen reichen.

Mit «Keine Rente vor 45» könnte dieser Traum des NZZ-Milieus endlich wahr werden.

Fazit

Das Thema «Arbeitsintegration bei psychischer Erkrankung» ist nicht neu. Das zeigen exemplarisch zwei parlamentarische Eingaben von 1986. Erstere fordert eine Abklärung  darüber, «ob und wieweit psychisch Leidende in der Arbeitswelt und in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung schlechter gestellt sind als organisch Kranke» (Back to the Future I). Zweitere «die Gestaltung von attraktiven Rahmenbedingungen für Arbeitgeber bei der Einstellung psychisch leidender und behinderter Arbeitnehmer (…) sowie die Gewährleistung einer kontinuierlichen Betreuung der eingestellten psychisch Kranken durch die vermittelnde Sozialberatungsstelle» (Back to the Future II).

Vor 31 Jahren habe ich mich zwar mehr für Gummitwist als für Sozialpolitik interessiert, aber angesichts dessen, dass sich die Fragestellungen bis heute kaum verändert haben, vermute ich, dass die Arbeitsintegration psychisch Kranker anno 1986 nicht unbedingt zu den brennendsten innenpolitischen Themen der Schweiz gehörte. Und es würde sich auch heutzutage immer noch kein Schwein dafür interessieren, wenn die Autoren des OECD-Berichts dessen Resultate nicht mit dem knackigen Slogan «Keine Rente vor 30» unter die Leute (und vor allen in die Medien) gebracht hätten.

Eigentlich sollte es völlig selbstverständlich sein, dass man in (jungen) Menschen mit gesundheitlichen Problemen erstmal das Potential sieht und sie – ggf. auch länger und wiederholt – unterstützt, statt sie einfach zu berenten. Tragischerweise interessiert die mangelhafte Unterstützung psychisch Kranker bei der Arbeitsintegration niemanden, solange das Thema nicht mit genügend Empörungspotential («Falsche Anreize», «bequeme Jugendliche» ect.) serviert wird – und damit – als unschöne Nebenwirkung – leider auch stigmatisierend wirkt. Die hehre Idee der OECD, dass erst alle (Therapie-)Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, bevor eine Rente gesprochen wird, wird aktuell auch bereits vom Bundesgericht pervertiert, um Depressive von IV-Leistungen auszuschliessen. Das Problem daran ist: Ohne IV-Anerkennung erhalten die (noch) nicht genügend Depressiven auch keinen Zugang zu Integrationsmassnahmen (Hat grad jemand «Die IV ist jetzt eine Integrationsversicherung» gesagt? Ähem…).

Ich weiss nicht, welche politischen Diskussionen der Eröffnung des Paraplegikerzentrums in Nottwil im Jahr 1990 vorangingen, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie sich nicht um die «Bequemlichkeit» von Paraplegikern drehte oder darum, dass eine IV-Rente für sie einfach zu «attraktiv» sei. Nottwil erreicht bei seinen Patienten heute sehr hohe Eingliederungsquoten und Paraplegiker gelten geradezu als «Vorzeigebehinderte». Das liegt nicht daran, dass sie einfach die besseren Behinderten Menschen wären (Auch wenn das die Weltwoche gerne so sieht), sondern dass sie in allen Belangen (medizinisch, psychologisch, beruflich, sozialversicherungsrechtlich ect.) hervorragend unterstützt und begleitet werden.

Psychiatrische Kliniken hingegen stecken im Bezug auf die berufliche Rehabilitation ihrer Patienten vielfach noch in den Kinderschuhen. (Und das Bundesgericht zeigt sich diesbezüglich auch nicht gerade hilfreich. Siehe oben).

Niklas Baer hat sich in Interviews immer wieder dahingehend geäussert, dass mit «Keine Rente vor 30/40» der Druck auf alle Beteiligten erhöht würde, um sich mehr um Integration zu bemühen. Wenn allerdings der Arbeitgeberverband im selben Atemzug, in dem er dezidiert «Keine Rente vor 30» fordert, die in der Vorlage zur nächsten IV-Revison vorgesehene Zusammenarbeitsvereinbarung ebenso vehement ablehnt, (wir erinnern uns; die OECD empfiehlt u.a. auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern, IV und Ärzten) habe ich leise Zweifel, ob das mit dem gleichmässigen «Druck auf alle Akteure» tatsächlich funktionieren wird.

Der Arbeitgeberverband schreibt:

Solche Zwangsmassnahmen sind weder erforderlich noch praktikabel. Das bisherige – freiwillige – Engagement der Arbeitgeber in der beruflichen Eingliederung ist ein Erfolg. Das belegen auch die jüngsten Eingliederungszahlen der IV-Stellen-Konferenz: Über 20’000 Menschen mit gesundheitlichen Problemen konnten 2015 ihren Job behalten oder eine neue Anstellung finden. (…) Gesetzliche Verpflichtungen sind aber nicht nur überflüssig, sie sind schlimmstenfalls kontraproduktiv.

Bei den vom Arbeitgeberverband als «Beweis» für das jetzt bereits «grosse» Engagement der Arbeitgeber regelmässig präsentierten Eingliederungszahlen fehlt allerdings immer eine zentrale Information: Bei wie vielen der «erfolgreich Eingegliederten» handelt es sich um ArbeitnehmerInnen mit einer psychischen Erkrankung? Diese Zahl bleiben der Arbeitgeberverband und die IVSK der Öffentlichkeit seit Jahren schuldig.

You’re a little late to the party

Während der letzten Jahre habe ich immer wieder darüber geschrieben, warum man Menschen mit psychischen Krankheiten nicht mit Mülleimern vergleichen, Menschen mit Körperbehinderungen nicht als Schaufensterpuppen, Depressive nicht als Zombies und «Behinderte» ganz generell nicht ständig als Kinder (mit Trisomie 21) darstellen sollte.

Bei den aufgezählten Beispielen handelte es sich um «professionelle» Kommunikation(skampagnen) von Organisationen der sogenannten Behindertenhilfe. Die Organisationen waren über meine Artikel jeweils not amused, denn die «Fachleute» und die «preisgekrönten Werber» wissen schliesslich, was sie tun. Auf meine Kritik hat man – falls überhaupt – arrogant und herablassend (Gell, Pro Infirmis) reagiert.

Aber über die Kritik nachdenken? Nope. Warum auch. Herzige Kinder oder sonstwie bemitleidenswerte Kreaturen sind halt einfach gut für’s Retter-Image der Organisationen und infolgedessen auch für deren Spendeneinnahmen. Menschen mit Behinderung als selbstbestimmte, kompetente Erwachsene abbilden? Äh, wie meinen…?

Selbst das eidgenössische Büro für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) hat 2014 die gesamten Werbematerialien seines Schwerpunktprogramms zum Thema «Partizipation» (Motto «Wir haben auch ein Wort mitzureden!») ausschliesslich mit Fotos von Kindern und Jugendlichen bebildert. Ich schrieb dazu:

Man stelle sich mal vor, auf dem Tagungsprogramm, den Postern und Postkarten wären auch Abbildungen von Menschen mit Behinderung jenseits des Jugendalters zu sehen, Erwachsene in individueller Kleidung statt im einheitlichen Jugendlager-Shirt! Womöglich auch welche im Businesskostüm oder Anzug! Und die wollen mitreden? Und vielleicht sogar mehr nur «ein Wort», wie es das Motto vorgibt?
Scary.

Anfang 2017 hat das EBGB ein neues Schwerpunktthema lanciert. Es heisst «Gleichstellung und Arbeit». Der ebenfalls anfangs 2017 erschienene Bericht zur Entwicklung der Behindertenpolitik des EDI legt den Schwerpunkt auch auf die Arbeitsthematik:

Bei der inhaltlichen Vertiefung steht in einer ersten Phase die Förderung der Gleichstellung im Bereich der Arbeit im Vordergrund. Bei diesem Thema besteht nach übereinstimmender Einschätzung der grösste Handlungsbedarf; zugleich bietet die Abstimmung mit der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung und der für 2017 vorgesehenen Konferenz zur Förderung der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen einen optimalen Rahmen zu einer umfassenden Förderung der Gleichstellung in der Arbeit.

