Dass eine psychische Erkrankung die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen oder eine Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt gleich ganz verunmöglichen kann, scheint für sehr viele Menschen in der Schweiz nicht nachvollziehbar. Doch es ist nicht einfach Unverständnis, mit dem Menschen mit einer psychischen/unsichtbaren Erkrankung begegnet wird, es ist ein fundamentales Misstrauen, das sich vom Stammtisch und Politik («Scheininvalide») über die IV (Gutachter, Detektive) bis ins Bundesgericht (Indikatoren) zieht. Dieses Misstrauen ist nicht «gottgegeben», es wird aktiv bewirtschaftet. Unter anderem von Personen Männern, die das Misstrauen als äusserst erfolgreiches Mittel zum Zweck der persönlichen Profilierung benutzen. Drei Beispiele:
2012 kandidierte der damals 19-jährige Mike Egger für den St. Galler Kantonsrat. Das St. Galler Tagblatt brachte ein ausführliches Interview mit dem SVP-Jungpolitiker. Einziges Thema: Die von Egger persönlich betriebene «Hotline», wo jedermann – gerne auch anonym – «Sozialmissbräuche» melden konnte. Egger war daraufhin überall bekannt und wurde gewählt. Seine politische Karriere ging steil weiter, mittlerweile sitzt der SVP-Politiker im Nationalrat. Was er dort tut? Er fordert unter anderem «Meldestellen für Sozialversicherungsmissbrauch».
Für den Juristen Kaspar Gerber dürfte seine vom Schulthess-Verlag publizierte Dissertation über «Psychosomatische Leiden und IV-Rentenanspruch» (2018) ebenfalls eine äusserst nützliche Stufe auf der Karriereleiter darstellen. Gerber zelebriert auf rund 500 Seiten das Mantra «Aber die können ihre Einschränkungen ja über-haupt-gar-nicht beweisen!» und plädiert deshalb unter anderem dafür, dass bei «unklaren» Leiden Detektivüberwachungen nicht nur bei einem konkreten Missbrauchsverdacht, sondern standardmässig als «reguläre Abklärungsinstrumente» eingesetzt werden sollten. Als ausgewiesener Experte für angeblich «unklare» Beschwerdebilder schreibt Herr Gerber bestimmt gerade eine ausführliche juristische Abhandlung über «Long Covid». Den Grundtenor können wir uns alle lebhaft vorstellen.
Auch der ehemalige Luzerner IV-Direktor Donald Locher inszenierte sich gerne als heroischen Kämpfer gegen (angeblich) ungerechtfertigte Leistungsbezüge. Anfang 2014 stand in der Zentralschweiz am Sonntag in grossen Lettern: «Luzern leistet Pionierarbeit». Im Artikel war zu lesen, dass die IV-Stelle Luzern mittels «Hirnstrommessungen» exakt ermitteln könne, wie eingeschränkt Versicherte mit psychischen Erkrankungen tatsächlich seien. In der Folge berichteten Medien aus der ganzen Schweiz über das revolutionäre Verfahren. Unter anderem:
Die IV-Stelle in Luzern zieht bei der Beurteilung strittiger IV-Gesuche neuropsychologische Tests an Patienten zu Hilfe. Eine Mehrheit der Patienten gaukelte eine übertriebene psychologische Erkrankung vor.
NZZ, 5.1.2014
oder:
Die Tests ergaben bei 60 Prozent, dass sie ihre Leiden wirklich übertrieben haben. Bei 40 Prozent der Probanden hingegen waren die Hirnleistungen stärker beeinträchtigt, als sie selber gedacht hatten.
20min, 6.2.2014
Take-Home Message: Die Mehrheit der psychisch Kranken übertreibt ihre Einschränkungen und die restlichen können ihre eigene Beeinträchtigung auch nicht richtig einschätzen. Diesen psychisch Kranken ist einfach nicht zu trauen. Die Hirnstrommessungen hingegen, die liefern präzise und vertrauenswürdige Resultate über die effektive Leistungsfähigkeit der Versicherten.
