EL-Reform: Der stille Wandel vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem [1/4]

Während bei der Sozialhilfe und der Invalidenversicherung seit zwanzig Jahren durch skandalisierende Medienberichte befeuerte exzessive Missbrauchsfantasien die Grundlage für gesetzliche Verschärfungen bieten, liefen die Ergänzungsleistungen lange weitgehend unbemerkt unter dem öffentlichen und politischen Radar. Die Medien berichteten höchstens gelegentlich über eine bemitleidenswerte EL-Bezügerin im AHV-Alter, die sich kaum ein Getränk in einem Café leisten könnte. Warum dem so ist, blieb dem Publikum meist verbogen, denn die Medienschaffenden legten die zugrundeliegenden und oft sehr komplexen EL-Berechnungen kaum je nachvollziehbar offen (oder verstanden sie selbst nicht). Nur bei ganz, ganz genauem Nachrechnen (oder Nachfragen bei den Journalist·innen) offenbarte sich dann beispielsweise, dass die EL-Bezügerin in einer (zu) teuren Wohnung wohnte oder sich aufgrund einer schweren Erkrankung – verständlicherweise – eine Zusatzversicherung leistete.

Entgegen dem von den Medien vermittelten Bild sind die Ergänzungsleistungen (noch) etwas grosszügiger bemessen als die Ansätze in der Sozialhilfe und lassen den EL-Bezüger·innen auch mehr finanziellen Spielraum, indem ihnen unter anderem ein deutlich höherer Vermögensfreibetrag zugestanden wird als Sozialhilfebeziehenden. Allerdings wurde dieser Spielraum mit der letzten EL-Reform von der breiten Öffentlichkeit grösstenteils unbemerkt deutlich beschnitten. Die Missbrauchsdebatte wurde zwar nicht in der epischen Breite öffentlich geführt wie bei der IV oder der Sozialhilfe, doch in den 2015 veröffentlichen Vernehmlassungsunterlagen und in den folgenden Jahren im Parlament geführten Debatten zog sich ein latenter Missbrauchsverdacht auch bei den Ergänzungsleistungen wie ein roter Faden durch die Ausgestaltung der am 1.1. 2021 in Kraft getretenen EL-Reform. Im Vordergrund standen bei dieser Reform deshalb (einmal mehr) nicht die Bedürfnisse der betroffenen Personen, sondern vielmehr das Bedürfnis von Verwaltung und Politik, es «denen» zu zeigen («Die müssen dann nicht meinen!») bzw. zu demonstrieren, dass man «etwas tut» gegen möglicherweise möglichen Missbrauch und steigende Kosten.

Dazu beigetragen haben dürfte nicht unwesentlich, dass mittlerweile 50% der IV-Beziehenden auf EL angewiesen sind, während dies nur auf 12% der AHV-Beziehenden zutrifft. Zwar liegt die absolute Zahl der AHV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf mit 220’000 deutlich höher jene der IV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf (122’000 Personen), aber wo «IV-Beziehende» (mit)draufsteht, muss ja «Missbrauch» drin sein. Aber auch der immer wieder gemunkelte Mythos, wonach manche Senior·innen angeblich in kürzester Zeit ihr Erspartes verjubeln würden, um danach Ergänzungsleistungen zu beziehen, hat die Gesetzgebung beeinflusst.

Obwohl EL-Beziehende, die in Institutionen wohnen (müssen), pro Person im Schnitt drei mal höhere Kosten verursachen, als EL-Beziehende, die zu Hause wohnen, fokussierte die EL-Reform zudem hauptsächlich auf die EL-beziehenden Personen selbst. Denen lässt sich nämlich viel einfacher «Missbrauch» unterstellen als den Institutionen. Und das heisse Eisen einer Pflegeversicherung musste auch nicht angefasst werden. Oder wie am 14.7.2023 im Tagesanzeiger zu lesen war:

Von 2000 bis 2021 haben sich die Ausgaben für Ergänzungsleistungen von 2,3 auf 5,4 Milliarden Franken mehr als verdoppelt. Der grösste Teil davon entfällt laut Michael E. Meier, Oberassistent und Experte für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Zürich und Luzern, auf die Alterspflege im Heim. Somit kostet dies die Schweiz ungefähr gleich viel wie die gesamte Subventionierung der Landwirtschaft.
Ein Ende der Kostensteigerung ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, ist mit einem grösseren Kostenschub zu rechnen. Meier geht davon aus, dass es ab 2039 so weit ist. Er vergleicht dies mit der Titanic, die hinten am Horizont auftaucht, während die Politik ihren Fokus auf die Boje am Strand richte und einzelne Missbräuche bekämpfe.

«Die Rente reicht fast nie, um das Altersheim zu finanzieren», Tages Anzeiger 14.07.2023

Der Tagi-Artikel fokussierte (wie ungefähr gefühlt 95% der Medienberichte zu den Ergänzungsleistungen) ausschliesslich auf die AHV-Rentner·innen. Nur ganz selten – nämlich zum Beispiel dann, wenn plakativerweise junge schwerbehinderte Rollstuhlfahrer involviert sind, die mit den neuen Mietansätzen ihre WG-Zimmer nicht mehr bezahlen können (well, I told you so und zwar schon 2014) – wird ein kurzes öffentliches Blitzlicht darauf gerichtet, dass nicht nur AHV-, sondern auch IV-Beziehende (negativ) von der neuen EL-Gesetzgebung betroffen sind. Auch in der politischen/parlamentarischen Diskussion wurde grösstenteils schlicht vergessen, dass sich die jüngeren IV-Bezüger·innen in einer anderen Lebenssituation befinden, als betagte AHV-Beziehende. Ausser natürlich dort, wo um «Arbeitsanreize» ging und von rechtsbürgerlicher Seit wie eh und je argumentiert wurde, dass es sich für behinderte/chronisch kranke EL-Bezüger·innen keinesfalls «lohnen» dürfe, EL zu beziehen (statt zu arbeiten) und sie durch falsche finanzielle Anreize auch keinesfalls dazu animiert werden dürften, (zu viele) Kinder zu haben.

