«Die Debatte über Missbrauch ist älter als die Sozialversicherungen selbst.»

Philipp Sarasin hat mir für «Geschichte der Gegenwart» ein paar Fragen gestellt. Im Gespräch geht es um das neue Observationsgesetz, wie mit der Empörung über Missbrauch Politik gemacht wird und um die weit zurückreichende Vorgeschichte. Ein Auszug:

Die Debatte über Miss­brauch ist effektiv älter als die Inva­li­den­ver­si­che­rung selbst. Bereits vor der Einfüh­rung der IV 1960 wurde befürchtet, dass eine Versi­che­rung gegen Inva­li­dität falsche Anreize setze, weil Menschen mit einer Behin­de­rung sich nicht mehr genü­gend bemühen würden, sich ins Arbeits­leben einzu­glie­dern. Solche Über­le­gungen waren mit ein Grund, warum die Vorlage für die Inva­li­den­ver­si­che­rung erst mehr als ein Jahr­zehnt nach der AHV umge­setzt wurde. Diskus­sionen um miss­bräuch­li­chen Leis­tungs­bezug wurden seither immer wieder geführt. Einmal stand die Verwal­tung im Fokus, ein andermal die Ärzte und oft natür­lich die Betrof­fenen selbst. Bereits in den 70er Jahren wurde verun­fallten Auslän­dern unter­stellt, sie würden nach Zuspre­chung einer Suva- oder IV-Rente lieber in ihre Heimat zurück­kehren, statt im fremden Land eine ange­passte Tätig­keit aufzu­nehmen.*

Die SVP fasste schliess­lich ab 2003 die voran­ge­gan­genen Debatten zusammen und atta­ckierte (fast) alle invol­vierten Akteure mit bisher unbe­kannter Schärfe. Der Schwer­punkt lag zudem auf so genannt «unklaren» Erkran­kungen, da die Zahl der Renten aus psychi­schen Gründen in den 90er Jahren markant zuge­nommen hatte. Die Trenn­linie zwischen unsicht­baren Erkran­kungen und miss­bräuch­li­chem Leis­tungs­bezug wurde in der Debatte bewusst flie­send gehalten. Dahinter steckte das Kalkül, bestimmte Krank­heits­gruppen von Versi­che­rungs­leis­tungen ausschliessen zu können.

Das ganze Interview: «Die Debatte über Missbrauch ist älter als die Sozialversicherungen selbst.»

. . . . .

*Dazu weiterführend: Alan Canoncia: Missbrauch und Reform: Dimensionen und Funktionen der Missbrauchsdebatten in der schweizerischen Invalidenversicherung aus historischer Perspektive. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit, Heft 12 (2013), S. 24-37.

IV-Stelle Luzern: 55% Misserfolgsquote bei der Eingliederung

Es gibt Themen, von denen ich dachte, dazu müsse ich nun wirklich nicht nochmal was schreiben, weil die Sache endgültig gegessen ist. Sensationslüsterne Kommunikation zur IV-Betrugsbekämpfung war ist so ein Thema. Natürlich ist aber meine obige Artikelüberschrift nicht die Überschrift, die sich die PR-Berater für die Medienmitteilung zum kürzlich veröffentlichten Jahresbericht 2014 der IV-Stelle Luzern ausgedacht haben. Man setzt vielmehr auf Altbewährtes: «IV Luzern bekämpft Versicherungsmissbrauch». Und was ich bereits am 6. Januar 2014 unter dem Titel «Kommunikation des Luzerner IV-Direktors: Was kümmern uns die Details…» schrieb, hat nichts an Aktualität eigebüsst:

Donald Locher ist IV-Direktor in Luzern. Er redet ausgesprochen gerne über IV-Missbrauch. Vorzugsweise in der lokalen Presse, die das Ganze regelmässig prominent und mit knackigen Headlines (Motto: «Je Betrüger umso besser») an die Leserschaft bringt.

Nun, eineinhalb Jahre später, übertitelt das Lokalblatt zentral+ das ausführliche Interview mit Donald Locher mit: «IV-Detektive filmen IV-Betrüger beim Veloklau».