Apropos «präzise und vertrauenswürdig»…
Knapp drei Jahre nachdem sich der Luzerner IV-Direktor Locher in diversen Medien als grosser Innovator inszeniert hatte, hiess das Kantonsgericht Luzern am 10. November 2016 eine Beschwerde eines Versicherten gut, der sich während der IV-Abklärung einer solchen Hirnstrommessung unterziehen musste – und dem infolgedessen eine Rente verweigert worden war:
Bei den vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) durchgeführten Hirnstrommessungen (elektrophysiologische Funktionsdiagnostik mittels quantitativer Elektroenzephalographie [QEEG] und ereigniskorrelierter Potentiale [ERP]) handelt es sich nicht um eine wissenschaftlich anerkannte Methode hinsichtlich der Diagnosestellung psychischer Gesundheitsstörungen oder hinsichtlich der Simulations-/Aggravationsdiagnostikin der Einzelfallbegutachtung (E. 5.7.2). Damit lässt sich die Anwendung der QEEG- und ERP-Verfahren zur Abklärung eines Leistungsanspruchs in der Invalidenversicherung nicht rechtfertigen.
Urteil 5V 14 621
Und zum Waldfeldwiesenpsychiater Dr. C. (effektiv: Dr. H.) der die QEEG-Messungen bei der IV initiierte, durchführte und auswertete, meinte das Gericht:
Gemäss Prof. Dr. F entbehren bestimmte Aussagen von Dr. C „jeder wissenschaftlichen Grundlage, sind massiv irreführend und haben entsprechend in einem medizinischen Gutachten nichts verloren“, andere Aussagen (zu den spektralanalytischen Daten) seien „einfach grotesk“.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte die IV-Stelle(n) übrigens bereits Anfang 2015 angewiesen, diese Methode nicht weiter anzuwenden. An die grosse Glocke hängte man dies aber nicht.
Hatte dieser Missbrauch von psychisch kranken Versicherten – sowohl auf individueller Ebene bei der Abklärung mittels QEEG Lügendetektor als auch durch die Brandmarkung in den Medien als zu 100% unglaubwürdig – irgendwelche Konsequenzen für Luzerner IV-Direktor? Natürlich nicht. Donald Locher blieb bis zu seiner Pensionierung im Sommer 2019 im Amt, wurde mit einem freundlichen Zeitungsinterview verabschiedet, in dem mit keinem Wort seine «meisterhafte Pionierleistung» erwähnt wurde, das er aber wie gewohnt für seine Selbstinszenierung nutzte:
Neben den Ämtern im Stiftungsrat vom «Roten Faden» und dem «Ronald-McDonald-Haus» bleibe ich weiterhin der Integration von Menschen mit psychischen Schwierigkeiten verbunden: Ich freue mich sehr, dass ich soeben zum Präsidenten des sozialen Unternehmens Wärchbrogg gewählt wurde!
Hat grad jemand was von «Bock» und «Gärtner» gesagt?
Für Menschen mit einer psychischen Erkrankung hat die Bewirtschaftung negativer Narrative über sie natürlich sehr wohl Konsequenzen und die sind anders als für die obigen Herren weder image- noch karrierefördernd. Laut einer kürzlich vom BSV veröffentlichten Arbeitgeberbefragung könnten sich zwar 51% der befragten Arbeitgeber vorstellen, Arbeitnehmende mit einer körperlichen Beeinträchtigung zu beschäftigen, Mitarbeitende mit einer psychischen Erkrankung könnten sich hingegen nur 16% der Arbeitgeber vorstellen:

Es ist ein totales Mysterium, woher diese Vorbehalte gegenüber Menschen mit einer psychischen Erkrankung kommen…
«Objektiv», aber aus wessen Sicht?
Im Rahmen der 5. IV-Revision (in Kraft seit 2008) wurde der Artikel 7 des ATSG ergänzt durch folgenden Passus:
Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.
Art. 7 ATSG
Im IV-Kreisschreiben steht ergänzend zum Artikel 7:
Das subjektive Empfinden der versicherten Person (z.B. Schmerzen) ist dabei nicht massgebend.
Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung (KSIR), gültig ab 1. Januar 2022.