Und nicht nur, aber natürlich auch deshalb, sollten – so der Bericht – Kommunikationsstrategien verstärkt auf Kompetenzorientierung ausgerichtet werden:

Kommunikationsaktivitäten, welche behindertenpolitische Anliegen vermitteln, sollen vermehrt dazu benutzt werden, eine positive Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen zu fördern. (…) Weiter soll auch in geplanten Kommunikationsmassnahmen des Bundes darauf geachtet werden, dass defizitorientierte Bilder vermieden werden. Die Wirkung kann verstärkt werden, wenn auch die Behindertenorganisationen in ihren über den Bund finanzierten Informations- und Sensibilisierungskampagnen ebenfalls darauf bedacht sind, ein kompetenzorientiertes Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln.

Darüber dass Kompentenzorientierung für eine bessere berufliche Integration von Menschen mit Behinderung fundamental wichtig ist habe ich immer und immer wieder geschrieben. Und zwar bereits 2012:

Ich habe ein klitzekleines Problem mit der aktuellen Arbeitgeber-Umgarnungsaktion der Invalidenversicherung. «Behinderte bzw. IV-Bezüger einstellen» klingt in meinen Ohren nämlich immer irgendwie wie: «Wir haben jetzt einen Hund (oder ein paar Zimmerpflanzen) in unserer Firma, das ist gut für Betriebsklima».

(…) Aber eine Behinderung alleine ist keine Qualifikation. Trotzdem zielen die ganzen Arbeitgeber-Umgarnungsaktionen der IV aber genau auf diese Zimmerpflanzen-Analogie ab. Ganz nach dem Motto: Gibt es nicht irgendeine kleine Nische, wo ihr die Zimmerpflanze reinstellen könnt?

Und:

Wäre dieses ganze Affentheater um die Eingliederungen ernst gemeint, würde man die einzugliedernden IV-Bezüger als zukünftige Arbeitnehmer behandeln und nicht wie die letzten Deppen. Denn Arbeitgeber suchen keine «Behinderten», sie suchen qualifizierte, zuverlässige Mitarbeiter. Eine Einstellung muss sich für sie lohnen. Es schafft auch niemand extra Arbeitsplätze einfach so, «weil er sich ein bisschen sozial fühlt». In einem Unternehmen fällt ein gewisses Volumen an Arbeit an und dafür werden Mitarbeitende gesucht, die diese Arbeit gut ausführen können. Alles andere ist Sozialromantik.

Nach all den Zimmerpflanzen, Mülleimern, Zombies und Kinderbilder der letzten Jahre kommt man nun also im EDI zum Schluss, dass «(…) auch Behindertenorganisationen in ihren über den Bund finanzierten Informations- und Sensibilisierungskampagnen darauf bedacht sein sollten, ein kompetenzorientiertes Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln».

Die Fachleute bei den Organisationen werden sich (zusammen mit den preisgekrönten Werbern) dazu bestimmt was hübsches einfallen lassen. Vielleicht eine Inszenierung von Kindern mit Trisomie 21 als Ärzte in einer TV-Serie namens «Euses Spital». So als gehaltvoller Diskussionsbeitrag zum Fachkäftemangel.

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Weiterführend:

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What is the meaning of the phrase «late to the party»?
If you are «late to the party» it means that you have only recently learned of something that others already have known for some time.

Können wir auch mal ohne Empörungshintergrund über Sozialleistungen diskutieren?

In der Schweiz existieren vorwiegend zwei Narrative, wenn es um BezügerInnen von Sozialleistungen geht: Zum einen das des «Betrügers»; darunter fällt nach Volksmeinung ungefähr alles vom BMW-fahrenden Sozialhifebezüger über Menschen mit nicht sichtbaren beweisbaren Behinderungen bis zum Studenten aus wohlhabenden Elternhaus, der von Prämienverbilligungen profitiert. Obwohl beispielsweise die Missbrauchsquote bei der Invalidenversicherung deutlich unter einem Prozent liegt, ist die Berichterstattung über die «stossenden Fälle» in den Medien vorherrschend. Kein Wunder: So generiert man Klicks – und haufenweise wütende Leserkommentare.

Das zweite Narrativ ist das des armen Schluckers, der von seinem traurigen Schicksal berichten und tapfer in die Kamera (oder das Mikrofon) schluchzen darf, dass er mit den erhaltenen Sozialgeldern wirklich nur ganz ganz bescheiden lebt und jeden Rappen zweimal umdrehen muss. Das generiert dann auch wütende Leserkommentare («Den Aslylanten Flüchtlingen wirft man das Geld hinterher und für die armen Schweizer bleibt nichts!»)

Die Rundschau hat in ihrer letzten Ausgabe gleich beide Narrative auf einmal abgehandelt. Angekündigt wurde ein «Skandal»: 10 Millionäre würden in der Schweiz «Sozialgeld» beziehen. Das «Sozialgeld» (gemeint sind Ergänzungsleistungen), wurde im Tweet eines Rundschau-Reportes mal eben zur «Sozialhilfe»:

Und der Tages Anzeiger schrieb: «Reiche Rentner kassieren ab». Daraufhin tobte das obligate Empörungsstürmlein in den sozialen Medien bereits im Vorfeld der Ausstrahlung.

Zuerst wurde dann in der Sendung eine «gute» weil arme EL-Bezügerin – ohne eigenes Haus oder Million – vorgestellt, bei der das Geld also schon «sehr knapp» sei. Hier ihr Budget:

Die Rundschau-Redaktion verzichtet geflissentlich drauf, das Total nach Erhalt der EL aufzulisten. Vermutlich, weil 3300.-/Monat (Die Renten müssen allerdings im Gegensatz zur EL versteuert werden) nicht nach so wenig aussehen, dass man drüber in seinen Migros-Budget-Kaffee heulen müsste (Was sollen denn erst Sozialhilfebezüger sagen, die mit deutlich weniger Geld auskommen müssen?). Ausserdem habe ich nachgerechnet: Die portraitierte Frau bekommt mit den 3300.- sogar noch 100.- mehr als eigentlich höchstens für EL-Bezüger vorgesehen sind (Gerechnet mit Höchstansatz für Miete, KK-Prämienregion 1 in ZH). Vermutlich sind die zusätzlichen 100.- Gemeinde – oder kantonale Zuschüsse, die es in vielen anderen Gemeinden/Kantonen für EL-Bezüger gar nicht (mehr) gibt.

Ich verstehe wirklich nicht, warum die Medien EL-Beziehende immer als arme Schlucker portraitieren. Es scheint ein unglaubliches Tabu zu sein, dass ein EL-Bezüger, eine EL-Bezügerin einfach sagt: «Mit EL kann man ganz okay leben». Menschen, die vom Staat Geld bekommen, dürfen aber offenbar nicht «okay» leben. Sie müssen möglichst jämmerlich dahindarben (oder es zumindest vorgeben), damit der empörte Bürger nicht vor lauter Empörung nicht mehr schlafen kann (Wann hat das eigentlich angefangen, dass das Gefühlsleben des «empörten Bürgers» das Mass aller Dinge geworden ist?).

Im weiteren Verlauf der Sendung konnte man dann einer Rundschau-Reporterin bei ihrer investigativen Recherche in einem Einfamilienhausquartier zusehen. Sie suchte – vergeblich – nach einem Millionär, der bereit wäre, über seinen Ergänzungsleistungsbezug zu sprechen (Aus welcher Privatfernsehen-Redaktion stammte dieses erbärmliche Script?). Was sie fand, waren die obligaten empörten Bürger, die in die Kamera meckern durften (Mehrwert much?) und eine Frau, die zwar ein Eigenheim bewohnt (das btw. keine Million wert ist), deren Mann aber aufgrund einer Hirnblutung in einem Pflegeheim lebt, dessen Kosten das Ehepaar nicht selbständig berappen kann und deshalb (trotz Eigenheim) Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat (Die für diesen Fall eingeblendete Budget-Berechnung ist allerdings nicht genau nachvollziehbar).

Wer vor der Sendung nicht wusste, wie das EL-System genau funktioniert, weiss es vermutlich auch nach dieser Sendung nicht. Denn auch das von Moderator Sandro Brotz mehr aggressiv als kompetent geführte Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen, war eher chaotisch denn erhellend (Der Herr Ausgleichskassenkonferenzpräsident hat ein eigenes Haus? So what? Relevanz?!). Die Idee der Sendung scheint nicht zu sein, die Zuschauer zu informieren, sondern sie möglichst missgünstig zu stimmen.

