Während bei der Sozialhilfe und der Invalidenversicherung seit zwanzig Jahren durch skandalisierende Medienberichte befeuerte exzessive Missbrauchsfantasien die Grundlage für gesetzliche Verschärfungen bieten, liefen die Ergänzungsleistungen lange weitgehend unbemerkt unter dem öffentlichen und politischen Radar. Die Medien berichteten höchstens gelegentlich über eine bemitleidenswerte EL-Bezügerin im AHV-Alter, die sich kaum ein Getränk in einem Café leisten könnte. Warum dem so ist, blieb dem Publikum meist verbogen, denn die Medienschaffenden legten die zugrundeliegenden und oft sehr komplexen EL-Berechnungen kaum je nachvollziehbar offen (oder verstanden sie selbst nicht). Nur bei ganz, ganz genauem Nachrechnen (oder Nachfragen bei den Journalist·innen) offenbarte sich dann beispielsweise, dass die EL-Bezügerin in einer (zu) teuren Wohnung wohnte oder sich aufgrund einer schweren Erkrankung – verständlicherweise – eine Zusatzversicherung leistete.
Entgegen dem von den Medien vermittelten Bild sind die Ergänzungsleistungen (noch) etwas grosszügiger bemessen als die Ansätze in der Sozialhilfe und lassen den EL-Bezüger·innen auch mehr finanziellen Spielraum, indem ihnen unter anderem ein deutlich höherer Vermögensfreibetrag zugestanden wird als Sozialhilfebeziehenden. Allerdings wurde dieser Spielraum mit der letzten EL-Reform von der breiten Öffentlichkeit grösstenteils unbemerkt deutlich beschnitten. Die Missbrauchsdebatte wurde zwar nicht in der epischen Breite öffentlich geführt wie bei der IV oder der Sozialhilfe, doch in den 2015 veröffentlichen Vernehmlassungsunterlagen und in den folgenden Jahren im Parlament geführten Debatten zog sich ein latenter Missbrauchsverdacht auch bei den Ergänzungsleistungen wie ein roter Faden durch die Ausgestaltung der am 1.1. 2021 in Kraft getretenen EL-Reform. Im Vordergrund standen bei dieser Reform deshalb (einmal mehr) nicht die Bedürfnisse der betroffenen Personen, sondern vielmehr das Bedürfnis von Verwaltung und Politik, es «denen» zu zeigen («Die müssen dann nicht meinen!») bzw. zu demonstrieren, dass man «etwas tut» gegen möglicherweise möglichen Missbrauch und steigende Kosten.
Dazu beigetragen haben dürfte nicht unwesentlich, dass mittlerweile 50% der IV-Beziehenden auf EL angewiesen sind, während dies nur auf 12% der AHV-Beziehenden zutrifft. Zwar liegt die absolute Zahl der AHV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf mit 220’000 deutlich höher jene der IV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf (122’000 Personen), aber wo «IV-Beziehende» (mit)draufsteht, muss ja «Missbrauch» drin sein. Aber auch der immer wieder gemunkelte Mythos, wonach manche Senior·innen angeblich in kürzester Zeit ihr Erspartes verjubeln würden, um danach Ergänzungsleistungen zu beziehen, hat die Gesetzgebung beeinflusst.
Obwohl EL-Beziehende, die in Institutionen wohnen (müssen), pro Person im Schnitt drei mal höhere Kosten verursachen, als EL-Beziehende, die zu Hause wohnen, fokussierte die EL-Reform zudem hauptsächlich auf die EL-beziehenden Personen selbst. Denen lässt sich nämlich viel einfacher «Missbrauch» unterstellen als den Institutionen. Und das heisse Eisen einer Pflegeversicherung musste auch nicht angefasst werden. Oder wie am 14.7.2023 im Tagesanzeiger zu lesen war:
Von 2000 bis 2021 haben sich die Ausgaben für Ergänzungsleistungen von 2,3 auf 5,4 Milliarden Franken mehr als verdoppelt. Der grösste Teil davon entfällt laut Michael E. Meier, Oberassistent und Experte für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Zürich und Luzern, auf die Alterspflege im Heim. Somit kostet dies die Schweiz ungefähr gleich viel wie die gesamte Subventionierung der Landwirtschaft.
«Die Rente reicht fast nie, um das Altersheim zu finanzieren», Tages Anzeiger 14.07.2023
Ein Ende der Kostensteigerung ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, ist mit einem grösseren Kostenschub zu rechnen. Meier geht davon aus, dass es ab 2039 so weit ist. Er vergleicht dies mit der Titanic, die hinten am Horizont auftaucht, während die Politik ihren Fokus auf die Boje am Strand richte und einzelne Missbräuche bekämpfe.
