Let’s Talk About Money

Eine halbe Million Schweizer*innen nehmen jedes Jahr eine ambulante psychiatrische Behandlung in Anspruch. 80’000 Menschen werden jährlich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Das Risiko im Leben einmal an einer psychischen Beeinträchtigung zu leiden beträgt 50%. Psychisch zu erkranken ist also relativ «normal». Trotzdem gelten psychische Erkrankungen nicht als Krankheiten wie alle anderen. Zwar scheinen sich während der Corona-Pandemie auch ansonsten unverdächtige Politiker*innen ganz plötzlich um das psychische Befinden der Bevölkerung zu sorgen, allerdings steckt hinter der vermeintlichen Besorgnis über die psychischen Auswirkungen von Corona-bedingten Einschränkungen meist etwas Anderes; nämlich die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen.

Denn wenn die psychische Gesundheit der Bevölkerung – auch ausserhalb einer Pandemie – tatsächlich so ein wichtiges Thema wäre, müsste man das auch daran erkennen, dass die entsprechenden Organisationen für ihre wichtige Aufgabe grosszügige finanzielle Unterstützung erhalten. Politiker*innen wurden in den letzten Jahren zwar nicht müde, darüber zu lamentieren, dass die Zahl der psychisch bedingten IV-Renten immer weiter ansteige, aber niemand kam auf die Idee, mehr finanzielle Mittel für Organisationen zu fordern, die psychisch beeinträchtigte Menschen unterstützen. Irgendwie hoffte man wohl, dass die psychisch Kranken – wenn man nur lange genug über sie schimpfen würde – auf wundersame Weise einfach wieder verschwänden.

Nun, das taten sie nicht. Mittlerweile beziehen rund 100’000 Menschen in der Schweiz aufgrund einer psychischen Erkrankung eine IV-Rente. Damit stellen sie knapp die Hälfte aller IV-Bezüger*innen. Von den 150 Millionen Franken, die das Bundesamt für Sozialversicherungen jedes Jahr aus dem Topf der IV zur Unterstützung an die Behindertenorganisationen verteilt, erhalten die beiden Organisationen, die Menschen mit einer psychischen Erkrankung vertreten, aber mitnichten die Hälfte, sondern nur 5.5 Millionen, was gerade einmal 3,5% der Gesamtsumme entspricht. Ganz anders sehen die Relationen bei den Blindenorganisationen aus: Sie erhalten rund 20 Millionen pro Jahr, obwohl der Anteil der Sehbehinderten unter den IV-Beziehenden bloss gut 1% beträgt. Ähnlich grosszügig werden die Organisationen der Hörbehinderten bedacht: Sie erhalten zusammen knapp 7,5 Mio, obwohl nur 0,5% der IV-Beziehenden eine Hörbehinderung aufweisen.

Diese Vergleiche liessen sich endlos weiterführen. Auch wenn man nicht nur die Zahl der IV-Beziehenden, sondern die Gesamtverteilung einer bestimmten Behinderung oder Erkrankung in der Bevölkerung betrachtet, sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen massiv überrepräsentiert. Ihre Organisationen hingegen sitzen – und dies nicht nur finanziell – am Katzentisch.

Auf Anfrage teilte das Bundesamt für Sozialversicherungen mit, die Verteilung der Finanzhilfen nach Art. 74 IVG sei eben «historisch gewachsen».

Es ist höchste Zeit, dass die Verteilung den aktuellen Gegebenheiten anpasst wird.

. . . . .

Die obige Kolumne habe ich (bereits im Januar) für die aktuelle Ausgabe das halbjährlich erscheinenden Magazins  «Kontext» der Pro Mente Sana geschrieben.

Auf meine Anregung hin hatte die Journalistin Mirjam Fonti die Thematik im April unter dem Titel «IV-Finanzhilfen: Brosamen für psychisch Beeinträchtigte» in der Zeitschrift Saldo aufgenommen.

Ein Auszug aus dem Artikel:

Viele der anderen Organisationen profitieren vom heutigen Zustand und wollen nicht daran rütteln. In der Ver­nehmlassung stellte eine Mehrheit die Geldverteilung nicht in Frage. Der Zen­tralverein für das Blindenwesen er­klärt, man halte den Betrag für ange­messen. Es sei nicht gerecht, sich nur auf die Anzahl der IV-Bezüger abzu­stützen.* Der Dachverband der Behin­dertenorganisationen Inclusion Han­dicap hält fest, es stehe grundsätzlich zu wenig Geld für die Behinderten­organisationen zur Verfügung, sodass Organisationen für psychisch Erkrank­te und andere Behindertengruppen zu kurz kämen.