Das Thema wurde auch mit klarer Absicht gerade zum jetztigen Zeitpunkt dem Fernsehen «zugetragen». Den wirtschaftsnahen Kreisen (SVP, FDP, Arbeitgeberverband ect.) geht die EL-Revision, welche bald im Parlament beraten werden soll, nämlich viel zu wenig weit (Herr Dummermuth hat das auch erwähnt). Empörung über «ungerechtfertigte Bereicherung» soll der ganzen Debatte nun den richtigen Dreh geben. Man kennt das von der gehässigen «Scheininvalidendebatte» – Darauf folgte damals eine beispiellos harsche Sparorgie im Parlament.

Dass EL-Bezüger Vermögen/Wohneigentum haben dürfen, ist nun wirklich nicht «die Neuigkeit» als die sie die Rundschau präsentiert. Dummermuth hatte bereits letzten Sommer in der Luzerner Zeitung darauf aufmerksam gemacht, dass es wohlhabende EL-Bezüger gibt. Und man braucht nicht mal investigativ zu recherchieren, um zu wissen, dass es einige EL-BezügerInnen gibt, die über mehr als 80’000.- Vermögen verfügen. Ein Blick in die jährliche EL-Statistik genügt:

(Tabelle vergrössern durch Klicken)

Dass «Millionäre» EL-berechtigt sind, ergibt sich allerdings nur unter einer ganz speziellen Konstellation: Es handelt sich immer um ein Ehepaar, dessen Vermögen (überwiegend) im eigenen Haus angelegt ist, in dem der eine Ehepartner wohnt, während der andere im Pflegeheim ist. Das heisst, wir reden hier effektiv von Personen mit «nur» 500’000.- Vermögen (Da dem pflegebedürftigen Ehepartner jeweils nur die Hälfte gehört).

Was die Rundschau dabei «vergessen» hat zu erwähnen: Nach Abzug der Freibeträge wird bei Heimbewohnern i.d.R. (je nach Kanton) ein Fünftel des Vermögens pro Jahr als «Einkommen» angerechnet. EL-Bezüger müssen also durchaus mit einem Teil ihres Vermögens für die laufenden (Pflege)Kosten aufkommen. Und wenn alles Geld im Haus steckt, muss das Haus irgendwann verkauft werden. Das heisst, EL-beziehende «Millionäre» und Hausbesitzer sind dann sehr bald keine Millionäre/Hausbesitzer mehr. Die Rundschau hat auch nicht erwähnt, wieviel EL diese «Millionäre» überhaupt bekommen (im in der Luzerner Zeitung geschilderten Fall sind es 9000.- pro Jahr. (Empörung schüren, ohne zu erwähnen, um welche Beträge an «Steuergeldern» es effektiv geht? Boulevard-Journalismus à la Rundschau).

Die (je nach Situation unterschiedlich hohen) Vermögensfreibeträge wurden vermutlich auch deshalb grosszügig angesetzt, damit Heimaufenthalte (z.B. auch längere, aber vorübergehende Heim/Reha-Aufenthalte von IV-Bezügern) betroffene Familien nicht sofort finanziell ruinieren. Oder damit Menschen mit Behinderung, die zwar arbeiten, aber Assistenz benötigen (die eben auch teilweise über EL finanziert wird) nicht komplett «arm» sein müssen (Arbeit soll sich ja lohnen) usw. Der Gesetzgeber hat sich schon was dabei gedacht. Aber man kann durchaus darüber diskutieren, ob die EL wirklich dazu dienen sollen, das Erbe für die Nachkommen zu schützen.

Die grossen Kosten werden bei der EL nicht vorwiegend dadurch verursacht, dass sie den Lebensbedarf deckt, wenn die IV/AHV-Rente nicht ausreicht, sondern dass sie – wenn andere Kostenträger nicht genügend greifen – u.a. auch als eine Art Pflegeversicherung fungiert. Zwar leben «nur» 22,4% der EL-BezügerInnen in einem Alters-/Pflege- oder Behindertenheim, die Heimbewohner verursachen aber 60% der gesamten EL-Kosten.

Menschen werden immer älter, Pflege ist teuer. (Laut faktuell.ch kostet ein Heimaufenthalt in der Schweiz im Durchschnitt 8920.-/Monat). Ganz nüchtern über eine obligatorische Pflegeversicherung diskutieren wäre mal eine Idee.

Stattdessen wird das Thema «EL-Revision» überall auf der Empörungsschiene inszeniert. Die NZZ hat beispielsweise vor zwei Jahren viel Aufmerksamkeit erregt mit dem marktschreierischen Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat»  – den sie dann (Ich weiss gar nicht, wer da interveniert haben könnte… Oh, *ähem*)  mehrere Monate(!) später korrigiert hat. Die Korrektur hat dann aber natürlich keiner der Empörten mehr gelesen:

In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Prämienüberschuss von 5000 Franken in einem extremen Einzelfall genannt. Laut der zuständigen Krankenkasse wurde dieser Subventionsüberschuss 2014 tatsächlich an einen EL-Bezüger ausbezahlt. Aufgrund kritischer Reaktionen auf den NZZ-Artikel hat die Kasse den Fall nun noch einmal eingehend überprüft. Diese Überprüfung hat laut der Kasse ergeben, dass der zuständige Kanton ihr eine deutlich zu hohe Durchschnittsprämie gemeldet hatte. Deshalb zahlte die Kasse einen zu hohen Prämienüberschuss an den betroffenen EL-Bezüger aus. Auch ohne diesen Fehler hätte die Person laut Angaben der Kasse immer noch Anrecht auf einen Subventionsüberschuss in vierstelliger Höhe gehabt.

In sehr tiefer vierstelliger Höhe, NZZ. Und das ist nicht die Regel. Aber egal, wenn erst einmal laut «Ungerechtfertigte Bereicherung!» gebrüllt wurde, reicht natürlich sofort ein besorgter Bürger bürgerlicher Parlamentarier eine entsprechende Motion ein, die fordert: «Keine Prämiengeschenke vom Staat für Bezügerinnen und Bezüger von Ergänzungsleistungen»Der Bundesrat warnt zwar davor, EL-Bezüger zu verpflichten, sich bei den allerbilligsten Krankenkassen zu versichern (u.a. führt Konzentration der «schlechten Risiken» bei diesen Kassen zum Prämienanstieg), aber egal, Empörung über alles! Hauptsache, kein EL-Bezüger bekommt auch nur einen Franken «zuviel». Einen kleinen «Optimierungsspielraum» bei der Wahl der KK hatten EL-Bezüger zwar schon seit Jahren, nur hat eine – bevormundende – Systemänderung (Die EL zahlt die Prämie heute nannymässig direkt an die KK) das erst ins Bewusstsein empörungsbereiter Politiker gebracht. Dieselbe Systemänderung hat übrigens auch bewirkt, dass EL-Bezüger heute mehr Steuern zahlen müssen als vorher. Aber weniger Geld für die Betroffenen? Wen interessiert das schon. Die bekommen ganz sicher immer noch viel zu viel.

Wie schon erwähnt, wurde auch im Vorfeld der letzten IV-Revisionen mit der ganz grossen Empörungskelle angerührt. Die Mehrheit des Parlaments befand beispielsweise vor einigen Jahren, dass tausende IV-Bezüger «ja eigentlich Simulanten nicht wirklich krank seien und wieder arbeiten könnten». Das in Bern angerichtete Empörungssoufflé hat den Praxistest dann leider nicht bestanden. (Siehe: Integration aus Rente – Die ganz ganz grosse Lüge)

Es wäre deshalb wünschenswert, wenn die Diskussionen um Sozialleistungen in den Medien und im Parlament mal wieder mit etwas mehr Hintergrundinformationen, Sachverstand und Nüchternheit geführt würden. Und die ParlamentarierInnen die Gesetzgebung dann mit Verantwortungsgefühl und Sensibilität für die sehr unterschiedlichen und oft nicht einfachen Lebenssituationen, in denen sich die Betroffenen (in diesem Fall die ErgänzungsleistungsbezügerInnen) befinden, an die Hand nähmen – Statt sich wie eine amoklaufende Horde paranoider Wutbürger («Missbrauch! Ungerechtfertigte Bereicherung! Alles Betrüger!») aufzuführen.