Genüsslich zelebriert Locher darin IV-Räubergeschichten, erzählt über anonyme Meldungen an die IV-Stelle und auch nicht ganz so anonyme:

Auch haben mich schon Bekannte direkt angerufen und etwa gesagt, wir sollten doch mal bei ihrem Nachbarn reinschauen.

Und Locher sagt auch, wieviel Geld man beim CSI-Luzern in die Verbrecherjagd investiert:

Wir haben für unsere externen Detektive ein Budget von 100’000 Franken. Unsere eigene Abteilung kostet zusätzlich rund 350’000 Franken [Anmerkung: Dort arbeiten 4 Personen]. Insgesamt belaufen sich die Kosten also auf knapp eine halbe Million.

Daraus resultierte im Kanton Luzern im Jahr 2014 die Aufdeckung von 18 Fällen von IV-Missbrauch (Als Relation: In Luzern beziehen aktuell rund 10’000 Menschen eine IV-Rente).

Der absolute Medien-Knüller ist aber natürlich, dass Luzern als (soweit ich weiss) bisher einzige IV-Stelle im Jahresbericht die Missbrauchsfälle zum einen nach Schweizern/Ausländern getrennt aufführt, zum andern die Nationalitäten jedes einzelnen Falles preisgibt. Und damit nicht genug; bei den Schweizern wird auch noch nach «reinrassigen» und solchen «mit Migrationshintergrund» unterschieden:

bvm_luzernBildquelle: Jahresbericht 2014 der IV-Stelle Luzern

Die Frage dazu ist einfach; Was «bringt» die Veröffentlichung dieser Informationen nun genau? Zuerst mal knackige Medien-Auftritte und Applaus aus der rechten Ecke für Herrn Locher. Das war bei der medialen Lancierung der von Medizinern vielkritisierten «Hirnstrommessungen» Anfang Januar 2014 nicht anders. Der aktuelle Jahresbericht sagt dazu übrigens:

Nach einer umfassenden Evaluation am Ende der Projektphase hat sich gezeigt, dass das Hauptziel des Projekts dank des grossen persönlichen Einsatzes der Beteiligten erreicht wurde.

Man hätte jetzt eigentlich noch gerne gewusst, was genau bei der Evaluation rauskam (Gibt’s da nun wissenschaftliche Publikationen zur Reliabilität?) und was war eigentlich das «Hauptziel des Projektes»? Schweizweite Presseberichte über die IV-Stelle Luzern? Aber der Jahresbericht wird dazu nicht ganz so konkret.

Ob «Hirnstrommessungen» oder Nationalität der IV-Betrüger, bei der IV-Stelle Luzern findet man jedenfalls immer wieder ein wirksames mediales Ablenkungsmanöver, damit niemand bemerkt, dass nicht eine handvoll (ausländischer) IV-Betrüger die Hauptkosten bei der IV verursachen, sondern vor allem die echten IV-Fälle. Zum Beispiel diejenigen 1321 Menschen, bei denen die Eingliederungsbemühungen der IV Luzern nicht zum Erfolg führten, und über die im Jahresbericht zu lesen ist:

Es wäre falsch zu glauben, dass wir in jedem potenziellen Eingliederungsfall eine gute Lösung finden und die Geschichten immer positiv enden. Sehr oft erleben wir unglücklliche Verläufe und müssen akzeptieren, dass es trotz aller Bemühungen auch Verlierer geben kann.

Im Zeitungsartikel klingt das etwas anders. Dort sagt Locher:

Die Eingliederungen durch die IV sind eine Erfolgsstory.(…)

zentral+: Sind das alles langfristige Eingliederungen oder scheitern viele Personen und landen dann ein paar Monate später wieder bei euch?

Locher: Viele sind langfristig. Aber natürlich gibt es immer auch solche, die es nicht schaffen. Genau Zahlen liegen dazu derzeit keine vor.

Zu den langfristigen Eingliederungserfolgen hat man keine Zahlen, aber zu den Eingliederungsversuchen, die bereits «kurzfristig» scheiterten, hätte man schon welche, die liegen nämlich laut Jahresbericht wie gesagt bei 55% bzw. 1321 Menschen.

Aber das passt halt nicht in diese krude Mischung aus ausländischen IV-Betrügern, Schweizer IV-Rentnern in Thailand und potentiellen zukünftigen IV-Rentnern unter den syrischen Flüchtlingen [sic] die Locher im Interview zum Besten gibt.