*Zur Aussage des Zentralvereins für das Blindenwesen ist anzumerken, dass eben dieser Verein 2019 eine 40-seitige Publikation zur Frage «Wie viele sehbehinderte, blinde und hörsehbehinderte Menschen gibt es in der Schweiz?» veröffentlichte, die mit virtuosen Begriffsdefinitionen und ausgeklügelten Rechenspielen (wenn man z.B. auch alle *irgendwie* Sehbehinderten im hohen Alter – also explizit AHV- und keine IV-Beziehenden – dazu rechnet) zu folgendem alarmierendem Fazit kommt:

Das heisst, um den 1. Januar 2029 herum, dürfte die Zahl betroffener Menschen die halbe Million erreichen.

Selbstverständlich geht es in dieser Publikation ganz explizit darum, die Existenz (und den Geldbedarf) er eigenen Organisation zu rechtfertigen und natürlich fände es der Zentralverein für das Blindenwesen dann «nicht gerecht», wenn man zur Verteilung der Gelder ganz profan die Anzahl IV-Beziehender heranziehen würde. Um die aktuelle Verteilung der IV-Gelder (Blindenwesen: 20 Mio., 1% sehbehinderte IV-Beziehende, Organisationen für psychisch Erkrankte: 5,5 Mio., 49% psychisch beeinträchtige IV-Beziehende) als «angemessen» zu bezeichnen, muss man allerdings schon ein bisschen… kurzsichtig sein.

Vielleicht sollten die Organisation, die psychisch beeinträchtige Menschen beraten und vertreten, auch mal eine Studie zum Thema «Altersdepressionen» in Auftrag geben. Könnte bei der «gerechten» Verteilung der Gelder von Vorteil sein.

Unterschiedliche Bilder junger IV-BezügerInnen

Anfang 2014 konstatierte der OECD-Länderbericht Schweiz zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung bei verschiedenen Akteuren (Invalidenversicherung, Arbeitgeber, Psychiatrische Versorgungssysteme, Schulen, ect.) Handlungsbedarf, um psychische Krankheiten früher zu erkennen, die Betroffenen zu unterstützen und so deren Invalidisierung zu vermeiden. Der Fokus der Medien lag bei der Berichterstattung dann aber vor allem auf den «falschen finanziellen Anreizen» für junge IV-BezügerInnen. «20 Minuten» titelte beispielsweise «IV-Rente lohnt sich mehr als Arbeit»Unterstrichen wurde die Aussage im Titel mit einem Bild feiernder Jugendlicher:
20minbotellon

Eine Beschwerde beim Presserat, welche diese Darstellung als «diskriminierend» beklagte, wurde abgewiesen. Als «Argument» diente die Verteidigung der Tamedia:

Das verwendete Bild wolle in gewissem Masse provozieren, indem es auf die «Nullbockjugend» hinweise, die lieber feiere als arbeite. Dieses Bild sei aufgrund des Titels, dass eine IV-Rente sich mehr lohne als Arbeit, ausgewählt worden. Eine diskriminierende Aussage gegenüber psychisch kranken IV-Rentnern könne «20 Minuten» nicht vorgeworfen werden.

Der Presserat setzte dann noch obendrauf: «Da sich dieses Bild nicht auf psychisch kranke IV-Rentner bezieht, kann Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung» gar nicht zur Anwendung kommen.»

Jede/r 20 Minuten-LeserIn hat sich damals natürlich gleich gedacht: Das Bild stellt eine eigenständige gesellschaftskritische Aussage zur «Nullbockjugend» dar und illustriert nicht etwa das Thema des Artikels (psychisch kranke Jugendliche). Weil Bilder in Zeitungen haben ja ganz grundsätzlich nie etwas mit dem Inhalt des jeweiligen Artikels zu tun. Weiss doch jeder!