Merkwürdigerweise wurde auch von Behindertenorganisationen in der ganzen Diskussion um die Ergänzungsleistungen nie thematisiert, dass sich die Perspektiven von IV-Beziehenden oft auf Jahrzehnte erstrecken, während es bei AHV-Beziehenden um das Lebensende geht. Als einzige machte die damals noch an der HSG tätige Wirtschaftsprofessorin Professorin Monika Bütler 2018 während der laufenden politischen Diskussionen auf diesen Umstand aufmerksam:

Der Nationalrat möchte nun die Vermögensgrenze auf 100’000 Franken absenken und „übermässigen“ Verwendung des Kapitalbezugs aus der zweiten Säule mit einer 10% Strafkürzung auf den EL belegen. (In Klammern, aber wichtig: Es wäre besser gewesen, die Vermögensanrechnung bei EL zur IV anders zu behandeln als die EL zur AHV. Für die IV wäre eine höhere Vermögensgrenze angemessen, da es hier nicht um den Schutz der Nachkommen geht, sondern um die eigene künftige Lebensgrundlage der Versicherten.)

«Ergänzungsleistungen (EL) und Vermögen» Batz.ch, 11. September 2018

Bütlers Randbemerkung blieb allerdings ungehört und unbeachtet. Selbst Behindertenorganisationen stimmten vielen vordergründig «kleinen» Änderungen bei der EL-Reform ziemlich bedenkenlos zu, weil deren selbst nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesene Mitarbeiter·innen die Auswirkungen, die diese vermeintlich kleinen Änderungen auf die langfristigen Lebensperspektiven von IV-Beziehenden schlicht nicht erfassen konnten (oder für irrelevant hielten).

Seitdem die EL-Reform Anfang 2021 in Kraft trat, zeigt sich in der Praxis allerdings in immer mehr Bereichen, dass die gehässige Grundhaltung bei der Ausgestaltung («Denen zeigen wir’s jetzt aber») zu einer undurchdachten Gesetzgebung mit diversen unerwünschten Effekten führte, die man nun zum Teil behelfsmässig zu «flicken» versucht.

Da es zu ausufernd wäre, die EL-Reform in all ihren Details zu besprechen, möchte ich in den in der nächsten Zeit folgenden drei Artikeln auf einzelne Themenbereiche fokussieren, die den tiefgreifenden Systemwechsel bei den Ergänzungsleistungen besonders deutlich illustrieren:

1. Krankenkassenprämien

2. Mietzinsmaxima

3. Umgang mit dem Vermögen (Lebensführungskontrolle/Rückzahlungspflicht ect.)

Bei jedem dieser Themenbreiche wurden war von aussen gesehen nur kleine «kosmetische» Korrekturen vorgenommen, im Kern wurde aber durch all diese «kleinen Korrekturen» das System der Ergänzungsleistungen an jenes der Sozialhilfe angeglichen und die finanzielle Selbstbestimmung der EL-Beziehenden deutlich eingeschränkt. Das ist auch deshalb besonders stossend, weil Ergänzungsleistungen ursprünglich als Übergangslösung gedacht waren, bis AHV- und IV-Renten existenzsichernd wären. Die «Idee» war eigentlich, dass AHV- und IV-Beziehende gar nie auf Bedarfsleistungen angewiesen sein sollten, sondern Versicherungsleistungen erhalten sollten, über die sie frei verfügen können. Für jüngere Menschen mit einer IV-Rente, die jahrzehntelang auf EL-Leistungen angewiesen sind (und möglicherweise auch noch selbst ein kleines Erwerbseinkommen generieren, über das sie dann nur beschränkt selbst verfügen dürfen), sind die mit der EL-Reform beschlossenen Einschränkungen bei der finanziellen Selbstbestimmung zudem deutlich gravierender, als für Senior·innen, die erst beim Eintritt in ein Pflegeheim auf EL angewiesen sind, um die letzten Lebensmonate finanzieren zu können. Aber die ganz realen (und nicht nur theoretischen) Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung waren im Gesetzgebungsprozess grösstenteils schlicht irrelevant.

Misstrauen und Beweisfetischischmus sind kontraproduktiv

Eigentlich ist es ganz einfach: Wer permanent beweisen muss, dass er krank ist, kann nicht gesunden. Wer sich verstecken und selbst beschneiden muss, kann sich persönlich und beruflich nicht weiter entwickeln und entfalten. Beides (gesünder werden und beruflicher Fortschritt) wäre an sich gesellschaftlich erwünscht, aber eben doch nicht zu sehr, denn Betroffenen wird ein schier unmöglicher Spagat abverlangt:

Letztlich müssen die betroffenen Personen im Rahmen ihrer Identitätsarbeit einen Mittelweg finden. Sie müssen sich als angemessen «behindert» darstellen, um den Erwartungen der IV-Stellen gerecht zu werden und in der Öffentlichkeit nicht als «Schmarotzer» wahrgenommen zu werden. Zugleich dürfen sie als nicht zu beeinträchtigt erscheinen, damit sie in sozialen Interaktionen am Arbeitsplatz und darüber hinaus als «normal» wahrgenommen und adressiert werden.