Das ist ein bisschen absurd, weil bei sehr vielen (auch rein körperlichen) Erkrankungen subjektives Empfinden (wie Schmerz, Erschöpfung usw.) massgebende Faktoren für die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit darstellen. Was der Gesetzgeber sagen will ist; es geht nicht, dass die Leute sich einfach «selbst» eine IV-Rente geben können. Das muss man also schon «objektiv» überprüfen. Selbstverständlich muss man das. Nur, wer oder was bestimmt denn eigentlich, was aus «objektiver Sicht überwindbar ist»?
- Der Jungpolitiker, der mit einer Sozialmissbrauchs-Hotline zum Denunzieren aufruft, sich damit erfolgreich Aufmerksamkeit für seinen Wahlkampf verschafft und im Nationalrat über die IV-Gesetzgebung mitbestimmt, ist der «objektiv»?
- Der Jurist, dessen 500-seitige «Die-können-ja-gar-nichts-beweisen-Dissertation auch als Bewerbungsschreiben für einen SVP-Richterposten gelesen werden kann, den er bekanntermassen anstrebt, ist der objektiv?
- Der IV-Stellendirektor, der den öffentlichen Auftritt liebt und sich mit obskuren Abklärungsmethoden als grosser Innovator inszeniert, ist der objektiv?
- Die Betreiber einer Eingliederungs-GmbH, deren Projekt mit psychisch kranken Jugendlichen überhaupt nicht funktioniert hat und die die Schuld dafür einseitig beiden «faulen» Jugendlichen verortet, sind die objektiv?
- Die Bundesrichter·innen, die einst ohne jegliche medizinische Evidenz diverse Krankheitsbilder als «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar» erklärten, sind die objektiv?
- Die Bunderichter·innen, die mit ebenso wenig Evidenz über die eingliederungsrelevante Aussagekraft von «Hobbies» die Indikatorenprüfung einführten und auf fragwürdige Weise anwenden, sind die objektiv?
- Die SVP-Bundesrichterin, die sagt, beim Indikatorenverfahren sei davon auszugehen, der Mensch sei gesund, ist die objektiv? (Dr. Jörg Jeger, ehemaliger Chefarzt der Medas Zentralschweiz hat ernsthafte Zweifel)
- Der gehässige Beobachter, dessen Denunziationsschreiben einer IV-Stelle als Grundlage für die Herabsetzung einer IV-Rente dient, ist der objektiv?
- Die IV-Gutachter, die….
Ich könnte endlos weiterfahren. Es scheint so, als ob von der Bundesrichterin bis zum gehässigen Nachbarn wirklich jeder in der Schweiz über die Kriterien (z.B. eigenes Bauchgefühl) mitbestimmen darf, nach denen beurteilt wird, ob Personen mit einer psychischen oder unsichtbaren Krankheit erwerbsunfähig sind oder nicht. Absolut jeder, ausser die betroffene(n) Person(en) selbst. Denn Betroffene sind subjektiv und wollen nur das eine (nicht arbeiten/eine Rente – obwohl die Arbeitgeber siehe Abbildung weiter oben, sie doch mit offenen Armen empfangen würden!). Der gesamte Rest der Bevölkerung hat hingegen keinerlei eigene Agenda und strotzt nur so vor «Objektivität».
Es wäre vielleicht mal an der Zeit, dass auch Betroffene als Stakeholder (und nein, ich meine nicht die gesunden Vertreter·innen der Behindertenorganisationen, ich meine Betroffene/Peers) bei Prozessen mitwirken, in denen Gutachterleitlinien, juristische Grundlagen zur Beurteilung der Erwerbs(un)fähigkeit und Eingliederungsinstrumente für Versicherte mit psychischen/unsichtbaren Erkrankungen entwickelt werden. Denn Nichtbetroffene haben schon eine sehr subjektive Vorstellung vom Thema. Die wissen doch gar nicht, wie das wirklich ist mit so einer schweren Erkrankung. Ausserdem sind sie sehr stark beeinflusst von ihren Vorurteilen, Fantasien, Ängsten und Karriereambitionen. Da kann ja am Schluss gar keine wirkliche Objektivität dabei herauskommen.
Wie, das geht nicht? Wo kämen wir denn dahin, wenn zum Beispiel auch die Bauern bei Gesetzen und Vorschriften, die sie selbst betreffen, mitred…. ohhh. Ach, das ist was ganz anderes.
Fortsetzung folgt.