Es wäre sehr interessant, zu erfahren, wie der Presserat entschieden hätte, wenn ein Artikel mit der Überschrift «IV-Rente lohnt sich mehr als Arbeit» mit einem der folgenden Fotos illustriert worden wäre (Bildquelle: laviva.ch – Laviva veranstaltet an verschiedenen Orten in der Schweiz regelmässig Partys für Menschen mit Behinderung):
Lavivabernjuni2015lavivarolli

Allerdings würde es wohl keiner Zeitungsredaktion je einfallen, solche Bilder von jungen Menschen mit einer (sichtbaren) geistigen oder körperlichen Behinderung unter der Überschrift der «sich lohnenden IV-Rente» zu zeigen und damit zu implizieren, dass die Betroffenen – auf Kosten der Allgemeinheit – «lieber feiern statt zu arbeiten». Die Empörung der entsprechenden Organisiationen wäre garantiert. Und die des Volkes Internetmobs auch.

Das mediale Bild, welches (mit tatkräftiger Unterstützung der entsprechenden Organisationen im Hintergrund) von Menschen vor allem mit geistiger Behinderung gezeichnet wird, ist nämlich das der Arbeitssamen (z.B. üsi Badi/üse Zoo) und Ausbildungswilligen (z.B. Simons Weg). Die Betroffenen wurden auch medienwirksam an die vorderste Front gestellt, als im September 2011 die Petition «Berufsbildung für alle» mit über 100’000 Unterschriften der Bundeskanzlei übergeben wurde:

Petition

Bildquelle: procap.ch

Die Petition wandte sich gegen das «herzlose» BSV, welches ein zweites Ausbildungsjahr für beeinträchtigte Jugendliche im geschützten Rahmen nur noch dann bewilligen wollte, wenn Aussicht darauf besteht, dass die Betroffenen danach im ersten Arbeitsmarkt tätig sein und ein zumindest rentenreduzierendes Einkommen generieren können (In einer geschützten Werkstätte ist es praktisch unmöglich, ein rentenbeeinflussendes Einkommen zu erzielen).

Unterschriftensammlung sowie die Übergabe der Petitionsbögen waren so herzerwärmend inszeniert (auch die Tagesschau berichtete), dass niemand auf die bösartige Idee kam, nachzufragen, wie hoch denn die Eingliederungschancen in den ersten Arbeitsmarkt nach einer Ausbildung im geschützten Rahmen ganz generell sind (sehr tief), was so ein Ausbildungsjahr eigentlich kostet (ca. 100’000.-) und wieviel durch die Massnahme gespart werden soll (50 Mio/Jahr – because: defizitäre Invalidenversicherung, wir erinnern uns…?).

Auch Nationalrat Christian Lohr spricht in seinem entsprechenden parlamentarischen Postulat (rechtliche Prüfung der neuen IV-Praxis) nicht von Zahlen, sondern von

Jugendlichen, die stärker beeinträchtigt sind und keine Chancen für einen Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt haben. Es geht also konkret um junge Menschen, die bereit sind, trotz ihrer Beeinträchtigung Arbeit zu leisten und sich in unsere Gesellschaft einzubringen.

Die überwältigende Mehrheit des Parlaments (inkl. SVP) war so hingerissen von den «jungen arbeitswilligen Menschen», (oder vom Lobbying von Insieme, Procap und Cerebral) dass sie dem Postulat von Lohr, sowie demjenigen von CVP-NR Christine Bulliard-Marbach (Mitglied des Zentralvorstandes von Insieme) zum selben Thema letzten Sommer gegen den Willen des Bundesrats zustimmte. Einzig FDP und Grünliberale machten wohl eine nüchterne Kosten/Nutzen-Analyse (Defizitäre Invalidenversicherung; wir erinnern uns) und stimmten dagegen. Das war dann immerhin parteipolitisch konsequent. Bei SVP und einigen Vertretern der CVP würde man gerne nachfragen: Hat der übliche pawlowsche Reflex (Fehlanreize! Sparen!) versagt, weil der Ausdruck «Junge IV-BezügerInnen» nicht fiel? Weil man nämlich nur bei den (bösen) IV-Bezügern spart, aber doch nicht bei (guten) netten Behinderten (man ist ja schliesslich kein Unmensch!)?