Benedikt Hassler: Ambivalenz der Wiedereingliederung – Betriebliche und sozialstaatliche Integrationsmassnahmen aus der Sicht gesundheitlich beeinträchtigter Personen (2021)

Diesem künstlichen Bild von «genügend krank», aber an anderer Stelle dann doch wieder nicht «zu krank» zu entsprechen, wird besonders von Menschen mit einer unsichtbaren/psychischen Erkrankung erwartet. Es ist eine komplett sinnlose Ressourcenverschwendung, deren einziger Zweck darin besteht, dass «Gesunde» sich nicht mit der komplexen und teils auch widersprüchlichen Realität von psychischer Krankheit auseinandersetzen müssen. Es verunmöglicht auch eine ganz zentrale Aufgabe, die Menschen mit einer chronischen psychischen Beeinträchtigung bewältigen müssen: ihre aufgrund der Erkrankung veränderte Leistungsfähigkeit zu akzeptieren und gegebenenfalls trotz und mit der Erkrankung einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Was sie können und was sie nicht (mehr) können, ist dabei sehr individuell und ganz sicher nicht deckungleich mit der Vorstellung von Hansli Müller, wie eine «richtige» psychische Krankheit auszusehen habe.

Oftmals übernehmen Betroffene jedoch die – von Gesunden – entworfene Vorstellung von Rehabilitation, welche auf der primitiven Vorstellung eines kaputten Autos basiert, das in der (geschützten) Werkstatt wieder repariert und/oder wie ein bockiges Rennpferd trainiert wird und dann wieder tadellos läuft. Zwar können durch Training, Therapie, Medikamente usw. durchaus gewisse Verbesserungen erzielt werden, wenn aber die bisherige Integrationspraxis tatsächlich so hervorragend funktionieren würde, würden bei psychisch kranken Versicherten nicht 75% der IV-Eingliederungsmassnahmen fehlschlagen. Natürlich hätten Arbeitgeber gerne vollkommen gesunde Mitarbeitende, die tadellos funktionieren. Auch die Betroffenen selbst würden sehr gerne (wieder) tadellos funktionieren. Aber die Realität sieht halt leider oft anders aus.

IV-Stelle sucht Ärzt·in «mit kriminalistischen Flair»

An einer nicht existierenden Vorstellung von «Realität» festzuhalten, bindet nicht nur Energie der Betroffenen, es erfordert auch enorm aufwendige Abklärungs-/Gutachten- und Gerichtsverfahren, wo es bei unsichtbar/psychisch kranken Versicherten in teils wirklich absurder Weise oft nur noch darum geht, die kleinsten Anzeichen von Ressourcen ausfindig zu machen, um damit alle krankheitsbedingten Einschränkungen als «unglaubwürdig» abtun zu können. Die IV-Stelle St. Gallen sucht aktuell beispielsweise einen Arzt oder eine Ärztin «mit kriminalistischen Flair» [sic!], der oder die im Vollzeitpensum ausschliesslich «Verdachtsfälle auf nicht zielkonforme Leistungen» abklären soll. Zum Aufgabenbereich gehört unter anderem das «Sichten und beurteilen von Ermittlungsergebnissen (Observationsbeweise oder Erkenntnisse aus Open-Source-Quellen)». Mit den «Open-Source-Quellen» wären wir dann wieder beim bereits früher angesprochenen Thema, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in der Öffentlichkeit und auch im Internet komplett unsichtbar sein müssen.
Nachdem ich das Inserat entdeckt hatte, twitterte ich dazu:

Die eingebette Twitteransicht zeigt nur einen Teil der Stellenanzeige, hier ist die vollständige Anzeige.

20min hat das Thema unter dem Titel «SVA St. Gallen sucht einen Arzt mit «kriminalistischem Flair» aufgegriffen und schreibt:

Ein Stelleninserat der SVA St. Gallen sorgt auf Social Media für Diskussionen. (…) Unter einem Twitter-Post zeigen sich diverse Nutzer und Nutzerinnen fassungslos.

Obwohl sich der Artikel explizit auf meinen Tweet bezieht, wird mein Tweet weder zitiert noch verlinkt, noch wurde ich von 20min für ein Statement angefragt. Wer aber prominent Stellung beziehen darf, ist der St. Galler Nationalrat Mike Egger. Sie erinnern sich? Der SVP-Jungpolitiker, der seine Karriere mit dem privaten Betrieb einer Missbrauchshotline startete? Ich schrieb gerade kürzlich darüber, wie Leute wie Egger das öffentliche Bild prägen, während Betroffene unsichtbar bleiben (müssen). Auch im 20min-Artikel kommen weder Betroffene noch Vertreter·innen von Behindertenorganisationen zu Wort. Stattdessen implizieren der SVP-Politiker Egger («Mit diesen Massnahmen hilft man Menschen mit richtigen Beschwerden») wie auch der Medienverantwortliche der SVA St. Gallen («Wir wollen zeigen, dass richtig hingeschaut wird und die Leistungen zu den richtigen Personen kommen, die wirklich einen Anspruch darauf haben»), dass eine hochgradig misstrauische IV-Maschinerie ganz im Sinne der «richtigen» Behinderten sei.

Rollstuhlfahrer·innen-Vergleich die 327.ste. (Ja, sorry, aber es gibt einfach so viele Beispiele!)

Unter «richtigen» Behinderten verstehen die beiden Herren vermutlich Rollstuhlfahrerinnen, die problemlos öffentlich kundtun können, dass sie gleich in zwei Disziplinen 40 Stunden pro Woche für Olympia trainieren, weil es halt einfach bewundernswert ist, wie sie mit ihrem Schicksal umgehen:

Resultatunabhängig hat der regelmässige Sport ihre Lebensqualität erhöht, es geht ihr heute wieder viel besser. «Ich konnte vorher nicht mehr alleine essen, und meine Hände nicht mehr kontrollieren», sagt sie ruhig. Dass sie sehr schnell müde wird und pro Tag zwischen 12 und 15 Stunden schlafen muss, akzeptiert sie. Man merkt: Sie fragt sich nicht dauernd, weshalb es nun genau sie getroffen habe. «Oh mein Gott, nein», sagt sie, erneut mit einem herzhaften Lachen: «Ich bin ein fröhlicher Mensch und sehr positiv.»