Erst ganz am Schluss fragt zentral+:

Aber der Grossteil bezieht doch zu Recht eine IV-Rente? Zumal es doch auch immer mehr psychisch Kranke gibt, die sich nicht so einfach wieder integrieren lassen?

Locher: Das ist korrekt. Plus/Minus wird der Anteil an IV-Renten wohl etwa in dem Bereich bleiben, wie er nun heute ist. Und wie in der ganzen Schweiz, beträgt auch in Luzern der Anteil an IV-Rentner mit psychischen Problemen gegen 40 Prozent. Diese Zahl nimmt weiter zu, und diese Leute sind nicht einfach zu integrieren.

Damit hätte das Interview eigentlich beginnen müssen, wenn es Locher ernst damit meinte, was er im Jahresbericht schrieb schreiben liess:

In Sachen berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung zum Beispiel ist zusätzliche Sensibilisierungsarbeit bei den Arbeitgebenden nötig.

Wenn man Arbeitgeber tatsächlich für die Integration sensibilisieren möchte, stellt man wohl kaum die Missbrauchsbekämpfung ins Zentrum der Kommunikation (findet übrigens auch der grüne Luzerner Kantonsrat Michael Töngi).

Und statt einer peniblen Darstellung der IV-Betrüger nach Nationalität, wäre eine Aufschlüsselung der (nicht) erfolgreichen Integrationsbemühungen nach Gebrechensart im Jahresbericht wesentlich aufschlussreicher gewesen. Aber da hat der PR-Berater vermutlich davon abgeraten. Die Integrationszahlen bei den psychischen Kranken hätten nicht gut ausgesehen. Und bei denjenigen, denen man die Rente aufgrund eines Päusbonogs aberkannt hat (wobei die IV-Stelle Luzern so rigoros vorging, dass sie sogar vom Bundesgericht zurückgepfiffen wurde) wohl auch eher nicht so. Stattdessen präsentiert man sich in den Medien vorrangig als erfolgreiche Verbrecherjäger. Richtige «Gewinnertypen» eben. So im Gegensatz zu den nicht Eingliederbaren, die im Jahresbericht als «Verlierer» (siehe oben) bezeichnet werden.

Übrigens sind laut dem Jahresbericht 55% der bei der IV-Stelle Luzern Beschäftigten Frauen. Und so sieht die Geschäftsleitung aus:
GL IV Luzern
Passt.

Same procedure as every y… – oh!

Langjährige LeserInnen kennen das allfrühjährliche Ritual: Das BSV veröffentlicht «Invalidenversicherung – Zahlen und Fakten» (Formerly known as «Betrugsbekämpfung in der IV» – mittlerweile ergänzt und ohne «Betrug» im Titel: «IV-Neurenten stabilisieren sich, mehr berufliche Eingliederung»). Und ich bemängle dann, dass die Gesamtzahl der auf Missbrauch überprüften Dossiers nicht genannt wird.

Ich freue mich nun sehr, dass man im BSV offenbar genauso wenig Wert auf die strikte Einhaltung von langjährigen Traditionen legt wie ich («Cheerio, Miss Sophie!») und deshalb im entsprechenden Faktenblatt dieses Jahr einen neuen Abschnitt eingefügt hat:

Bei allen Rentenabklärungen infolge von Neuanmeldungen und bei allen Revisionen laufender Renten von Versicherten im In- wie im Ausland wird überprüft, ob Anhaltspunkte für möglichen Versicherungsmissbrauch bestehen. 2014 hat die IV rund 46‘000 Renten revidiert, und knapp 16‘000 Personen erhielten neu eine Rente. Die Zahl der bestätigten Missbrauchsfälle zeigt, dass die massiv überwiegende Mehrheit der Versicherten sich korrekt verhält und ihre Leistungen zu Recht bezieht.

Bei aller Freude traue ich mich fast nicht, doch noch zu kritisieren. Nämlich, dass statt der Zahl der Neurenten, korrekterweise jene der Rentenanträge hätte angegeben werden müssen, schliesslich steht im Faktenblatt explizit:

Dabei bestätigte sich der Verdacht in 540 Fällen, was eine Herabsetzung oder Aufhebung der Rentenleistung, resp. die Nichtzusprache einer Neurente zur Folge hatte.