Denn bei diesen «jungen Menschen» handelt es sich natürlich auch um (zukünftige) IV-BezügerInnen. Zur Erinnerung – (siehe oben) das sind die, für die sich Arbeiten nicht lohnt, wegen der zu hohen IV-Rente. Denen muss man eigentlich nur die IV-Rente kürzen, dann erhöht sich wegen der «Anreize» deren Arbeits(markt)fähigkeit und sie können im ersten Arbeitsmarkt genug verdienen.

Ach so, das sind andere jungen IV-BezügerInnen. Die mit den Geburtsgebrechen können ja nichts für ihre Behinderung.

(…???)

Bevor sich jemand ärgert: es geht mir hier explizit nicht darum, stark beeinträchtigten Jugendlichen das Recht auf eine längere Ausbildung abzusprechen. Ich möchte nur die komplett unterschiedliche Darstellung und Wahrnehmung von jungen Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen aufzeigen. Diese kommt nämlich nicht von ungefähr, sondern ist auch eine direkte Folge davon, dass beispielsweise die Elternvereinigung geistig behinderter Kinder Insieme (BSV-Beitrag: 11 Mio/Jahr) eine (vorbildlich!) professionelle (und sehr politische) Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Von der Pro… wie hiess die gleich nochmal…?  ah ja… Pro Mente Sana (BSV-Beitrag: 2 Mio/Jahr) hingegegen hat man in Sachen Ausbildung/berufliche Integration von Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren öffentlich so rein gar nichts gehört. Lobbying (und wieviel Geld dafür zur Verfügung steht) hat eben Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung, Berichterstattung und Politik. Fehlendes Lobbying genauso.

Zum Thema «Wahrnehmung» noch ein Comic von erzählmirnix, den die Urheberin gemeinsam mit der Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom konzipiert hat:

down

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Kampagne «Wie geht’s dir?»

Als am 10. Oktober die Kampagne «Wie geht’s dir?» gegen das Schweigen über psychische Krankheiten lanciert wurde, hatte ich dazu drei Gedanken:

1. Endlich! (Da wurde jetzt lange genug drauf gewartet)
2. bieder solide Könnte schlimmer sein.
3. Dieser schrecklich gestaltete gelbe Button: War das der Schnupperstift?!

Bild 2

Bild 5

Bild 4

Bild 3

Mittlerweile sind mir die Sujets schon mehrfach auf der Webseite des Tagesanzeigers als Einblender-Werbung begegnet. Und das finde ich gut. Gescheite Nutzung der neuen Medien bei etwas, wo Pro Mente Sana involviert ist. Das lässt hoffen. Auch wenn die Medienarbeit ansonsten eher diskret zu sein scheint; die Zuger Kampagne mit den sprechenden Mülleimern hatte im August 2013 jedenfalls ein deutlich breiteres Echo ausgelöst.

Immerhin erschien in der Limmattaler Zeitung ein lesenswertes Interview mit dem Psychiater Wulf Rössler unter dem Titel «Wir sind alle schizophren» Rössler sagt darin:

Ich hätte deshalb gerne mal eine Kampagne gemacht mit dem Titel: Wir sind alle schizophren.

Warum?

Im Prinzip gibt es kein psychiatrisches Symptom, das wir nicht alle kennen. Wir können also nicht so tun, als hätte dies alles nichts mit uns zu tun. Wenn wir auf andere zeigen, dann schauen immer auch einige Finger auf uns zurück.

(…)

Wie kann man Stigmatisierungen von psychisch kranken Menschen konkret vorbeugen?

Indem man sich die wichtige Erkenntnis vor Augen hält: Das könnte mir auch passieren. Und: Das, was diese Person durchmacht, kenne ich auch — wenn auch vielleicht in einem eher schwächeren Ausmass. Es geht also darum, nicht die Unterscheidung zu machen zwischen denen und uns. Zudem kennt fast jeder von uns — wenn man nicht gar selber betroffen ist — eine Person in seinem Umfeld, der ein psychiatrisches Problem hat. Es geht also auch darum, der Verleugnung von psychischen Erkrankungen entgegenzutreten.

Auch die NZZ berichtete über die Kampagne, konstatierte allerdings etwas herablassend: «Was sie als national deklarieren, ist zumindest vorläufig eher eine regionale Angelegenheit. Neben Zürich beteiligen sich zwar auch noch die Kantone Schwyz, Luzern und Bern, grossräumig sichtbar sein wird die Kampagne aber vor allem in Zürich und Schwyz.» Dass die Schwierigkeiten bei der Finanzierung auch dazu geführt haben, dass es so lange dauerte, bis zu dieses wichtigem Thema überhaupt einmal eine Kampagne zustande gekommen ist, lässt die NZZ unter den Tisch fallen.