Das Dilemma bei der Darstellung und Offenlegung psychischer Krankheit

Die Bebilderung von Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten zum Thema «psychische Krankheit» ist nicht ganz einfach. Um die Andersartigkeit von Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu betonen, werden manchmal Szenebilder aus Psychothrillern oder gruselige Behandlungsmethoden aus der frühen Psychiatriegeschichte zur Illustration benutzt. Bei Medienberichten über Betroffene müssen diese zu ihrem Schutz meist anonymisiert werden. Ein Pseudonym und eine Abbildung oder ein Interview bei dem das Gesicht nicht erkennbar ist, hebt aber die Stigmatisierung durch die Krankheit noch deutlicher hervor. Ein ähnliches Dilemma erleben Arbeitnehmende mit psychischen Erkrankungen. Erzählen sie dem Arbeitgeber offen von ihrer Erkrankung, müssen sie fürchten, dass sie entlassen bzw. gar nicht erst eingestellt werden.

Im Oktober erschien in der NZZ ein Interview mit dem Harvard-Forscher Steven Hyman. Er spricht darin über psychiatrische Diagnostik und Behandlungsmethoden und plädiert für mehr Ehrlichkeit über die Grenzen der Psychiatrie. Es geht dabei explizit um den aktuellen Stand der Forschung und nicht um die Geschichte der Psychiatrie. Trotzdem illustrierte die NZZ den Artikel mit einer Fotografie aus den 1950er Jahren, welche eine Psychiatriepatientin in einer Zwangsjacke zeigt. Eine Methode, die heute in Schweizer Psychiatrien i.d.R. nicht mehr gebräuchlich ist.

psych_nzz

Die Sendung 10vor10 ermöglichte vor zwei Monaten mit einer vierteiligen Serie Einblicke in den heutigen Alltag der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). 10vor10 zeigte gleich zum Einstieg eine Zwangseinweisung (jeder vierte Patient kommt unfreiwillig ins «Burghölzli» ), berichtete aber auch über Therapieformen wie Musik-, Bewegungs- oder Hundetherapie, sowie die oft nicht einfache Arbeit der Behandelnden.

Zwar werden auch die Hintergrundgeschichten der gezeigten PatientInnen erzählt, als Menschen bleiben sie allerdings unscharf – und das im direkten Wortsinn: Aus verständlichen Gründen werden ihre Gesichter unkenntlich gemacht, ihre Namen nicht genannt und ihre Stimmen teilweise verzerrt. Folgende zwei Szenenbilder zeigen die frappanten visuellen Unterschiede in der Darstellung zwischen PatientInnen und Betreuenden.
Anonyme PatientInnen:

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Pflegefachperson mit Bild und Name und natürlich – Beruf:

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10vor10 im Burghölzli: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4

Es ist klar, dass man jemanden in einer Ausnahmesituation wie einer Zwangseinweisung oder mit akuten Symptomen einer Psychose nicht erkennbar am Fernsehen zeigt. Es ist auch nachvollziehbar, dass beispielsweise eine portraitierte schwer depressive Patientin, die vor ihrer Erkrankung selbst in einem Pflegeberuf gearbeitet hat, nicht erkannt werden möchte. Gleichzeitig führt die Anonymisierung dazu, dass der Zuschauer, die Zuschauerin nicht den Menschen, sondern vor allem die Krankheit sieht und zudem das Gefühl vermittelt bekommt, dass eine psychische Erkrankung versteckt werden muss. Handelte es sich um eine Doku-Serie über Krebs- Herz- oder Lungenpatienten, würden diese vermutlich ganz selbstverständlich mit Gesicht und Namen gezeigt.

Indem man über psychiatrische Patienten zwar berichtet, sie aber nicht so zeigt, wie man andere Patienten zeigen würde, wird ihre Stigmatisierung noch verstärkt. Trotzdem soll und muss man sie schützen. Denn eine bekannte (auch überstandene) psychische Erkrankung ist oft ein schwerwiegendes Hindernis bei der Stellensuche. Die IV-Stelle Zürich hat diese Problematik vor zwei Jahren in einem Kurz-Clip treffend auf den Punkt gebracht:

Bestätigt wird dieses Dilemma auch durch Untersuchungen des Psychologen Niklas Baer von der Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland. Die meisten Arbeitgeber wären froh, wenn sie bei Auffälligkeiten (z.B. wiederholten Kurzabsenzen, Leistungsschwierigkeiten u.s.w.) vom betreffenden Mitarbeiter – oder dem behandelnden Arzt – darüber informiert würden, dass sich dahinter eine psychische Problematik verbirgt. Denn nur so können sie ihre erkrankten Mitarbeitenden adäquat unterstützen (beispielsweise mit einer vorübergehenden Anpassung der Arbeitszeit und/oder der Aufgaben).

Zugleich sagen aber fast 60% der Arbeitgeber/Führungskräfte, dass sie Stellenbewerber mit psychischen Problemen gar nicht erst einstellen würden.

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Ganze Präsentation «Umgang mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden – Probleme und Lösungsansätze» von Niklas Baer. (Ergänzung 6. Mai 2017: Studie, aus der die Zahlen stammen.)

Die Lage der Betroffenen ist verzwickt. So lange es irgendwie möglich ist, setzen die meisten alles daran, ihre Krankheit zu verstecken. Ganz speziell dann, wenn sie trotz und mit psychischer Erkrankung beruflich erfolgreich sind. Aus diesem Grund gibt es – anders als bei Menschen mit Körperbehinderungen – auch kaum Medienberichte à la «Erfolgreiche Unternehmerin trotz Schizophrenie». Das heisst auch, dass junge Menschen, die neu erkranken, keine öffentlichen Vorbilder haben, die ihnen vorleben, dass trotz einer psychischen Erkrankung vielfältige Lebenswege möglich sind.

Vor einem Jahr rief Agile ParlamentarierInnen mit unsichtbaren Behinderungen dazu auf, «ihre eigene Betroffenheit als Menschen mit Behinderungen offen zu legen. Dies mit Blick auf eine stärkere Vertretung der Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen im neu gewählten Parlament.» Die Angesprochenen sollten sich doch bitte bei Agile melden.

Agile hätte auch gleich schreiben können: «Bitte melden Sie sich bei uns, damit wir Sie für unsere Zwecke benutzen können». So wie man das eben so macht im Behindertenbereich, wo Betroffene vor allem als Postergirls und -boys benutzt werden, die «dem höheren Zweck dienen» sollen. Ob sich jemand outet, ist aber eine sehr persönliche Entscheidung, die sorgfältig überlegt und geplant sein will. Und die sich in der heutigen Zeit, wo man alles googeln kann, nie mehr rückgängig machen lässt. Eine Behindertenorganisation, die zu einem Outing als Mittel zu ihrem Zweck auffordert, hat etwas ganz Grundlegendes bei der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen nicht verstanden.

Bloss weil jemand eine Behinderung/chronische Krankheit hat, verpflichtet ihn oder sie überhaupt gar nichts dazu, dies offenzulegen (und damit reale persönliche Nachteile zu riskieren), weil das «der Sache der vereinigten Behinderten» dienen würde. Ein Outing ist zuallererst einmal die Sache der betroffenen Person. Für sie muss es stimmen. Wenn sie damit anderen Betroffenen hilft, ist das grossartig. Aber verlangen kann und darf man das von niemandem.

Die ProtagonistInnen des kürzlich in verschiedenen Schweizer (Alternativ-)Kinos gezeigten Films «GLEICH UND ANDERS – Wenn die Psyche uns fordert» haben sich zur Offenheit entschlossen. Sie erzählen ihre Geschichten. Sie zeigen ihr Gesicht. Sie haben Namen und Stimmen. Berufe, Beziehungen und Hobbies. Und sie geben einen direkten Einblick in die Herausforderungen, die sich ihnen rund um das Thema Arbeit stellen. Sie äussern sich sehr persönlich und authentisch zu ihren Abstürzen und Erfolgen, zu ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit Arbeitgebern, Ärzten und Sozialinstitutionen. Auf der Seite zum Film kann man sich diverse Clips ansehen. Beispielsweise die Portraits der einzelnen ProtagontistInnen.

Der einzige Wermutstropfen ist, dass sich den Film vermutlich vor allem ein sowieso schon mit der Thematik vertrautes Publikum angesehen hat. Ein bisschen mehr nicht stigmatisierende Präsenz von Betroffenen in den Mainstream-Medien wäre wünschenswert. Aber wie oben ausgeführt: Es ist kompliziert.

Kantonsgericht Luzern: Hirnstrommessungen lassen sich nicht rechtfertigen. BSV: Das haben wir schon 2015 gesagt. (Aber nur ganz leise).

