Eine halbe Million Schweizer*innen nehmen jedes Jahr eine ambulante psychiatrische Behandlung in Anspruch. 80’000 Menschen werden jährlich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Das Risiko im Leben einmal an einer psychischen Beeinträchtigung zu leiden beträgt 50%. Psychisch zu erkranken ist also relativ «normal». Trotzdem gelten psychische Erkrankungen nicht als Krankheiten wie alle anderen. Zwar scheinen sich während der Corona-Pandemie auch ansonsten unverdächtige Politiker*innen ganz plötzlich um das psychische Befinden der Bevölkerung zu sorgen, allerdings steckt hinter der vermeintlichen Besorgnis über die psychischen Auswirkungen von Corona-bedingten Einschränkungen meist etwas Anderes; nämlich die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen.
Denn wenn die psychische Gesundheit der Bevölkerung – auch ausserhalb einer Pandemie – tatsächlich so ein wichtiges Thema wäre, müsste man das auch daran erkennen, dass die entsprechenden Organisationen für ihre wichtige Aufgabe grosszügige finanzielle Unterstützung erhalten. Politiker*innen wurden in den letzten Jahren zwar nicht müde, darüber zu lamentieren, dass die Zahl der psychisch bedingten IV-Renten immer weiter ansteige, aber niemand kam auf die Idee, mehr finanzielle Mittel für Organisationen zu fordern, die psychisch beeinträchtigte Menschen unterstützen. Irgendwie hoffte man wohl, dass die psychisch Kranken – wenn man nur lange genug über sie schimpfen würde – auf wundersame Weise einfach wieder verschwänden.
Nun, das taten sie nicht. Mittlerweile beziehen rund 100’000 Menschen in der Schweiz aufgrund einer psychischen Erkrankung eine IV-Rente. Damit stellen sie knapp die Hälfte aller IV-Bezüger*innen. Von den 150 Millionen Franken, die das Bundesamt für Sozialversicherungen jedes Jahr aus dem Topf der IV zur Unterstützung an die Behindertenorganisationen verteilt, erhalten die beiden Organisationen, die Menschen mit einer psychischen Erkrankung vertreten, aber mitnichten die Hälfte, sondern nur 5.5 Millionen, was gerade einmal 3,5% der Gesamtsumme entspricht. Ganz anders sehen die Relationen bei den Blindenorganisationen aus: Sie erhalten rund 20 Millionen pro Jahr, obwohl der Anteil der Sehbehinderten unter den IV-Beziehenden bloss gut 1% beträgt. Ähnlich grosszügig werden die Organisationen der Hörbehinderten bedacht: Sie erhalten zusammen knapp 7,5 Mio, obwohl nur 0,5% der IV-Beziehenden eine Hörbehinderung aufweisen.
Diese Vergleiche liessen sich endlos weiterführen. Auch wenn man nicht nur die Zahl der IV-Beziehenden, sondern die Gesamtverteilung einer bestimmten Behinderung oder Erkrankung in der Bevölkerung betrachtet, sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen massiv überrepräsentiert. Ihre Organisationen hingegen sitzen – und dies nicht nur finanziell – am Katzentisch.
Auf Anfrage teilte das Bundesamt für Sozialversicherungen mit, die Verteilung der Finanzhilfen nach Art. 74 IVG sei eben «historisch gewachsen».
Es ist höchste Zeit, dass die Verteilung den aktuellen Gegebenheiten anpasst wird.
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Die obige Kolumne habe ich (bereits im Januar) für die aktuelle Ausgabe das halbjährlich erscheinenden Magazins «Kontext» der Pro Mente Sana geschrieben.
Auf meine Anregung hin hatte die Journalistin Mirjam Fonti die Thematik im April unter dem Titel «IV-Finanzhilfen: Brosamen für psychisch Beeinträchtigte» in der Zeitschrift Saldo aufgenommen.
Ein Auszug aus dem Artikel:
Viele der anderen Organisationen profitieren vom heutigen Zustand und wollen nicht daran rütteln. In der Vernehmlassung stellte eine Mehrheit die Geldverteilung nicht in Frage. Der Zentralverein für das Blindenwesen erklärt, man halte den Betrag für angemessen. Es sei nicht gerecht, sich nur auf die Anzahl der IV-Bezüger abzustützen.* Der Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap hält fest, es stehe grundsätzlich zu wenig Geld für die Behindertenorganisationen zur Verfügung, sodass Organisationen für psychisch Erkrankte und andere Behindertengruppen zu kurz kämen.
*Zur Aussage des Zentralvereins für das Blindenwesen ist anzumerken, dass eben dieser Verein 2019 eine 40-seitige Publikation zur Frage «Wie viele sehbehinderte, blinde und hörsehbehinderte Menschen gibt es in der Schweiz?» veröffentlichte, die mit virtuosen Begriffsdefinitionen und ausgeklügelten Rechenspielen (wenn man z.B. auch alle *irgendwie* Sehbehinderten im hohen Alter – also explizit AHV- und keine IV-Beziehenden – dazu rechnet) zu folgendem alarmierendem Fazit kommt:
Das heisst, um den 1. Januar 2029 herum, dürfte die Zahl betroffener Menschen die halbe Million erreichen.
Selbstverständlich geht es in dieser Publikation ganz explizit darum, die Existenz (und den Geldbedarf) er eigenen Organisation zu rechtfertigen und natürlich fände es der Zentralverein für das Blindenwesen dann «nicht gerecht», wenn man zur Verteilung der Gelder ganz profan die Anzahl IV-Beziehender heranziehen würde. Um die aktuelle Verteilung der IV-Gelder (Blindenwesen: 20 Mio., 1% sehbehinderte IV-Beziehende, Organisationen für psychisch Erkrankte: 5,5 Mio., 49% psychisch beeinträchtige IV-Beziehende) als «angemessen» zu bezeichnen, muss man allerdings schon ein bisschen… kurzsichtig sein.
Vielleicht sollten die Organisation, die psychisch beeinträchtige Menschen beraten und vertreten, auch mal eine Studie zum Thema «Altersdepressionen» in Auftrag geben. Könnte bei der «gerechten» Verteilung der Gelder von Vorteil sein.