Zur Geltung kommt diese Problematik hingegen auch an folgender Stelle auf der Webseite: «Die Broschüre kann für Fr. 2.- pro Exemplar (zuzüglich Versandkosten) mit unten stehendem Formular bestellt werden. Bestellungen aus den Kantonen Schwyz und Luzern sind kostenlos. Bestellungen bis zu 20 Ex. aus dem Kanton Zürich ebenfalls». Kantönligeist at its best.

Immerhin, die Informationsbroschüre im PDF-Format darf aus allen Kantonen gratis heruntergeladen werden. Und die Informationen zu vielen wichtigen Themen auf der Webseite (z.B. «Kinder psychisch erkrankter Eltern», «Therapiemethoden» oder «Gesprächstipps für das Umfeld») sind verdankenswerterweise auch aus allen Kantonen zugänglich.

Es wäre deshalb erfreulich, wenn sich am weiteren Verlauf der Kampagne (geplant sind 3 Jahre, mit verschiedenen Themenschwerpunkten) auch weitere Kantone nicht nur ideell, sondern auch finanziell beteiligen würden. Die Kosten, die psychische Krankheiten in der Schweiz jährlich verursachen, liegen nämlich bei rund 19 Milliarden Franken. Da sollte einem Prävention und Aufklärung vielleicht auch mal ein bisschen was wert sein.

Presseschau zum OECD Länderbericht Schweiz zur psychischen Gesundheit & Arbeit

Ich wollte mit dem Schreiben dieses Artikels eigentlich warten, bis sich die Pro Mente Sana zum OECD-Bericht Länderbericht Schweiz zur psychischen Gesundheit und Arbeit geäussert hat. Pro Mente Sana – Sie wissen schon, die Organisation, die sich laut ihrem Leitbild als «Sprachrohr für die Anliegen und Bedürfnisse psychisch erkrankter und behinderter Menschen» sieht. Ein Sprachrohr, das einen Bericht auf dem Silbertablett serviert bekommt und sich vier Wochen später immer noch in ausgiebiges Schweigen hüllt, hat dann aber vielleicht doch nicht ganz verstanden, was es mit der Funktion eines Sprachrohrs genau auf sich hat.

Der Arbeitgeberverband hingegen machte es lehrbuchmässig vor. Bereits kurz nach der Medienkonferenz zum OECD-Bericht nutzte er ebendiesen als Schützenhilfe in eigener Sache und publizierte auf seiner Website folgendes: «Der Schweizerische Arbeitgeberverband will die mehrheitsfähigen Massnahmen der gescheiterten IV-Revision 6b schnellstmöglich umsetzen. Sukkurs erhält er nun auch von der OECD. Laut der Organisation sah 6b wichtige Massnahmen für den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit und die Integration psychisch handicapierter Menschen vor. Viele Arbeitgeber engagieren sich diesbezüglich bereits – alleine können sie die zunehmenden Herausforderungen aber nicht meistern. Die erforderlichen Massnahmen müssen daher rasch umgesetzt werden(…)»

Diese Stellungsnahme des Arbeitgeberverbandes floss dann auch in die offizielle SDA-Meldung zur OECD-Studie ein.

So macht man das, liebe Pro Mente Sana. Wer die entsprechende Diskussion in den Medien mitprägen will, sollte sich vielleicht einigermassen zeitnah äussern, sonst findet die Diskussion nämlich ohne einem statt. Und wohin das dann führt, sahen wir mal wieder exemplarisch. Doch der Reihe nach. Die ersten Berichte zur OECD-Studie hangelten sich grösstenteils der SDA-Meldung entlang, so dass sogar der Artikel im Blick für einmal nicht reisserisch, sondern wohltuend neutral wirkte. Auch der Artikel «Die Schweiz tut zu wenig» des NZZ-Journalisten Michael Schönenberger liest sich wie ein Stenogramm der Medienkonferenz. Nüchtern, aber auch erstaunlich ausgewogen, sogar der aus der Schönenbergerschen Feder oft zu vernehmende «Falsche Anreize!»-Unterton war für einmal eher dezent: «Prinz betonte – auch mit Blick auf Jugendliche in der IV –, die IV-Renten inklusive Ergänzungsleistungen seien zu hoch. Sie hemmten die Arbeitsaufnahme».