Zu Beginn möchte ich den Leserinnen und Lesern, die beim BSV oder einer IV-Stelle arbeiten, eine Frage stellen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie in der NZZ lesen würden, dass Untersuchungen ergeben haben, dass eine Mehrheit der IV/BSV-MitarbeiterInnen Lügner und Betrüger seien?

Vermutlich fänden Sie das nicht so… lustig. Sowas würde aber natürlich nie in der NZZ stehen (schön für Sie). Am 5. Januar 2014 war in der NZZ dafür Folgendes zu lesen:

Die IV-Stelle in Luzern zieht bei der Beurteilung strittiger IV-Gesuche neuropsychologische Tests an Patienten zu Hilfe. Eine Mehrheit der Patienten gaukelte eine übertriebene psychologische Erkrankung vor.

Eine solche Aussage ist für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die sowieso schon stigmatisiert werden (Man sieht ja gar nichts, die übertreiben doch u.s.w.) nicht gerade der beste «Werbespot». Aber darum ging’s ja nicht. Es ging vielmehr um einen «Werbespot» für Donald Locher.

Locher ist IV-Direktor der IV-Stelle Luzern, setzt sich immer wieder gerne mit Anekdoten über seine erfolgreiche IV-Betrügerjagd in Szene («Auch haben mich schon Bekannte direkt angerufen und etwa gesagt, wir sollten doch mal bei ihrem Nachbarn reinschauen.») und erregte Anfang 2014 schweizweit Aufmerksamkeit mit einem grossen Artikel in der Zentralschweiz am Sonntag.

Der Artikel hiess «Luzern leistet Pionierarbeit». Der damalige Leiter des RAD-Zentralschweiz Dr. Peter Balbi erklärte darin, dass sich mittels der Ableitung von Hirnströmen (so genannte Event Related Potentials, ERP) den Ärzten ein Fenster zum Hirn öffne. Es seien, so Balbi, «im Gehirn von psychisch kranken Menschen ganz spezielle Muster zu beobachten.» Donald Locher, der Direktor der IV-Stelle Luzern, beschrieb die «erstaunlichen Resultate», die diese innovative Methode bei den 60 untersuchten Personen Versuchskaninchen, hervorgebracht hätten:

Es gibt nicht nur etliche Leute, die eine psychische Erkrankung übertreibend darstellen oder gar vortäuschen, es gibt ebenso welche, die untertreiben.

Am 6. Januar 2014 schrieb ich einen kritischen Blogbeitrag über «die Innovation aus Luzern». Die Medien stürzten sich natürlich auf das Thema. Mehrere befragte Experten betonten jedoch, dass mittels «Hirnstrommessungen» keine zuverlässigen Resultate zu erzielen wären. Ich verfasste einen weiteren Artikel über die Medienberichterstattung. Locher sagte beispielsweise im 20min:

Die Tests ergaben bei 60 Prozent, dass sie ihre Leiden wirklich übertrieben haben. Bei 40 Prozent der Probanden hingegen waren die Hirnleistungen stärker beeinträchtigt, als sie selber gedacht hatten.

Eine Trefferquote von exakt null Prozent wäre das dann. Nichtsdestotrotz führte die IV-Stelle Luzern im Rahmen der (auch andere Untersuchungen umfassenden) Abklärungsmassnahmen weiterhin «Hirnstrommessungen» durch. Mit dem Segen des BSV.

Das Kantonsgericht Luzern hat nun am 10. November 2016 eine Beschwerde eines Versicherten gutgeheissen, der sich während der Abklärung seines Gesundheitszustandes einer solchen Hirnstrommessung unterziehen musste – und dem (auch) infolgedessen eine Rente verweigert wurde. Zentralplus.ch berichtet dazu:

Es fehlt an einem breit abgestützten Konsens, welcher gestatten würde, die streitige Abklärungsmethode als zuverlässige Grundlage für die Beurteilung von psychischen und kognitiven Beschwerden zu betrachten. Die Anwendung der Hirnstrommessungen zur Abklärung eines Leistungsanspruchs in der Invalidenversicherung lasse sich – zumindest vorerst – nicht rechtfertigen.

Versicherte mit einer unzulässigen Methode beurteilen – Ist das nicht sowas wie… Betrug Missbrauch, Herr Locher…?

Am 23. November griff die Sendung 10vor10 das Thema auf. Der Luzerner IV-Direktor Locher, der vor knapp vier Jahren gar nicht genug davon bekommen konnte, die «Innovation aus Luzern» in den Medien anzupreisen, war auf einmal gar nicht mehr erpicht auf’s Rampenlicht. Die IV-Stelle Luzern äusserte sich nur schriftlich und in dürren Worten:

Diese Zusatzuntersuchung hat in Einzelfällen dazu geführt, dass Versicherte Leistungen erhielten. In keinem Fall wurden hingegen Leistungen einzig aufgrund dieser Zusatzuntersuchung abgelehnt.

Aber… man konnte doch – siehe oben – laut Locher aufgrund der Hirnstrommessungen bei 60% der untersuchten Versicherten feststellen, dass sie «ihr Leiden wirklich übertrieben hatten»? Oder wie die NZZ es formulierte: «Eine Mehrheit der Patienten gaukelte eine übertriebene psychologische Erkrankung vor.» Und Herr Locher sprach 2014 in der Zentralschweiz am Sonntag von einer «Erfolgsgeschichte». (60 Personen hatte man damals angeblich schon mittels «Hirnscans» untersucht, im 10vor10 waren es nun plötzlich insgesamt nur noch 26…).

BSV-Sprecher Harald Sohns sagte im 10vor10:

Aus der Erkenntnis heraus, dass die Methode medizinisch-wissenschaftlich umstritten ist und der IV kaum zusätzliche Erkenntnisse bringt, hat die IV-Stelle Luzern den Versuch eingestellt und das BSV hat die IV-Stellen angewiesen, diese Methode nicht anzuwenden.

Wann das war? Anfang 2015. Auf meine Nachfrage hin, warum das BSV diesen Entscheid nicht öffentlich kommuniziert hat, schreibt Harald Sohns:

Das wurde kommuniziert. Sowohl die IV-Stelle Luzern als auch das BSV haben den Sachverhalt gegenüber Medien mehrfach bekanntgegeben.

Via Google findet man 2015 keine einzige solche Meldung. Dafür kann man im Jahresbericht 2014 der IV-Stelle Luzern einen sehr wolkigen Text über das «Projekt Komplexfallabklärungen» lesen, das «im Medienjargon oft fälschlicherweise als ‚Hirnscans‘ bezeichnet worden sei»:

Nach einer umfassenden Evaluation am Ende der Projektphase hat sich gezeigt, dass das Hauptziel des Projekts dank des grossen persönlichen Einsatzes der Beteiligten erreicht wurde. Aufgrund des beträchtlichen Ressourceneinsatzes im Einzelfall werden diese Abklärungen künftig bedarfsweise bei externen Anbietern in Auftrag gegeben.

Das ist also luzernerisch für «Das Verfahren ist unseriös, darum haben wir die Versuche eingestellt». (…?)

Vielleicht könnte Donald Locher seine Worte zukünftig auch dann mit soviel Sorgfalt wählen, wenn es um Menschen mit psychischen Erkrankungen geht. Als IV-Direktor steht er nämlich im Dienst der Versicherten. Und nicht umgekehrt. Die Versicherten sind nicht dazu da, damit sich ein IV-Direktor auf ihre Kosten («Die Tests ergaben bei 60 Prozent, dass sie ihre Leiden wirklich übertrieben haben») mit einer unseriösen «Wundermethode» als «innovativ» profilieren kann. Das gilt auch für alle anderen BSV- und IV-Mitarbeitenden: Sie tragen durch Ihre Kommunikation eine Mitverantwortung dafür, wie Menschen, die auf die IV angewiesen sind, in den Medien dargestellt und somit von der Bevölkerung gesehen werden.

. . . . . . . .

Für die interessierten Juristen, hier das Urteil aus Luzern als PDF. Ein Zückerli daraus:

Gemäss Prof. Dr. F entbehren bestimmte Aussagen von Dr. C „jeder wissenschaftlichen Grundlage, sind massiv irreführend und haben entsprechend in einem medizinischen Gutachten nichts verloren“, andere Aussagen (zu den spektralanalytischen Daten) seien „einfach grotesk“.