Szenenwechsel. Eine Blickschlagzeile von 2011:

Aus dem Artikel:

Ich boxe gegen meine Bulimie», sagt Aniya Seki. «Das Boxen gibt mir Halt. Die Kliniken haben mir im Kampf gegen meine Krankheit nicht geholfen.

und:

18-mal Kotzen am Tag ist anstrengender als Spitzensport. Wenn ich einen Absturztag habe, kann ich nicht trainieren. Ich kann an einem Tag nicht erbrechen und trainieren.

Im Prinzip steht in beiden Artikeln dasselbe; eine junge Frau mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung treibt erfolgreich Spitzensport und dies hilft ihr auch gesundheitlich. Im Artikel über die Rollstuhlsportlerin wird allerdings gar nicht erwähnt, dass sie eine IV-Rente bezieht, während dies im Artikel über die psychisch erkrankte Sportlerin das zentrale Thema ist. Der Blick legte an folgenden Tag sogar nochmals nach und fragte seine Leserschaft: Ist eine IV-Rente wegen Bulimie denkbar?

Wie wäre die Umfrage wohl ausgefallen, wenn gefragt worden wäre, ob einer erfolgreichen Rollstuhlsporlerin eine IV-Rente zusteht? Interessanterweise stellen die Medien diese Frage aber nie. Und im seltenen Fall, wo eine IV-Stelle bei einer Rollstuhlsportlerin tatsächlich aufgrund ihrer sportlichen Aktivität die IV-Rente reduzieren will, heisst die Schlagzeile dazu selbstverständlich nicht wie bei Seki: «Erfolgreiche Rollstuhlsportlerin kassiert IV-Rente». Die Appenzeller Zeitung fragt in völliger Unkenntnis der gesetzlichen Grundlagen sogar naiv «ob durch die Unterstützung einer erfolgreichen Sportlerin nicht das Image der IV aufgebessert werden könne?»

Weil dafür ist die «Behindertenversicherung» doch da? Um «richtigen Behinderten» zu unterstützen? Die machen es doch so gut mit ihren «Behindertensport». In dieser vermeintlichen «Bewunderung» liegt eine Abwertung, die möglicherweise die unterschiedliche Bewertung von sportlichen Aktivitäten von Menschen mit einer körperlichen und einer psychischen Beeinträchtigung erklärt. «Behindertensport» ist aus Sicht von Nichtbehinderten oft nicht «richtiger» Sport. Nichtbehinderte sind nicht selten der Meinung, dass es im Behindertensport nicht «ums Gewinnen» gehe, sondern ums «Dabeisein». Und zudem ist es doch auch «total inspirierend», wie diese (körperlich) Behinderten ihr tragisches Schicksal meistern. (Siehe dazu auch: Inspiration Porn: «We’re not here for your inspiration»). Kurz: Es wird nicht in erster Linie die sportliche Spitzenleistung bewundert, sondern die sportliche Leistung trotz Behinderung, die dann aber eben doch keine «richtige» Leistung ist, weil sonst wäre sie auch IV-relevant.

Komplett anders ist die Wahrnehmung hingegen, wenn jemand wie Seki mit einer nicht sichtbaren Beeinträchtigung im Nichtbehindertensport Erfolge erzielt. Dann ist es nicht bewundernswert, dass sie trotz ihrer Erkrankung erfolgreich ist, sondern es ist ein klarer Hinweis darauf, dass sie gar nicht «richtig» psychisch krank ist, denn sonst könnte sie ja nicht gegen «Gesunde» gewinnen.

Genau diese Schlussfolgerung wurde auch im BGE 8C_349/2015 gezogen. Einige Auszüge:

Der IV-Stelle waren im August 2009 sowie im November 2010 anonyme Hinweise zugestellt worden, wonach A.__ auf hohem Niveau Golf spiele (Handicap 4), sich bei jeder Witterung mehrere Stunden auf dem Golfplatz aufhalte, an diversen Golfturnieren in der ganzen Schweiz teilnehme und 2010 Clubmeister geworden sei.
(…)
Insgesamt ist somit der klaren Aussage des psychiatrischen Experten, wonach die Ausübung des Golfspiels bei Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode möglich, die vom Versicherten erbrachten Höchstleistungen im Golfsport unter solchen Umständen jedoch als nicht möglich zu bezeichnen sind, nichts anzufügen.
(…)
Daran ändert auch die ärztliche Einschätzung nichts, dass das Golfspielen grundsätzlich gut für seine Gesundheit sei. Denn einerseits verfügten diese Ärzte über keine Kenntnisse des tatsächlichen Ausmasses seiner golferischen Betätigung; andererseits ist massgebend, dass der Versicherte gestützt auf die Schadenminderungspflicht gehalten gewesen wäre, dieses Potential an Aktivität in erwerblicher Hinsicht zu nutzen, anstatt es im Rahmen einer Freizeitbeschäftigung einzusetzen.

Hätte das Gericht gleich entschieden, wenn der Versicherte Rollstuhlgolf gespielt hätte? Die Frage ist eigentlich müssig, denn: Wie wahrscheinlich ist es, über einen golfspielenden Rollstuhlfahrer anonyme Hinweise bei der IV eingehen?