Der Tagi-Artikel fokussierte (wie ungefähr gefühlt 95% der Medienberichte zu den Ergänzungsleistungen) ausschliesslich auf die AHV-Rentner·innen. Nur ganz selten – nämlich zum Beispiel dann, wenn plakativerweise junge schwerbehinderte Rollstuhlfahrer involviert sind, die mit den neuen Mietansätzen ihre WG-Zimmer nicht mehr bezahlen können (well, I told you so und zwar schon 2014) – wird ein kurzes öffentliches Blitzlicht darauf gerichtet, dass nicht nur AHV-, sondern auch IV-Beziehende (negativ) von der neuen EL-Gesetzgebung betroffen sind. Auch in der politischen/parlamentarischen Diskussion wurde grösstenteils schlicht vergessen, dass sich die jüngeren IV-Bezüger·innen in einer anderen Lebenssituation befinden, als betagte AHV-Beziehende. Ausser natürlich dort, wo um «Arbeitsanreize» ging und von rechtsbürgerlicher Seit wie eh und je argumentiert wurde, dass es sich für behinderte/chronisch kranke EL-Bezüger·innen keinesfalls «lohnen» dürfe, EL zu beziehen (statt zu arbeiten) und sie durch falsche finanzielle Anreize auch keinesfalls dazu animiert werden dürften, (zu viele) Kinder zu haben.
Merkwürdigerweise wurde auch von Behindertenorganisationen in der ganzen Diskussion um die Ergänzungsleistungen nie thematisiert, dass sich die Perspektiven von IV-Beziehenden oft auf Jahrzehnte erstrecken, während es bei AHV-Beziehenden um das Lebensende geht. Als einzige machte die damals noch an der HSG tätige Wirtschaftsprofessorin Professorin Monika Bütler 2018 während der laufenden politischen Diskussionen auf diesen Umstand aufmerksam:
Der Nationalrat möchte nun die Vermögensgrenze auf 100’000 Franken absenken und „übermässigen“ Verwendung des Kapitalbezugs aus der zweiten Säule mit einer 10% Strafkürzung auf den EL belegen. (In Klammern, aber wichtig: Es wäre besser gewesen, die Vermögensanrechnung bei EL zur IV anders zu behandeln als die EL zur AHV. Für die IV wäre eine höhere Vermögensgrenze angemessen, da es hier nicht um den Schutz der Nachkommen geht, sondern um die eigene künftige Lebensgrundlage der Versicherten.)
«Ergänzungsleistungen (EL) und Vermögen» Batz.ch, 11. September 2018
Bütlers Randbemerkung blieb allerdings ungehört und unbeachtet. Selbst Behindertenorganisationen stimmten vielen vordergründig «kleinen» Änderungen bei der EL-Reform ziemlich bedenkenlos zu, weil deren selbst nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesene Mitarbeiter·innen die Auswirkungen, die diese vermeintlich kleinen Änderungen auf die langfristigen Lebensperspektiven von IV-Beziehenden schlicht nicht erfassen konnten (oder für irrelevant hielten).
Seitdem die EL-Reform Anfang 2021 in Kraft trat, zeigt sich in der Praxis allerdings in immer mehr Bereichen, dass die gehässige Grundhaltung bei der Ausgestaltung («Denen zeigen wir’s jetzt aber») zu einer undurchdachten Gesetzgebung mit diversen unerwünschten Effekten führte, die man nun zum Teil behelfsmässig zu «flicken» versucht.
Da es zu ausufernd wäre, die EL-Reform in all ihren Details zu besprechen, möchte ich in den in der nächsten Zeit folgenden drei Artikeln auf einzelne Themenbereiche fokussieren, die den tiefgreifenden Systemwechsel bei den Ergänzungsleistungen besonders deutlich illustrieren:
1. Krankenkassenprämien
2. Mietzinsmaxima
3. Umgang mit dem Vermögen (Lebensführungskontrolle/Rückzahlungspflicht ect.)
Bei jedem dieser Themenbreiche wurden war von aussen gesehen nur kleine «kosmetische» Korrekturen vorgenommen, im Kern wurde aber durch all diese «kleinen Korrekturen» das System der Ergänzungsleistungen an jenes der Sozialhilfe angeglichen und die finanzielle Selbstbestimmung der EL-Beziehenden deutlich eingeschränkt. Das ist auch deshalb besonders stossend, weil Ergänzungsleistungen ursprünglich als Übergangslösung gedacht waren, bis AHV- und IV-Renten existenzsichernd wären. Die «Idee» war eigentlich, dass AHV- und IV-Beziehende gar nie auf Bedarfsleistungen angewiesen sein sollten, sondern Versicherungsleistungen erhalten sollten, über die sie frei verfügen können. Für jüngere Menschen mit einer IV-Rente, die jahrzehntelang auf EL-Leistungen angewiesen sind (und möglicherweise auch noch selbst ein kleines Erwerbseinkommen generieren, über das sie dann nur beschränkt selbst verfügen dürfen), sind die mit der EL-Reform beschlossenen Einschränkungen bei der finanziellen Selbstbestimmung zudem deutlich gravierender, als für Senior·innen, die erst beim Eintritt in ein Pflegeheim auf EL angewiesen sind, um die letzten Lebensmonate finanzieren zu können. Aber die ganz realen (und nicht nur theoretischen) Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung waren im Gesetzgebungsprozess grösstenteils schlicht irrelevant.