Entweder man nimmt die «Missbrauchsversuche» komplett aus der Statistik, oder man gibt auch die entsprechende Grundgesamtheit (=Rentenanträge) an. Da die Ablehnungsquote bei den Rentenanträgen bei ca. 60% liegt, wären das 40’000 überprüfte Dossiers (statt der 16’000 Neurenten). Rentenrevisionen (46’000) plus Neurentenanträge (40’000) ergibt 86’000 überprüfte Dossiers. Das ergäbe bei 540 Missbrauchsfällen (inkl. Missbrauchsversuche) eine Missbrauchs-Quote von 0,6%. Den Versuch einer ungefähren Berechnung der Missbrauchsquote unternehme ich hier ja seit Jahren immer wieder und man kann’s drehen und wenden wie man will, sie liegt vermutlich unter 1%. (Davon abgesehen wurde auch dieses Jahr wieder nur in 30 Fällen Strafanzeige erstattet.)

Weil es das BSV so schön formuliert hat, wiederhole ich das nochmal (*Hicks!*):

Die Zahl der bestätigten Missbrauchsfälle zeigt, dass die massiv überwiegende Mehrheit der Versicherten sich korrekt verhält und ihre Leistungen zu Recht bezieht.

(Könnte der Satz vielleicht vor der nächsten IV-Debatte im Parlament laut vorgelesen werden? Damit die ParlamentarierInnen dann wissen, dass sie das Gesetz diesmal für die über 99% und nicht für die unter 1% machen.)

Das BSV veröffentlichte zeitgleich auch Faktenblätter zur Eingliederung (alles super), zur Entwicklung der Neurenten (auch super) und ob tatsächlich eine Verlagerung in die Sozialhilfe stattfindet (natürlich nicht).

Um es mit Admiral von Schneider zu sagen: «Skål!»

Missbrauchspolemik: Vom Stammtisch in den Bundesrat

Diverse Statistiken und Studien widersprechen dem Bild des an den Stammtischen des Landes jahrelang herbeigeredeten angeblich «überbordenden Missbrauchs» in der Invalidenversicherung. Politik, Medien und sogar der Bundesrat scheinen aber nicht nur nicht interessiert, dieses falsche Bild zu korrigieren, sie tragen vielmehr aktiv zu einer immer weitergehenden Verunglimpfung und Stigmatisierung der Betroffenen bei. Mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für IV-BezügerInnen mit unsichtbaren Behinderungen.

Am 14. September 2009 erkundigte sich Maria Roth Bernasconi (SP/GE) in der nationalrätlichen Fragestunde, ob die Überwachung durch IV-Detektive – und insbesondere die Filmaufnahmen – nicht die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletze. Der damalige freisinnige Bundesrat Pascal Couchepin antwortete, dass er nicht diesen Eindruck habe (…) und ausserdem sei jemand, der eine Rente vom Staat erhalte, nicht in derselben Situation wie jemand, der keine Rente erhalte.

Damit war von höchster Ebene erklärt worden: Es gibt BürgerInnen und es gibt IV-BezügerInnen. Und es ist völlig in Ordnung, letztere alleine aufgrund ihres Status anders zu behandeln als erstere. Der bislang vor allem von der SVP massiv bewirtschaftete, generelle Missbrauchsverdacht gegenüber IV-BezügerInnen war damit offensichtlich auch im Bundesrat salonfähig geworden.

Missbrauchszahlen im Dienste der Politik
Als schliesslich im Herbst 2010 die offiziellen Zahlen zur Betrugsbekämpfung in der Invalidenversicherung des Vorjahrs veröffentlicht wurden, «vergass» das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), in der Medienmitteilung die Gesamtzahl der überprüften Dossiers (108’000) zu erwähnen. Es stellte nur die aus dieser Gesamtzahl herausgefilterten Verdachtsfälle (1180) den aufgedeckten Betrugsfällen (240) gegenüber – so dass der Tagesanzeiger am folgenden Tag effektvoll titeln konnte: «Jeder fünfte Verdachtsfall ein Betrug».