Öffentlicher Applaus und Unterstützung für die einen…

Es geht mir bei meinen Vergleichen nicht darum, verschiedene Arten von Einschränkungen gegeneinander auszuspielen oder darüber zu urteilen, wem eine IV-Rente zustehen sollte und wem nicht. Aber die massiv unterschiedlichen Massstäbe, die sowohl von der Öffentlichkeit als auch sozialversicherungsrechtlich bei der Beurteilung von sichtbaren und unsichtbaren Beeinträchtigungen angelegt werden, basieren stark auf (negativen wie positiven) Vorurteilen. Sie sind entgegen jeder juristischen Abhandlung alles andere als «objektiv». Die oben erwähnte Rollstuhlsportlerin kann das Ausmass ihrer Fatigue auch nicht beweisen, man sieht es auf keinem MRI, man «glaubt» es ihr einfach. Hätte sie hingegen eine unsichtbare Erkrankung, würde sie mit 40 Trainingsstunden pro Woche wegen Sozialversicherungsbetrug angeklagt.

Die unterschiedliche Glaubwürdigkeit, die man Versicherten (und oft auch ihren behandelnden Ärzt·innen) je nach Art der Beeinträchtigung zugesteht, ist nicht nur hochgradig diskriminierend, die unterschiedliche Bewertung verschiedener Behinderungsformen und welches Verhalten von den jeweiligen Betroffenen erwartet, belohnt oder sanktioniert wird, hat einen massiven Einfluss auf ihre Lebensgestaltung und damit auch ihre berufliche Möglichkeiten.

In einem früheren Artikel zitierte ich den Rollstuhlfahrer Jahn Graf, der letzten August im Migros Magazin über seine Moderation der Paralympics im Schweizer Fernsehen sprach:

Ich wünsche mir, dass ich meine selbständige Tätigkeit als Moderator so weit ausbauen kann, dass ich mindestens auf einen Teil meiner staatlichen Unterstützung durch IV und Ergänzungsleistungen verzichten kann.

Nach den Sommerspielen moderierte Graf kürzlich auch die Paralympischen Winterspiele. Eine Journalistin kommentierte in der Sonntagszeitung:

Am Mittwoch war Nik Hartmann zu Gast im «Para-Graf». Der Fernsehmann ist der Ansicht, Graf sollte auch Sendungen bekommen, in denen es nicht nur um Behinderung geht: «Du müsstest eigentlich die ‹Tagesschau› moderieren – ich setze mich dafür ein.»

Für die «Tagesschau» wird es nicht reichen, aber das ist in diesem Fall nicht schlimm: Hartmann ist Mitverantwortlicher für sämtliche Eigenproduktionen bei CH Media und entwickelt neue Formate. Da dürfte sich etwas Passendes schon finden lassen. Hoffen wir jedenfalls für Jahn Graf. Und nehmen Sie, Nik Hartmann, beim Wort!

«Nik Hartmann, wir nehmen Sie beim Wort!», Sonntagszeitung, 13.3.2022

Auch wenn das etwas gönnerhaft wirkt, muss sich Graf zumindest nicht damit herumschlagen, das man ihn aufgrund seiner gezeigten Leistung der «Scheininvalidität» verdächtigt. Er muss sich und seine Fähigkeiten nicht verstecken, er kann sich öffentlich ausprobieren und seine beruflichen Ambitionen stossen bei möglichen Förderern auf offene Ohren.

Erzwungene Unsichtbarkeit und Sanktionen für die anderen

Menschen, die aus psychischen Gründen eine IV-Rente beziehen, können ihre Fähigkeiten nicht öffentlich zeigen. Sie müssen viel Energie dafür aufwenden, sich selbst zu beschneiden und unsichtbar zu bleiben, um ja nicht den Verdacht zu erwecken, «nicht wirklich» krank zu sein. All die Energie, die seitens der IV darin fliesst, Menschen mit einer psychischen Erkrankung nachzuweisen, dass sie nur Betrüger sind und die psychisch Kranke dann wiederum aufwenden müssen um zu beweisen, dass sie keine Betrüger sind, ist komplett sinnlos verschwendete Energie. Es ist absurd, dass Versicherte mit einer IV-Rente in einer geschützten Umgebung im Vollpensum arbeiten können, während jegliche Tätigkeit, wo keine Arbeitsagogin daneben steht, sofort als «verdächtig» gilt.

Es wäre soviel sinnvoller, wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen die Energie, die ihnen krankheitsbedingt oft nur begrenzt zur Verfügung steht, genau so frei und öffentlich nutzen könnten, wie dies Menschen mit einer sichbaren Körperbehinderung zugestanden wird. Jahn Graf hat seinem Moderationsjob beim Schweizer Fernsehen bekommen, weil er mit seinem YouTube-Kanal öffentlich sichtbar war. Wer schwere gesundheitliche Einschränkungen und dadurch oft auch grosse Lücken im Lebenlauf hat, kommt in der Regel in einem konventionellen Bewerbungsverfahren nicht weit. Wer seine Fähigkeiten aber öffentlich präsentieren kann, findet möglicherweise genau dadurch eine Nische, wo er oder sie sich beruflich verwirklichen kann. Dass Menschen mit unsichtbaren/psychischen Erkrankungen diese Chance wegen einer bünzligen Vorstellung von «richtiger Behinderung» und überbordender Missbrauchsparanoia verwehrt wird, ist nicht nur bösartig, sondern auch sehr dumm.

[5/x] Das grosse Verdrängen und Verleugnen – so wird das nix

Das zentrale Fazit meines letzten Artikels lautete:

Es scheint so, als ob von der Bundesrichterin bis zum gehässigen Nachbarn wirklich jeder in der Schweiz über die Kriterien (z.B. eigenes Bauchgefühl) mitbestimmen darf, nach denen beurteilt wird, ob Personen mit einer psychischen oder unsichtbaren Krankheit erwerbsunfähig sind oder nicht.