Ich hatte bezüglich des hier kritisierten RAD-Arztes Dr. C. in meinem Artikel von 2014 gefragt, was diesen Feld-Wald-Wiesen-Psychiater denn genau dazu qualifiziere, mittels EGG-Messungen bei IV-Antragstellern psychische Krankheiten zu erkennen. Der vom Gericht für das Gutachten beauftragte Professor hat an den Qualifikationen von Dr. C. offenbar auch gewisse… Zweifel.

Unterschiedliche Bilder junger IV-BezügerInnen

Anfang 2014 konstatierte der OECD-Länderbericht Schweiz zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung bei verschiedenen Akteuren (Invalidenversicherung, Arbeitgeber, Psychiatrische Versorgungssysteme, Schulen, ect.) Handlungsbedarf, um psychische Krankheiten früher zu erkennen, die Betroffenen zu unterstützen und so deren Invalidisierung zu vermeiden. Der Fokus der Medien lag bei der Berichterstattung dann aber vor allem auf den «falschen finanziellen Anreizen» für junge IV-BezügerInnen. «20 Minuten» titelte beispielsweise «IV-Rente lohnt sich mehr als Arbeit»Unterstrichen wurde die Aussage im Titel mit einem Bild feiernder Jugendlicher:
20minbotellon

Eine Beschwerde beim Presserat, welche diese Darstellung als «diskriminierend» beklagte, wurde abgewiesen. Als «Argument» diente die Verteidigung der Tamedia:

Das verwendete Bild wolle in gewissem Masse provozieren, indem es auf die «Nullbockjugend» hinweise, die lieber feiere als arbeite. Dieses Bild sei aufgrund des Titels, dass eine IV-Rente sich mehr lohne als Arbeit, ausgewählt worden. Eine diskriminierende Aussage gegenüber psychisch kranken IV-Rentnern könne «20 Minuten» nicht vorgeworfen werden.

Der Presserat setzte dann noch obendrauf: «Da sich dieses Bild nicht auf psychisch kranke IV-Rentner bezieht, kann Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung» gar nicht zur Anwendung kommen.»

Jede/r 20 Minuten-LeserIn hat sich damals natürlich gleich gedacht: Das Bild stellt eine eigenständige gesellschaftskritische Aussage zur «Nullbockjugend» dar und illustriert nicht etwa das Thema des Artikels (psychisch kranke Jugendliche). Weil Bilder in Zeitungen haben ja ganz grundsätzlich nie etwas mit dem Inhalt des jeweiligen Artikels zu tun. Weiss doch jeder!

Es wäre sehr interessant, zu erfahren, wie der Presserat entschieden hätte, wenn ein Artikel mit der Überschrift «IV-Rente lohnt sich mehr als Arbeit» mit einem der folgenden Fotos illustriert worden wäre (Bildquelle: laviva.ch – Laviva veranstaltet an verschiedenen Orten in der Schweiz regelmässig Partys für Menschen mit Behinderung):
Lavivabernjuni2015lavivarolli

Allerdings würde es wohl keiner Zeitungsredaktion je einfallen, solche Bilder von jungen Menschen mit einer (sichtbaren) geistigen oder körperlichen Behinderung unter der Überschrift der «sich lohnenden IV-Rente» zu zeigen und damit zu implizieren, dass die Betroffenen – auf Kosten der Allgemeinheit – «lieber feiern statt zu arbeiten». Die Empörung der entsprechenden Organisiationen wäre garantiert. Und die des Volkes Internetmobs auch.

Das mediale Bild, welches (mit tatkräftiger Unterstützung der entsprechenden Organisationen im Hintergrund) von Menschen vor allem mit geistiger Behinderung gezeichnet wird, ist nämlich das der Arbeitssamen (z.B. üsi Badi/üse Zoo) und Ausbildungswilligen (z.B. Simons Weg). Die Betroffenen wurden auch medienwirksam an die vorderste Front gestellt, als im September 2011 die Petition «Berufsbildung für alle» mit über 100’000 Unterschriften der Bundeskanzlei übergeben wurde:

Petition

Bildquelle: procap.ch

Die Petition wandte sich gegen das «herzlose» BSV, welches ein zweites Ausbildungsjahr für beeinträchtigte Jugendliche im geschützten Rahmen nur noch dann bewilligen wollte, wenn Aussicht darauf besteht, dass die Betroffenen danach im ersten Arbeitsmarkt tätig sein und ein zumindest rentenreduzierendes Einkommen generieren können (In einer geschützten Werkstätte ist es praktisch unmöglich, ein rentenbeeinflussendes Einkommen zu erzielen).

Unterschriftensammlung sowie die Übergabe der Petitionsbögen waren so herzerwärmend inszeniert (auch die Tagesschau berichtete), dass niemand auf die bösartige Idee kam, nachzufragen, wie hoch denn die Eingliederungschancen in den ersten Arbeitsmarkt nach einer Ausbildung im geschützten Rahmen ganz generell sind (sehr tief), was so ein Ausbildungsjahr eigentlich kostet (ca. 100’000.-) und wieviel durch die Massnahme gespart werden soll (50 Mio/Jahr – because: defizitäre Invalidenversicherung, wir erinnern uns…?).

Auch Nationalrat Christian Lohr spricht in seinem entsprechenden parlamentarischen Postulat (rechtliche Prüfung der neuen IV-Praxis) nicht von Zahlen, sondern von

Jugendlichen, die stärker beeinträchtigt sind und keine Chancen für einen Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt haben. Es geht also konkret um junge Menschen, die bereit sind, trotz ihrer Beeinträchtigung Arbeit zu leisten und sich in unsere Gesellschaft einzubringen.

Die überwältigende Mehrheit des Parlaments (inkl. SVP) war so hingerissen von den «jungen arbeitswilligen Menschen», (oder vom Lobbying von Insieme, Procap und Cerebral) dass sie dem Postulat von Lohr, sowie demjenigen von CVP-NR Christine Bulliard-Marbach (Mitglied des Zentralvorstandes von Insieme) zum selben Thema letzten Sommer gegen den Willen des Bundesrats zustimmte. Einzig FDP und Grünliberale machten wohl eine nüchterne Kosten/Nutzen-Analyse (Defizitäre Invalidenversicherung; wir erinnern uns) und stimmten dagegen. Das war dann immerhin parteipolitisch konsequent. Bei SVP und einigen Vertretern der CVP würde man gerne nachfragen: Hat der übliche pawlowsche Reflex (Fehlanreize! Sparen!) versagt, weil der Ausdruck «Junge IV-BezügerInnen» nicht fiel? Weil man nämlich nur bei den (bösen) IV-Bezügern spart, aber doch nicht bei (guten) netten Behinderten (man ist ja schliesslich kein Unmensch!)?

Denn bei diesen «jungen Menschen» handelt es sich natürlich auch um (zukünftige) IV-BezügerInnen. Zur Erinnerung – (siehe oben) das sind die, für die sich Arbeiten nicht lohnt, wegen der zu hohen IV-Rente. Denen muss man eigentlich nur die IV-Rente kürzen, dann erhöht sich wegen der «Anreize» deren Arbeits(markt)fähigkeit und sie können im ersten Arbeitsmarkt genug verdienen.

Ach so, das sind andere jungen IV-BezügerInnen. Die mit den Geburtsgebrechen können ja nichts für ihre Behinderung.

(…???)

Bevor sich jemand ärgert: es geht mir hier explizit nicht darum, stark beeinträchtigten Jugendlichen das Recht auf eine längere Ausbildung abzusprechen. Ich möchte nur die komplett unterschiedliche Darstellung und Wahrnehmung von jungen Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen aufzeigen. Diese kommt nämlich nicht von ungefähr, sondern ist auch eine direkte Folge davon, dass beispielsweise die Elternvereinigung geistig behinderter Kinder Insieme (BSV-Beitrag: 11 Mio/Jahr) eine (vorbildlich!) professionelle (und sehr politische) Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Von der Pro… wie hiess die gleich nochmal…?  ah ja… Pro Mente Sana (BSV-Beitrag: 2 Mio/Jahr) hingegegen hat man in Sachen Ausbildung/berufliche Integration von Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren öffentlich so rein gar nichts gehört. Lobbying (und wieviel Geld dafür zur Verfügung steht) hat eben Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung, Berichterstattung und Politik. Fehlendes Lobbying genauso.