Und bei den meisten Lesern und Leserinnen blieb im Unterbewusstsein wohl hängen: «Jeder fünfte ein Betrüger.» Womit dann auch die Ungleichbehandlung und der Generalverdacht gegenüber den IV-BezügerInnen gerechtfertigt wären. Man hätte seitens des BSV (und auch beim Tagesanzeiger) die Missbrauchszahlen ganz anders darstellen können. Und zwar so, dass über 99 Prozent der IV-Bezüger ihre Rente rechtmässig beziehen. Dies hat man aber nicht getan.

Eine Missbrauchsquote von unter einem Prozent hätte dann nämlich nur schwerlich als Argument für die IV-Revision 6a (von der 6b reden wir schon gar nicht erst…) herhalten können. Deren Botschaft liest sich nicht wie eine Gesetzgebung für chronisch kranke und behinderte Menschen, sondern vielmehr wie ein Disziplinierungsprogramm für arbeitsunwillige Schwerverbrecher.

Vorurteile erschweren berufliche Integration
Der Gesetzgeber trägt mit der Vorlage 6a aktiv und in voller Absicht zu einer noch weiter verschärften Stigmatisierung derjenigen bei, die aufgrund ihrer Erkrankung oder Behinderung auf Leistungen der Invalidenversicherung angewiesen sind. Und torpediert damit auch die (angeblich) angestrebte Wiedereingliederung von möglichst vielen heutigen IV-Rentnern; denn kaum ein Arbeitgeber wird Menschen einstellen wollen, denen pauschal das Etikett des «faulen Simulanten» anhaftet.

Die Mär von den IV-Bezügern, die grösstenteils faule Simulanten seien, hat es also bis nach ganz oben geschafft, vom Stammtisch bis in den Bundesrat und in die Gesetzgebung. Eine wahrlich steile Karriere. Und ein Armutszeugnis für unsere Politiker, die einer solchen Propaganda Glauben schenken und Fakten konsequent ignorieren. Als kleines Beispiel für diese Ignoranz sei hier kurz die vom BSV selbst in Auftrag gegebene Studie über die «Invalidisierungen aus psychischen Gründen» (Baer et al. 2009) erwähnt. Sie hält in ihrem Fazit unter anderem fest: «Die effektiven Diagnosen widersprechen dem Bild von unspezifischen, unklaren oder ‹nicht wirklichen› Störungen(…). Dass sie von Laien oft nicht als Störungen erkannt werden, bedeutet nicht, dass sie schwer objektivierbar oder in Bezug auf die Arbeitsbeeinträchtigungen vernachlässigbar wären».

Was die FDP nicht daran hinderte, einige Monate nach der Veröffentlichung dieser Studie eine Motion einzureichen, die der in der Studie untersuchten Kategorie mit dem so genannten Gebrechenscode 646 die Zusprechung einer IV-Rente grundsätzlich verweigern will, da es sich ja hierbei vor allem um – Achtung! – «schwer definierbare psychische Störungen» handle. Und der Bundesrat empfahl die Motion dann auch noch zur Annahme. Allzu weit weg von der Stammtischmeinung, dass jeder «echte IV-Bezüger» sich durch für jedermann erkennbare Insignien wie einem Rollstuhl oder einem Blindenstock auszeichnen müsse, ist eine solche Haltung nicht mehr.

Keinesfalls auffallen als IV-BezügerIn mit unsichtbarer Behinderung
Und die Leidtragenden einer solch unüberlegten Politik sind einmal mehr die Betroffenen, insbesondere jene mit den unsichtbaren Behinderungen, die ihren Alltag oft danach ausrichten, bloss nicht den Verdacht zu erwecken, sie könnten womöglich Simulanten sein. Und die nur noch leise lächeln mögen, über den gegenüber gesundheitlich Beeinträchtigten oft geäusserten Ratschlag, sich doch auf «ihre gesunden Anteile» zu konzentrieren. Denn seine gesunden Anteile in irgendeiner Weise zur Geltung zu bringen, ist wohl das Letzte, was ein IV-Bezüger tun sollte.