Kurz nach der Publikation des Artikels las ich ein aktuelles Urteil des Versicherungsgerichts St. Gallen. Es betraf einen Versicherten mit mehreren psychiatrischen Diagnosen, bei dem über die Jahre hinweg zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken dokumentiert waren. Doch das war für die IV und das Gericht irrelevant. Relevant war für das Gericht vor allem Folgendes:

Selbst für einen Laien ist nachvollziehbar, dass eine schwer depressive Person, die sich auch in Menschenansammlungen nicht wohlfühlt und zurückgezogen lebt, keine Tischfussballtrainings und Tischfussballturniere absolvieren kann, bei denen volle Aufmerksamkeit, Schnelligkeit und rasche Reaktionsfähigkeit gefordert sind und sozialer Kontakt mit anderen Menschen unvermeidlich ist.

Weshalb gibt die IV eigentlich jedes Jahr Millionen für ärztliche Gutachten aus, wenn «jeder Laie» eine Erwerbs(un)fähigkeit erkennen und einschätzen kann?

«Richtige» Behinderte: Yay! Psychisch Kranke: Nay!

Während «Tischfussball» bei einem Versicherten mit mehreren psychiatrischen Diagnosen der absolute sichere Beweis dafür ist, dass die Person keinen Anspruch auf eine IV-Rente hat, kann eine Rollstuhlsportlerin übrigens völlig problemlos öffentlich kundtun, dass sie keine Kapazitäten zum Arbeiten hat, weil sie für die olympischen Spiele trainiert:

Sie trainiert 14 Stunden pro Woche und ist Halbprofi. Einer geregelten Arbeit kann die kaufmännische Angestellte daneben nicht mehr nachgehen. «Durch die IV-Rente und die Sponsoring-Beiträge kann ich mich voll dem Sport widmen», sagt sie.

Ich nehme an, es ist eben selbst für Laien nachvollziehbar, dass Rollstuhlfahrer·innen «richtige Behinderte» sind und deshalb ganz grundsätzlich Anrecht auf eine IV-Rente haben, damit sie in Ruhe für Olympia trainieren können.

Dass Rollstuhlfahrer sowieso die einzigen «richtigen Behinderten» sind, war letzten Herbst auch in der Sendung «Club» des Schweizer Fernsehens zum Thema «Menschen mit Behinderung – Mittendrin oder am Rand?» überdeutlich zu sehen. Die Betroffenen wurden nämlich durch drei Männer im Rollstuhl repräsentiert. Frauen? Andere Arten der Behinderung? Fehlanzeige.

Dagegen ist die Pro Infirmis geradezu divers aufgestellt mit ihrem neuen Ausschuss «Partizipation und Inklusion», den sie sich als «grösste Fachorganisation der Schweiz» (42 Mio. IV-Subventionen/Jahr) 100 Jahre nach ihrer Gründung als «Schweizerischen Vereinigung für Anormale (SVfA)» selbst zum Geburtstage schenkte. Der Ausschuss besteht aus drei Personen mit einer Körperbehinderung, zwei mit einer Sinnesbehinderung und einer Person mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Die Betroffenen mit einer psychischen Erkrankung, die mit 50% die weitaus grösste Gruppe unter die IV-Beziehenden stellen, sind allerdings nicht vertreten. Da hält man es mit der guten alten Tradition, wonach die Pro Infirmis nur «richtige Behinderte» und explizit keine psychisch Kranken vertritt:

Statuten der Pro Infirmis von 1949 – offiziell wurden sie seither zwar erneuert, innoffiziell weht der alte Geist aber offenbar munter weiter.

Sollen die «Psychos» ihren Anliegen halt auf andere Weise Gehör verschaffen. Gibt heute schliesslich genug Möglichkeiten mit diesem Internet. Also schauen wir doch mal genauer hin, wie das mit den sozialen Medien so funktioniert. Kürzlich wurde ein Tweet bzw. Artikel von mir folgendermassen kommentiert:

Weil ich den Kommentar treffend fand, hätte ihn ihn gerne retweetet, damit ihn auch meine rund 1600 Follower·innen auf Twitter sehen können. Da aber die verfassende Person mit einer unsichtbaren Erkrankung lebt, hat sie ihren Twitternamen anonymisiert und zudem ihre Tweets geschützt. Das bedeutet, dass ihre Tweets nicht öffentlich sichtbar sind und nur von wenigen handverlesenen Followern gelesen werden können (die Publikation hier im Blog erfolgt in Absprache mit der betroffenen Person). Zu gross ist die Sorge, dass aus den öffentlichen Äusserungen Nachteile erwachsen könnten. Eine Sorge übrigens, die viele andere Betroffene teilen. Regelmässig habe ich in den letzten Jahren von Menschen mit psychischen/unsichtbaren Erkrankungen gehört, dass sie sich ganz bewusst nicht öffentlich äussern, denn die IV-Rente sei quasi ein «Schweigegeld».

Dies bewirkt einen perfiden Teufelskreis: Betroffene halten aus Angst den Mund und sind deshalb nicht im öffentlichen Diskurs präsent. Deshalb ändert sich nichts, weshalb Betroffene den Mund halten müssen, weshalb sich nichts ändert… ect.

Und so formen weiterhin andere die Erzählungen über Menschen mit einer psychischen Erkrankung: Karrieregeile Politiker, Juristen mit ihren 500 Shades of Missbrauchsfantasien und der sprichwörtliche Mann von der Strasse.