Nichtsdestotrotz war das natürlich exakt das Stichwort, auf das sich die Medien – mit einiger Verspätung – schliesslich stürzten. Da kann der Mitautor der Studie, Niklas Baer, im Interview mit der Basler Zeitung die ganze Situation und die Rollen der unterschiedlichen Akteure durchaus differenziert darlegen, der Titel lautet dann doch: «Einmal IV-Rente, immer IV-Rente» oder beim Tagesanzeiger «Junge beziehen immer häufiger eine IV-Rente». Und 20Minuten macht dann folgendes daraus:

20minbotellonUnd mit dem Foto eines Botellóns als Bebilderung wären wir dann wieder da, wo wir schon immer waren: Faule IV-Bezüger, die lieber Partys feiern, statt zu arbeiten. Und alle anderen Akteure wie IV-Stellen, Ausbildungsstätten, Arbeitgeber, Sozialhilfe und RAV, bei denen der OECD-Bericht auch einen gewissen Handlungsbedarf sieht, sind mal wieder fein raus. Mehr noch: Deren Vertreter nutzen die Gelegenheit geschickt für Werbung in eigener Sache, siehe der Arbeitgeberverband weiter oben oder auch Markus Krämer, Geschäftsleiter des Appisberg (welcher geschützte Ausbildungsplätze für Jugendliche mit psychischen Problemen anbietet) im Tagesanzeiger (linke Spalte): «Sie [die IV] hat in den letzten Jahren aufgrund des Spardrucks alle Karten auf den ersten Arbeitsmarkt gesetzt, in dem junge Menschen mit psychischen Problemen oder Lerneinschränkungen überfordert sind und scheitern.»

Die Frage, warum die Ausbildungen im sogenannt geschützten Rahmen betroffene Jugendliche nur so selten befähigen, sich genügend – auch persönliche – Kompetenzen anzueignen, um im freien Arbeitsmarkt – womöglich auch mit einer Teilrente – tätig sein zu können, wird dabei nicht gestellt.

20Minuten beispielsweise richtet lieber suggestive Fragen à la «Hast du gegenüber der Gesellschaft ein schlechtes Gewissen, dass du IV beziehst?» an die junge IV-Bezügerin «Anita Stadler».

Verdankenswerterweise hat Markus Brotschi vom Tagesanzeiger mit dem tiefergehenden Portrait  «Es hiess: Nicht eingliederungsfähig» des an ADHS leidenden Marcel H. den Betroffenen auch noch auf nicht boulevardeske Weise Gehör verschafft.

Immerhin… Betroffene kamen zu Wort. Allerdings verfügen sie natürlich nicht über eine «Kommunikationsabteilung» die ihre Anliegen wie diejenigen der anderen Akteure «ins beste Licht rückt». Bände spricht zudem auch, dass sowohl beim Interview mit der IV-Bezügerin «Anita Stadler» im 20Minuten, sowie bei jenem mit «Marcel H.» im Tagesanzeiger die Namen wie auch die Fotos zum Schutze der Betroffenen anonymisiert wurden. (Dieses sehr deutliche Zeichen der Stigmatisierung habe ich anhand eines früheren Berichtes des Schweizer Fernsehens über die Arbeitsintegration von psychisch Kranken schon mal thematisiert).

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Eigentlich wäre es die Aufgabe des «Sprachrohrs der psychisch Erkrankten» die Geschichten der einzelnen Betroffenen in einen grösseren Gesamtzusammenhang einzuordnen, dazu auch Studienergebnisse anzufügen, wie beispielsweise jenes der Arbeitgeberbefragung der Universität St. Gallen, die aufzeigt, dass kaum mehr als 3% der Arbeitgeber bereit wären, Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung in ihrem Betrieb auszubilden. And so on… wie gesagt…  das Sprachrohr sollte das eigentlich machen…

Wenn eben dieses Sprachrohr aka Pro Mente Sana sich nicht gerade in ausgiebigem Winterschlaf Schweigen üben würde.