Zum Thema «Wahrnehmung» noch ein Comic von erzählmirnix, den die Urheberin gemeinsam mit der Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom konzipiert hat:

down

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Liebe Pro Infirmis, wir müssen über Eure Darstellung von Menschen mit Behinderung reden. [Mal wieder…]

Am 16. März 2015 habe ich unter dem Titel «Jöh, Behinderte!» ausführlich beschrieben, warum ich es leicht suboptimal finde, wenn das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) seine Werbemittel (ausschliesslich) mit Kinderfotos bebildert.
Am 12. April 2015 beendete ich einen Blogbeitrag mit folgendem Abschnitt:

Solange allerdings Organisationen wie die Pro Infirmis ihre Facebookauftritte mit Kindern bebildern (die ganz offensichtlich zu bevormunden sind) wird sich am Bild in den Köpfen auch nichts ändern:

Facebook-Header von Pro Infirmis im Februar 2015:
pi_feb

Facebook-Header von Pro Infirmis im März 2015:
pi_maerz

Zufälligerweise hat dann Pro Infirmis wenige Tage später folgendes FB-Headerbild eingestellt:

16April15

Und einen Monat später diesen Aufruf veröffentlicht:
Aufruf

Darauf folgten einige Header, die persönliche Geschichten erzählten (leider habe ich bei den ersten beiden Bildern von den zugehörigen Texten keine Sreenshots gemacht).

Anfang Juni:
3juni15

Ende Juni (Julia Della Rossa, Angelman-Syndrom)
24juni15

Anfang Juli
2Juli15

Geschichte:
paartext

Mitte Juli
9juli15

Geschichte:
uwehaucktext

Diese Bilder und Geschichten haben viel Lebensnähe ausgestrahlt. Aber es ist natürlich aufwendig, Betroffene zu finden, die abgebildet werden möchten und ihre Geschichte erzählen mögen. Vermutlich aus diesem Grund sahen die Headerbilder seit Ende Juli 2015 leider wieder so aus:
19juli15

August:
12aug15

September:
4sept15

Oktober:
19okt15

Und aktuell (Januar 2016):
2jan16

Anonyme Agenturbilder ohne persönliche Geschichte und vor allem mal wieder hauptsächlich das stereotype «herzige Down-Syndrom-Kind».

Es ist allerdings bei Bild-Agenturen tatsächlich auch nicht ganz einfach, unterschiedliche, lebensnahe und nicht stereotype Bilder von Menschen mit Behinderungen zu finden. Ein besonderes Ärgernis sind die von Christiane Link so treffend beschriebenen «Hübschen Menschen in hässlichen Rollstühlen». Die (unbehinderten) Models werden dafür meist in alte Krankenhausrollstühle gesetzt und die Bilder wirken dann auch dementsprechend «unnatürlich». Link schreibt:

Die Bilder wirken so, wie sich viele Menschen das Leben im Rollstuhl vorstellen: ungelenker Kasten, der einen behindert. Aber das ist schon lange nicht mehr so. Rollstühle werden individuell angepasst, zumindest bei jungen Leuten, sind wendig und leicht.

Die Frage die sich hier stellt, wäre dann einfach: Kann es sich eine so grosse Organisation wie die Pro Infirmis nicht leisten, einfach mal eine Fotografin quer durch die Schweiz zu schicken, die Bilder von realen Menschen mit Behinderungen in ganz verschiedenen Situationen macht? Beispielsweise beim Sport (Rollstuhlbasketball, Elektrorollstuhl-Hockey, Segeln) oder in der ganz normalen Freizeit und auch – Arbeitswelt. Und nein, nicht (nur) in den Werkstätten.

Solche Bilder (inkl. zugehörge Geschichten) dürfte man als Behindertenorganisation doch sowieso immer wieder und nicht nur für die Facebookseite brauchen. Die Fotografin Flavia Trachsel (selbst Rollstuhlfahrerin) hat zum Beispiel schöne Portraits für den Frauen-Bericht des EBGB gemacht. Unterer anderem dieses hier von Anja Reichenbach:
anjareichenbach

(Das EBGB kann es also schon, wenn es will – bzw. wenn jemand externer den Finger draufhält…)

Wunderbar lebensnahe Fotos zum Thema Inklusion macht auch der deutsche Fotograf Andi Weiland. Beispielsweise dieses hier von der Bloggerin Laura Gehlhaar und ihrem Mann:
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Es gibt sie also, die anderen Bilder jenseits der stereotypen «herzige-Down-Syndrom-Kinder-Ästhetik.» Und als grösste Behindertenorganisation der Schweiz hätte man eine Verantwortung, die möglichst vielfältige Darstellung von Menschen mit Behinderungen aktiv zu fördern (Z.B. Fotoaufträge an mit dem Begriff «Inklusion» vertraute FotografInnen zu vergeben. Und zwar völlig selbstverständlich und unabhängig von grossen protzigen Kampagnen). Zur Abwechslung einfach mal selbst konsequent positives Vorbild sein, statt «milde Gaben» im Namen der «armen Behinderten» einfordern. Wie wär’s, Pro Infirmis?

IV-Stelle Luzern: 55% Misserfolgsquote bei der Eingliederung

Es gibt Themen, von denen ich dachte, dazu müsse ich nun wirklich nicht nochmal was schreiben, weil die Sache endgültig gegessen ist. Sensationslüsterne Kommunikation zur IV-Betrugsbekämpfung war ist so ein Thema. Natürlich ist aber meine obige Artikelüberschrift nicht die Überschrift, die sich die PR-Berater für die Medienmitteilung zum kürzlich veröffentlichten Jahresbericht 2014 der IV-Stelle Luzern ausgedacht haben. Man setzt vielmehr auf Altbewährtes: «IV Luzern bekämpft Versicherungsmissbrauch». Und was ich bereits am 6. Januar 2014 unter dem Titel «Kommunikation des Luzerner IV-Direktors: Was kümmern uns die Details…» schrieb, hat nichts an Aktualität eigebüsst:

Donald Locher ist IV-Direktor in Luzern. Er redet ausgesprochen gerne über IV-Missbrauch. Vorzugsweise in der lokalen Presse, die das Ganze regelmässig prominent und mit knackigen Headlines (Motto: «Je Betrüger umso besser») an die Leserschaft bringt.

Nun, eineinhalb Jahre später, übertitelt das Lokalblatt zentral+ das ausführliche Interview mit Donald Locher mit: «IV-Detektive filmen IV-Betrüger beim Veloklau».

Genüsslich zelebriert Locher darin IV-Räubergeschichten, erzählt über anonyme Meldungen an die IV-Stelle und auch nicht ganz so anonyme:

Auch haben mich schon Bekannte direkt angerufen und etwa gesagt, wir sollten doch mal bei ihrem Nachbarn reinschauen.

Und Locher sagt auch, wieviel Geld man beim CSI-Luzern in die Verbrecherjagd investiert:

Wir haben für unsere externen Detektive ein Budget von 100’000 Franken. Unsere eigene Abteilung kostet zusätzlich rund 350’000 Franken [Anmerkung: Dort arbeiten 4 Personen]. Insgesamt belaufen sich die Kosten also auf knapp eine halbe Million.

Daraus resultierte im Kanton Luzern im Jahr 2014 die Aufdeckung von 18 Fällen von IV-Missbrauch (Als Relation: In Luzern beziehen aktuell rund 10’000 Menschen eine IV-Rente).

Der absolute Medien-Knüller ist aber natürlich, dass Luzern als (soweit ich weiss) bisher einzige IV-Stelle im Jahresbericht die Missbrauchsfälle zum einen nach Schweizern/Ausländern getrennt aufführt, zum andern die Nationalitäten jedes einzelnen Falles preisgibt. Und damit nicht genug; bei den Schweizern wird auch noch nach «reinrassigen» und solchen «mit Migrationshintergrund» unterschieden:

bvm_luzernBildquelle: Jahresbericht 2014 der IV-Stelle Luzern

Die Frage dazu ist einfach; Was «bringt» die Veröffentlichung dieser Informationen nun genau? Zuerst mal knackige Medien-Auftritte und Applaus aus der rechten Ecke für Herrn Locher. Das war bei der medialen Lancierung der von Medizinern vielkritisierten «Hirnstrommessungen» Anfang Januar 2014 nicht anders. Der aktuelle Jahresbericht sagt dazu übrigens:

Nach einer umfassenden Evaluation am Ende der Projektphase hat sich gezeigt, dass das Hauptziel des Projekts dank des grossen persönlichen Einsatzes der Beteiligten erreicht wurde.