Die Realität aushalten

Die einzige Erzählung, in der sich Betroffene ohne negative Konsequenzen öffentlich inszenieren dürfen, ist die instagrammable Erfolgsstory mit Happy-End. Also sowas wie: Engagierte Managerin erleidet aufgrund beruflicher Überlastung ein Burnout, findet in einer exklusiven Klinik im Bündnerland zu ihrem «wahren Ich», verwirklicht sich mit einer schicken Praxis als Klangschalentherapeutin selbst und begrüsst fortan glücklich und im inneren Gleichgewicht jeden Morgen energiegeladen mit dem Sonnengruss und anschliessendem Grünkohlsmoothie.

Solche Geschichten widerspiegeln die Realität vieler psychisch Erkrankter nicht einmal in Ansätzen. Menschen, die seit ihrer Jugend (50% aller psychischen Störungen beginnen vor dem 14. und 75% vor dem 25. Altersjahr) so schwer krank sind, dass sie nur mühevoll oder vorübergehend/prekär den Weg ins Erwerbsleben finden, sind in der Regel nicht durch «zuviel Arbeit» krank geworden. Vielmehr verhindert «zuviel psychische Krankheit» einen erfolgreichen Einstieg oder erschwert den Verbleib ins Berufsleben, weil sich «Krankheit» und «Arbeit» nicht oder nur bedingt gleichzeitig managen lassen. Das ist eine brutale Realität für die Betroffenen, wie auch für die Professionellen:

Alle, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten, wissen, wie oft man sich hilflos, frustriert, verärgert fühlt und wie schwierig es ist, Menschen zu begegnen, die grosse Fähigkeiten haben und diese wegen ihrer Krankheit nicht umsetzen können. Das Aushalten dieser Tatsache ist enorm anstrengend und oft eben «kaum auszuhalten». Das «Nichtaushalten» dieser Realität kann dazu führen, dass es diese Realität nicht mehr geben darf. (…) Das Verleugnen der Krankheit und deren Folgen ist eine typische Abwehrstrategie, die dazu dienen sollte, den Umgang mit der hoch belastenden Realität psychisch Kranker zu erleichtern. Das Abwehren bringt jedoch gravierende kontraproduktive Konsequenzen mit sich.

Domingo A, Baer N. Stigmatisierende Konzepte in der beruflichen Rehabilitation, Psychiatrische Praxis 2003; 30: 355-357

Anna Domingo und Niklas Baer zeigen in diesen äusserst lesenswerten Artikel auf, wie das Verleugnen der Realität die ohnehin anspruchsvolle Rehabilitation von Menschen mit einer psychischen Erkrankung noch zusätzlich erschwert und plädieren für eine radikale Ehrlichkeit:

Es würde leichter fallen, ehrlich zu sagen: «Hier ist ein Klient, der sehr gerne arbeiten würde und das auch kann, aber er hat Absenzen, wenn es ihm nicht gut geht, er ist besonders sensibel für unausgesprochene Konflikte, er hat schnell das Gefühl, man schätze seine Arbeit nicht, man kann ihm mit gutem Willen allein nicht dauerhaft helfen und zum Betriebsfest kommt er auch nur, wenn ihn jemand begleitet. Aber wir werden ihn am Arbeitsplatz betreuen und können den Arbeitskollegen genaue Informationen über seine Probleme und Fähigkeiten sowie über nötige konkrete Anpassungen am Arbeitsplatz vermitteln.

Fazit des Artikels:

Die Energie, die heute durch einen unerfüllbaren und deshalb resignationsfördernden Normalitätsanspruch gebunden wird, wäre wieder frei. Diese Energie wird dringend benötigt, um die fachliche Weiterentwicklung zu fördern und um die Idee umzusetzen, dass psychisch kranke Menschen viel beitragen können, wenn sie sich unterscheiden dürfen.

Obwohl der zitierte Text von Domingo und Baer fast 20 Jahre alt ist, zieht sich immer noch die unfassbar bünzlige (und diskriminierende) Vorstellung quer durch grosse Teile der Gesellschaft, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in geschützten Settings erstmal zur «Normalität» trainiert und erzogen werden sollen, bevor sie dann – genügend normalisiert und ohne Bezug einer IV-Rente – am regulären Arbeitsmarkt und gesellschaftlichen/öffentlichen Leben (Hobbies, Socialmedianutzung, Beziehungen) teilnehmen dürfen.

Eine Gesellschaft, die offenbar problemlos fähig ist, die Ambivalenz auszuhalten, dass Menschen, die im Rollstuhl sitzen und eine IV-Rente beziehen, gleichzeitig sportliche Höchstleistungen erbringen, Fernsehsendungen moderieren oder sich politisch engagieren, könnte dieselbe Ambivalenzfähigkeit ja auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen aufbringen.

Aber offenbar will sie das halt einfach nicht.

Fortsezung folgt… (Ich verspreche, im nächsten Artikel keine Vergleiche mit Rollstuhlfahrer·innen mehr zu machen und endlich ein paar konkrete Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen)

Warum die IV keine «Behindertenversicherung» (mehr) sein soll

Anders als der Bundesrat in seiner Motionsantwort von 2010 halte ich es für eine gute Idee, die Invalidenversicherung in «Erwerbsunfähigkeitsversicherung» umzubenennen – und ich halte es sogar für eine noch viel bessere Idee, die EUV dann auch inhaltlich ihrem neuen Namen entsprechend umzugestalten.

Die Haltung «Irgendwas mit Behinderten? Dafür ist die IV zuständig» ist nach wie vor weit verbreitet. Beispielsweise wenn in einer Gemeindeversammlung (allerdings erfolglos) gegen den Einbau eines Liftes ins Schulhaus votiert wird:

Der Lift sei erst einzubauen, wenn von der Schule wegen eines behinderten Kindes wirklich das Bedürfnis bestehe, wurde gefordert: Dann helfe auch die Invalidenversicherung bei der Finanzierung.