Würde sich die PMS da mal ein bisschen engagieren, kämen wir vielleicht eins Tages noch dahin, dass Artikel zum Thema Arbeit und psychische Erkrankung in den Medien nicht mehr von verschämten anonymsierten Fotos begleitet werden müssten, sondern die Thematik mit einem wesentlich grösserem Selbstbewusstsein vermittelt werden könnte, wie es beispielsweise die britische Kampagne TimetoChange aktuell vormacht:

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Kann vielleicht mal jemand einen grossen Wecker an der Hardturmstrasse vorbeibringen?

Mens aegra in corpore sano

Von klein auf lernen wir, uns die Zähne zu putzen (und brav regelmässig zur zahnärztlichen Kontrolle zu gehen), was gesunde Ernährung ist (Wenig Zucker! Viel Gemüse!), dass wir uns sportlich betätigen sollen, nicht rauchen, einen Velohelm tragen und Sicherheitsgurten im Auto sowieso. Die Liste liesse sich noch endlos fortsetzen, zusammengefasst lautet das gesellschaftlich tief verankerte Mantra: Körperliche Unversehrtheit ist ein hohes Gut, das bis ins hohe Alter gepflegt und erhalten werden soll.

Angesichts der Tatsache, dass ungefähr 50% der Arbeitsabsenzen und (allen Verschärfungsmassnahmen in diesem Bereich zum trotz) im Jahr 2012 bereits 43% aller IV-Neurenten auf psychische Erkrankungen zurückzuführen sind, scheint die Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit der physischen bedenklich hinterherzuhinken. Oder eher mehr: Kaum vorhanden zu sein. Unsere Gesellschaft ist zwar körperlich «gesund» wie nie zuvor, aber psychisch offenbar etwas ziemlich angeschlagen. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz zum grossen Teil nach wie vor etwa so aussieht:

Die drei Affen 01

Natürlich gibt es viele ökologische Nischenreservate in denen sich fleissig um Aufklärung, Antistigmatisierung und Prävention im Bereich der psychischen Gesundheit gekümmert wird. In den letzten Jahren entstanden beispielsweise in diversen Kantonen Depressionsbündnisse. Oder auch das schweizweite Netzwerk psychische Gesundheit. Netzwerk… wie gleich nochmal….? Nie gehört. Und was die Pro Mente Sana konkret so macht? «Ähem…»

«Ähem…» trifft wahrscheinlich in etwa die Antwort des Durchschnittsschweizers, der Durchschnittsschweizerin, wohingegen beispielsweise mit dem Stichwort «Aidshilfe» mit Sicherheit diverse Plakatkampagnen und Slogans in Verbindung gebracht werden dürften. Gut erinnerbare Slogans sind natürlich nicht der einzige Gradmesser einer erfolgreichen Tätigkeit einer Organisation. Ein in vielen Köpfen verankertes «Ohne Dings kein Bums» dürfte allerdings durchaus eine gewisse (Aids)präventive Wirkung haben.

Nun kann man natürlich einwenden: Aber bei den psychischen Erkrankungen ist das alles vielvielviel komplizierter und da kann man nicht so offensive Kampagnen und überhaupt… Genau darüber (wie und warum und wie ganz sicher nicht) zerbricht sich seit Jahren eine Expertengruppe den Kopf (Entsprechendes Arbeitspapier Entstigmatisierung als PDF) Und wenn sie nicht gestorben sind, dann denken sie in 100 Jahren noch darüber nach. Man hört munkeln, mit einer schweizweiten Kampagne unter Federführung der Pro Mente Sana soll es bald soweit sein. Man darf hoffen, dass die Kampagne besser wird, als die ziemlich tristen Plakate der Pro Mente Sana zum Tag der psychischen Gesundheit 2010.

Und wo wir grad bei trist sind: Es wäre sehr zu wünschen, wenn die Website der Pro Mente Sana (allerspätestens) im Rahmen dieser Kampagne auch gleich rundumerneuert wird und nicht mehr aussieht wie: «Wir mussten halt eine Website haben, weil man das jetzt halt so macht in diesem Internet». Und auch wenn man als Organisation «die Interessen von Menschen mit psychischen Erkrankungen vertritt» sollte der eigene Internetauftritt nicht bei jedem Besucher gleich eine mittelschwere reaktive Depression und den dringenden Wunsch die Seite so schnell wie möglich wieder verlassen, auslösen.