Man hätte jetzt eigentlich noch gerne gewusst, was genau bei der Evaluation rauskam (Gibt’s da nun wissenschaftliche Publikationen zur Reliabilität?) und was war eigentlich das «Hauptziel des Projektes»? Schweizweite Presseberichte über die IV-Stelle Luzern? Aber der Jahresbericht wird dazu nicht ganz so konkret.

Ob «Hirnstrommessungen» oder Nationalität der IV-Betrüger, bei der IV-Stelle Luzern findet man jedenfalls immer wieder ein wirksames mediales Ablenkungsmanöver, damit niemand bemerkt, dass nicht eine handvoll (ausländischer) IV-Betrüger die Hauptkosten bei der IV verursachen, sondern vor allem die echten IV-Fälle. Zum Beispiel diejenigen 1321 Menschen, bei denen die Eingliederungsbemühungen der IV Luzern nicht zum Erfolg führten, und über die im Jahresbericht zu lesen ist:

Es wäre falsch zu glauben, dass wir in jedem potenziellen Eingliederungsfall eine gute Lösung finden und die Geschichten immer positiv enden. Sehr oft erleben wir unglücklliche Verläufe und müssen akzeptieren, dass es trotz aller Bemühungen auch Verlierer geben kann.

Im Zeitungsartikel klingt das etwas anders. Dort sagt Locher:

Die Eingliederungen durch die IV sind eine Erfolgsstory.(…)

zentral+: Sind das alles langfristige Eingliederungen oder scheitern viele Personen und landen dann ein paar Monate später wieder bei euch?

Locher: Viele sind langfristig. Aber natürlich gibt es immer auch solche, die es nicht schaffen. Genau Zahlen liegen dazu derzeit keine vor.

Zu den langfristigen Eingliederungserfolgen hat man keine Zahlen, aber zu den Eingliederungsversuchen, die bereits «kurzfristig» scheiterten, hätte man schon welche, die liegen nämlich laut Jahresbericht wie gesagt bei 55% bzw. 1321 Menschen.

Aber das passt halt nicht in diese krude Mischung aus ausländischen IV-Betrügern, Schweizer IV-Rentnern in Thailand und potentiellen zukünftigen IV-Rentnern unter den syrischen Flüchtlingen [sic] die Locher im Interview zum Besten gibt.

Erst ganz am Schluss fragt zentral+:

Aber der Grossteil bezieht doch zu Recht eine IV-Rente? Zumal es doch auch immer mehr psychisch Kranke gibt, die sich nicht so einfach wieder integrieren lassen?

Locher: Das ist korrekt. Plus/Minus wird der Anteil an IV-Renten wohl etwa in dem Bereich bleiben, wie er nun heute ist. Und wie in der ganzen Schweiz, beträgt auch in Luzern der Anteil an IV-Rentner mit psychischen Problemen gegen 40 Prozent. Diese Zahl nimmt weiter zu, und diese Leute sind nicht einfach zu integrieren.

Damit hätte das Interview eigentlich beginnen müssen, wenn es Locher ernst damit meinte, was er im Jahresbericht schrieb schreiben liess:

In Sachen berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung zum Beispiel ist zusätzliche Sensibilisierungsarbeit bei den Arbeitgebenden nötig.

Wenn man Arbeitgeber tatsächlich für die Integration sensibilisieren möchte, stellt man wohl kaum die Missbrauchsbekämpfung ins Zentrum der Kommunikation (findet übrigens auch der grüne Luzerner Kantonsrat Michael Töngi).

Und statt einer peniblen Darstellung der IV-Betrüger nach Nationalität, wäre eine Aufschlüsselung der (nicht) erfolgreichen Integrationsbemühungen nach Gebrechensart im Jahresbericht wesentlich aufschlussreicher gewesen. Aber da hat der PR-Berater vermutlich davon abgeraten. Die Integrationszahlen bei den psychischen Kranken hätten nicht gut ausgesehen. Und bei denjenigen, denen man die Rente aufgrund eines Päusbonogs aberkannt hat (wobei die IV-Stelle Luzern so rigoros vorging, dass sie sogar vom Bundesgericht zurückgepfiffen wurde) wohl auch eher nicht so. Stattdessen präsentiert man sich in den Medien vorrangig als erfolgreiche Verbrecherjäger. Richtige «Gewinnertypen» eben. So im Gegensatz zu den nicht Eingliederbaren, die im Jahresbericht als «Verlierer» (siehe oben) bezeichnet werden.

Übrigens sind laut dem Jahresbericht 55% der bei der IV-Stelle Luzern Beschäftigten Frauen. Und so sieht die Geschäftsleitung aus:
GL IV Luzern
Passt.

Auf Augenhöhe. Aktion Mensch: Ja. Insieme: Nein.

Die Aktion Mensch (Deutschland) hat im März einen Kurzfilm veröffentlicht, der entspannt und humorvoll zeigt, was «Augenhöhe» bedeutet. Empfehle, ihn anzuschauen:

Die Elternvereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung Insieme Schweiz hatte zufällig eine sehr ähnliche Idee und daraus ein mit Kitschmusik unterlegtes trändendrüsiges Ding gemacht:

Insieme zeigt damit, was KEINE Augenhöhe bedeutet: Im Zentrum stehen die wohlmeinenden Nichtbehinderten, die über ihre «bereichernde Erfahrung mit den Behinderten» reden. Die Menschen mit Behinderung werden im (Haupt-)Clip überhaupt nicht persönlich befragt (nur teilweise kurz in den Making of-Filmen) – Im Gegensatz zum Film der Aktion Mensch, wo beide Partner gleichwertig behandelt und am Schluss auch beide befragt werden.

Der Erkenntnisgewinn der Nichtbehinderten («Das sind ja Menschen wie du und ich») steht zwar beiden Filmen im Zentrum, kommt aber bei der Aktion Mensch viel subtiler, unverkrampfter und natürlicher daher, während Insieme es so verkitscht und forciert darstellt, dass man dazu den mehrfachbehinderten Professor Nils Jent zitieren möchte:

Ich koche, wenn ich den Satz ‹Behinderte sind auch Menschen› höre. Nun, wir sind tatsächlich Menschen, keine Sachen.

Selbstverständlichkeit zeigt man halt gerade nicht, indem man hundert blinkende Pfeile mit der Aufschrift «Sind Menschen wie du und ich» rund ums rosafarben inszenierte Bild plaziert und mit zuckersüsser Musik unterlegt.

Und was die Aktion Mensch in Deutschland ebenfalls ganz nebenbei wunderbar gemacht hat, nämlich verschiedene Formen der Behinderung (es ist auch ein Mädchen mit Downsyndrom dabei) ganz selbstverständlich im selben Spot unterzubringen, ist im Spartendenken des Schweizer Behindertenwesens wohl noch sehr ferne Zukunftsmusik. Im Vordergrund stehen halt leider und einmal mehr unübersehbar die Partikulärinteressen einer Organisation. Denn dass der Insieme-Spot nach offizieller Lesart anlässlich des 55-Jahr Jubiläum der Organisation erscheint, wirkt aufgrund der Zahl schon nicht sehr glaubwürdig und beim Lesen der Pressemitteilung wird noch deutlicher, weshalb dieser Spot exakt zum jetztigen Zeitpunkt veröffentlicht wird:

Menschen mit geistiger Behinderung gehören dazu. Sie sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft und machen sie erst komplett. Seit 55 Jahren setzt sich insieme für dieses Ziel ein. Aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen zeigen, dass es auch weiterhin viel zu tun gibt. So zum Beispiel bei der Diskussion um die schrankenlose Zulassung der Präimplantationsdiagnostik PID.

Dass Menschen mit einer Behinderung eine Gesellschaft «erst komplett machen» finde ich eine ganz merkwürdige Aussage. Ebenso das oft gebrauchte Wort der «Bereicherung». Warum, habe ich unter dem Titel «Menschen mit Behinderung sind was ganz Besonderes. Nicht.» schon mal erklärt.

Dass man das nichtdestotrotz wichtige Thema «Begegnung» auch mit etwas weniger erdrückendem Bereicherungs-Kitsch und «auf Augenhöhe» darstellen kann, zeigt das Video der Aktion Mensch jedenfalls eindrücklich.