Egal, ob ein Spaziergang den schmerzenden Rücken entlasten oder leichte Gartenarbeit das Leiden für einen kurzen Moment vergessen liesse – weil alleine ein anonymer Verdacht aus der Bevölkerung genügt, um bei der IV «vertiefte Abklärungen wegen Betruges» auszulösen, verzichten viele Betroffene aus Angst lieber darauf. Und verzichten damit auch oft genug auf Aktivitäten, die ihre Lebensqualität erhöhen und möglicherweise – was ja aus Sicht der Politik angeblich gefördert werden soll – ihre Gesundheit und damit auch berufliche Leistungsfähigkeit verbessern könnte.

Der obenstehenden Artikel wurde in der Agile-Zeitschrift «Behinderung und Politik» (Ausgabe 1/2011) veröffentlicht

Der Lug mit dem Betrug

Vor einigen Tagen erschien im Landanzeiger nebenstehendes Inserat. Zeitungsinserat mit dem Text: Ich bin körperlich nicht ganz auf der Höhe, möchte mich zur Ruhe setzen, bina aber ncht nicht 65. Deshlab suche ich einen verständnisvollen ARZT, der mir zur IV verhilft. Ein gutes Trinkgeld ist dir gewiss. Angebote unter CHiffre Z001/1047 an den VerlagAargauer Zeitung und 20 Minuten berichteten darüber, und die Kommentarschreiber durften mal wieder fröhlich Gift und Galle spucken. Zwar vermutete der eine oder andere, dass das Inserat möglicherweise ein «Scherz» sei, (was der Landbote dann heute auch bestätigte) aber diejenigen, die mit einem Brustton der Überzeugung von einer «immensen» Betrugsquote schreiben, die sterben nie aus. Das hat man «dem Volk» jahrelang intravenös verabreicht, das kriegt man nun nie wieder raus.

Nicht, dass man das aus den Köpfen der Menschen überhaupt rauskriegen wollte. Kürzlich berichtete 20 Minuten über einen durch Observationen überführten IV-Betrüger und zitierte im betreffenden Artikel den Luzerner IV-Direktor Donald Locher folgendermassen: «(…)Zudem konnten wir rund 140 Betrüger selbst überführen», so Locher. Die hohe Zahl täusche jedoch: «Im Vergleich zu Grossstädten gibt es in der Zentralschweiz wenig Betrugsfälle.»

140 Betrüger alleine aus Luzern und das sei noch wenig…? Auch da geiferten die Kommentarschreiber was da Zeug hielt: Betrug en Masse! Wenn 20 Minuten sowas aufdeckt, MUSS das ja stimmen und die vom BSV veröffentlichten Zahlen von 240 Betrügern pro Jahr und aus der gesamten Schweiz, die sind natürlich falsch.

Weil ich das mit den 140 Luzerner IV-Betrügern nochmal genauer wissen wollte, frage ich beim Luzerner IV-Direktor Donald Locher nach – er antwortete folgendermassen: «(…)Die Zeitung 20Minuten hat mir am Sonntagnachmittag – während ich beim Wandern war – auf mein Handy telefoniert und ich habe von rund 140 bearbeiteten und erledigten Fällen im 2010 gesprochen. Da ich die Statistik lediglich aus dem Kopf zitiert habe, kann ich diese Zahl noch leicht nach oben korrigieren. Es sind nämlich genau 155 erledigte Fälle von Total 176 eingegangene Meldungen durch Mails, Telefonanrufe, anonyme Briefe etc. Diese Zahl ist nicht gleich zu setzen mit bestätigten Betrugsfällen.»

Auf die Rückfrage, wieviele Betrugsfälle es in Luzern dann tatsächlich gab, erhielt ich leider keine Antwort mehr. Sie dürften sich aber wohl im einstelligen Bereich bewegen. Erschreckend sind da doch vielmehr die laut Locher «Total 176 eingegangenen Meldungen durch Mails, Telefonanrufe, anonyme Briefe etc.». Jeder Bürger ein Möchtegern IV-Detektiv. Wie konnte es dazu kommen?

Es wäre zu viel der Ehre für die SVP, ihr die ganze Verantwortung dafür nun in die Schuhe zu schieben. Da wirken noch ganz andere Kräfte.