(Bei einer Neugestaltung vielleicht ein bisschen von der gestalterischen Leichtigkeit vom Webauftritt von Insieme inspirieren lassen? Einfach nicht den Webdesigner von den Kollegen vom Netzwerk psychische Gesundheit engagieren. Wer einer Schweizer Organisation im Sozialbereich einen amerikanischen Look mit glossy Buttons verpasst, hält es offenbar nicht für nötig, sich mit den kulturellen Codes der Zielgruppe auseinanderzusetzen. Sensibles und passgenaues Ausrichten auf die Bedürfnisse eines Auftraggebers sieht anders aus.)

Der abweisende Charakter der Webseite der Pro Mente Sana ist allerdings nicht nur designmässig sondern auch inhaltlichzu spüren. Web 2.0, Twitter, Facebook oder Communityaufbau scheinen grosse Unbekannte aus fernen Galaxien zu sein. Nicht mal die Newssektion wird wirklich ernsthaft gepflegt. Dort wäre beispielsweise eine Erwähnung der im Juni erschienenen Obsan-Studie zu Depressionen (inkl. kurze Zusammenfassung und Link zur Studie) eine nette Dienstleitung für den interessierten Leser.

Oder auch jeweils zwei oder drei Artikel aus dem wirklich immer gut und sorgfältig zusammengstellten Print-Magazin PMS aktuell als Leseprobe. Online. So dass man sie in einem Blog verlinken oder auf Twitter empfehlen kann, und sie so auch mal einem interessierten Publikum zugänglich machen kann, das nicht mal eben eine Zeitschrift mit Schwerpunkt psychische Erkrankungen abonnieren würde. Das wäre auch auch eine Form von Barrierefreiheit.

Aber unter Barrierefreiheit versteht man bei der PMS ja eher mehr folgendes: «Die Power-Point-Präsentationen der übrigen Referate können wegen der Barrierefreiheit unserer Homepage nicht auf die Website geladen werden. Sie können aber bei uns bestellt werden: kontakt@promentesana.ch oder Telefon 044 563 86 00» – Weil sie nicht barrierefrei sind, bauen wir einfach gerechterweise Barrieren für jeden ein, der die Dokumente haben will. (…?)

Überholtes Design, fehlende Usability, Texte aus dem eignen Magazin nur Printabonnenten zugänglich machen, keine Vernetzung mit Social Media… Und Einladungen an die Presse für die Jahrestagung (heuer mit dem wichtigen Thema «Kinder psychisch kranker Eltern» gibt’s wahrscheinlich auch nicht. Und entsprechende auf der Website verfügbare Medienmitteilungen im Nachhinein… ach wo denken wir hin…

Es ist mir ehrlich gesagt komplett unverständlich, warum der Online-Auftritt (und somit ein entscheidendes Mittel der Öffentlichkeitsarbeit) einer Organisation, die sich um DAS gesundheitspolitisch relevante Thema* unserer Zeit kümmert kümmern soll, daherkommt, wie derjenige eines Häkelvereins aus dem Hinterwallis. Und die Informationen offenbar nur einem streng kontrollierten exklusiven Publikum (Magazinabonnenten, Fachleute) in der Art einer Geheimgesellschaft zugänglich gemacht werden.

*50% der Bevölkerung erkranken in ihrem Leben einmal psychisch. Psychische Erkankungen stellen wie oben gesagt, fast 50% der Neurenten und Absenzen, nicht zu vergessen, der bei psychischen Krankheiten stark verbreitete Präsentismus ect. ect. ect.  Das alles verursacht neben dem persönlichen Leid der Betroffenen nicht zuletzt auch enorme volkswirtschaftliche Kosten.

Wenn der Umgang mit psychischen Erkrankungen sowie deren Prävention so selbstverständlich werden soll, wie das tägliche Zähneputzen, müssen Informationen dazu für jedermann leicht und niederschwellig zugänglich sein. Das ist im Moment auf der Webseite von Pro Mente Sana überhaupt nicht der Fall (Von komplett fehlenden Inhalten wie beispielsweise «Wie gehe ich mit der psychischen Krankheit eines Angehörgen um?»  oder «Wie erkläre ich als psychisch kranke Mutter meinem Kind kindgrecht die Krankheit?» ect. ganz zu schweigen.)