Um mal ein Beispiel herauszupicken: 2006 verfassten die zwei Juristen Reto Bachmann und Markus D’Angelo im Rahmen eines Nachdiplomstudiums für Sozialversicherungsmanagement eine Diplomarbeit mit dem Titel: «Die Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs (BVM) in der Invalidenversicherung unter besonderer Berücksichtigung der Beweissicherung vor Ort». In den Medien wurde als Quintessenz dieser Arbeit hauptsächlich die geschätzte Zahl von jährlich rund 400 Mio. Franken, die auf «Missbrauch» entfallen würden zitiert. In der Schweizerischen Ärztezeitung 22/2007 legte der Medas-Arzt(!) Jürg Jeger ausführlich dar, dass diese Schätzung absolut nicht wissenschaftlich korrekt erhoben worden und zudem viel zu hoch sei. Auch Saldo griff das Thema Anfang 2008 auf:«IV: Politisieren mit unbrauchbaren Zahlen».

Das änderte dann aber auch nichts mehr daran, dass 20 Minuten ein dreiviertel Jahr zuvor ganz selbstverständlich geschrieben hatte: «IV-Betrug: 400 Millionen verschwinden jährlich – Jetzt steht es Schwarz auf Weiss: Bei der Invalidenversicherung werden Jahr für Jahr über 400 Millionen Franken ergaunert und erschwindelt.» Und der damalige IV-Chef Alard du Bois Reymond sagte: «Die Zahlen überraschen mich nicht. Auch unsere Schätzungen der unrechtmässig ausbezahlten IV-Gelder bewegen sich in diesem Bereich».

Vergleichen wir das mal kurz mit den Zahlen, die BR Burkhalter im Dezember 2010 anlässlich der Anfrage von NR Schelbert bekannt gab: 180 ganze Renten (240 Betrüger) x 1600.- (durchschittliche IV-Rente/Monat) = 288’000. Das ganze multipliziert mit 12 Monaten = 3’456’000.-/Jahr – Also 3,5 Millionen pro Jahr statt 400 Millionen. Ein Detail nur. Ein Detail auch nur, dass die Miss- brauchsbekämpfung in der Invalidenversicherung 7 Millionen Franken pro Jahr kostet… (Muss man diese 7 Mio jetzt eigentlich von den 3,5 Mio abziehen oder dazuzählen…?).

Ein Detail übrigens auch, dass die Verfasser der 400-Mio IV-Betrugsstudie zuerst bei der IV und dann bei der Suva (Reto Bachmann) beziehungsweise immer noch bei der IV als Abteilungsleiter Fallmangement (Markus D’Angelo) arbeite(te)n. Cleveres Thema gewählt, um sich beruflich erfolgreich zu profilieren. Macht ja nix, dass man damit den IV-Bezügern einfach mal so pauschal den Ruf versaut. Auch wenn die Studie ja eigentlich gar nicht so gemeint war. Es ging den Autoren, wie sie in ihrer Replik zu Jeders Kritik in der SAEZ schreiben, eigentlich vielmehr darum, «die Begriffe „Versicherung-missbrauch“ und „ungerechtfertigter Leistungsbezug“ auseinanderzudividieren». Und: «(…)auch verschiedene Fragen zum Thema in medizinischer Hinsicht zu klären. So werden beispielsweise die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und die Diagnosenstellungen AD (Anxiety Disorder), BO (Burnout und Boreout), CFS (Chronic Fatigue Syndrome), LSE (Low Self-Esteem), MPD (Multiple Personality Disorder), PTSD (Post-Traumatic Stress Disorder), RSI (Repetitive Strain Injury), SDS (Stress Depression Syndrome), SP (Soziale Phobie) von Medizinern sehr unterschiedlich vorgenommen, was schliesslich zu missbräuchlichen Leistungsausrichtungen führen kann.»

Und jetzt wissen wir auch endlich, wer die ersthaften Krankheitsbilder kunterbunt vermischt mit einigen Befindlichkeitsstörungen dem BSV pauschal als «zweifelhaft» untergejubelt hat. Zwei Juristen. Alles klar. Einst drehte sich die Diskussion um den angeblich immensen Betrug bei der Invalidenversicherung. Und weil der sich als nicht ganz so immens herausstellte, dreht man den Spiess einfach um und macht IV-Bezüger, denen die Rente einst absolut rechtmässig zugesprochen wurde zu Betrügern, in dem man den Krankheitsbegriff einfach mal neu defniert. Auch eine Möglichkeit.