Das mag im Kanton Bern (noch) der Fall sein, andere Kantone (z.B. Zürich) kennen in ihrer Gesetzgebung bereits eine Pflicht zur hindernisfreien Umgestaltung der (bestehenden) öffentlichen Gebäude. Das heisst, dort trägt die Gemeinde und nicht die IV die Umbaukosten. Eigentlich sollte das überall selbstverständlich sein.

Wenn aber sogar die INSOS-Präsidentin vorschlägt, die Invalidenversicherung künftig VMB (Versicherung für Menschen mit Beeinträchtigung) zu nennen, zeugt das von einem grossen blinden Fleck im Bezug auf sich bereits im Gange befindliche gesellschaftliche Veränderungen. Seit der Neugestaltung des Finanzausgleiches (NFA) 2008 ist auch die Beschulung von Kindern mit Behinderung nicht mehr Aufgabe der IV, sondern der Kantone. Die Zuständigkeit liegt damit dort, wo sie hingehört: bei den Bildungsdirektionen. Und nicht bei der «Behindertenversicherung».

Bei einer konsequenten Umgestaltung der IV zu einer EUV könnten weitere EUV-fremde Bereiche an andere Akteure übertragen werden. Es ist nicht nachvollziehbar (ausser historisch), weshalb eine EUV eine extra «Behindertenmedizin» (z.B. Behandlung von Geburtsgebrechen) finanzieren sollte. Medizinische Behandlungen (sowie Hilfsmittel wie Prothesen, Rollstühle, Hörgeräte) sollten über die obligatorische Krankenpflegeversicherung gedeckt werden.

Mir ist völlig klar, dass dieser Vorschlag (noch) keine Chance hätte. Dazu ist die KK-Lobby im Parlament viel zu stark. Ausserdem: Omg! NOCH höhere KK-Prämien! (Die IV bezahlte 2015 für medizinische Massnahmen 820 Mio und für Hilfsmittel 205 Mio). Auch die Behindertenorganisationen würden aufschreien, denn bei IV-Leistungen gibt es natürlich keine Selbstbehalte und bei den KK schon. Allerdings wurden die Adressaten der Vernehmlassung zur 7. IV-Revision gefragt:

Sind Sie einverstanden mit der Anpassung der IV-Leistungen bei Geburtsgebrechen an die Kriterien der Krankenversicherung (…) welche Kosten übernommen werden?

Da stellt sich dann schon die Frage, wozu die Geburtsgebrechenliste der IV überhaupt noch dient und ob damit nicht sowieso die Überführung der Kosten in die obligatorische Krankenpflegeversicherung eingeleitet wird.

Auch bei den Beiträgen an Organisationen der privaten Invalidenhilfe nach Art 74 IVG ist bei diversen Leistungsempfängern fragwürdig, warum sie Unterstützung der IV erhalten (Stiftung aha! Allergiezentrum Schweiz, Aidshilfe Schweiz, Dachorganisation der Suchthilfe ect.). Viele Organisationen sollten eher (nur) vom BAG unterstützt werden (Rheumaliga, Krebsliga) oder von ganz anderen Trägern aus dem Bereich Sport (Plusport Behindertensport Schweiz) oder Bildung (Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH, SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte AG).

Bei einer konsequenten Ausrichtung der EUV dürften dann eigentlich fast nur noch die «Stiftung Profil – Arbeit & Handicap» und «IPT – Fondation Intégration pour tous» EUV-Beiträge erhalten. Alle anderen Organisationen müssten die Finanzierung ihrem Unterstützungsangebot gemäss neu organisieren. «Irgendwas für Behinderte» reicht dann nicht mehr; ist es was gesundheitliches (-> BAG), Sport? Bildung? Bitte an die entsprechenden Stellen wenden.

Ja, das ist mühsam. Nein, das wollen die entsprechenden Organisationen nicht. Die Rundumsorglos-Unterstützung-Beiträge des BSV sind halt schon bequem. Aber auch genau das Gegenteil von zu Ende gedachter Inklusion. Zugang zu Bildung, Sport, Informationen, medizinische Versorgung u.s.w. sind keine spezifischen «Behindertenprobleme». Sie als solche zu behandeln (und zu finanzieren) ist nicht inklusiv.

Mir ist bewusst, dass es ca. 100’000 Einwände gegen eine solche Umgestaltung gibt. Aber der Untertitel des Blogs heisst ja nicht «Pfannenfertige Lösungen für die IV» sondern «Notizen zu …». «Notizen» wie in «Kann man ja mal drüber nachdenken» und es dann interessant, nicht so gut oder extrem doof finden. Und wenn man möchte, kann man seine vielviel besseren Ideen auch mittels der Kommentarfunktion unter dem Artikel kundtun.

Die Invalidenversicherung ist keine «Behinderten»- sondern eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung

Im Herbst 2010 reichte die EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller die Motion «Invalid ist nicht mehr in» ein:

Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament rechtliche Grundlagen vorzulegen, die es ermöglichen, den im Regelwerk der nationalen Gesetzgebung verwendeten Begriff „Invalid“ (und die mit ihm verwandten Begriffe) zu ersetzen.

Ich schrieb damals noch vor der Beantwortung des Vorstosses durch den Bundesrat:

Bevor nun eine überbezahlte PR-Agentur mit der neuen Namensfindung beauftragt und Gremien zur Auswertung der Vorschläge einberufen werden, schlage ich vor, das Ganze für einmal höchst unbürokratisch, kurz und schmerzlos zu halten und aus der Invaliden- eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung zu machen.

Der Bundesrat fand das aber keine gute Idee:

Bereits im Rahmen der 5. IV-Revision (…) prüfte der Bundesrat die Möglichkeit, den Ausdruck „Invalidität“ durch „dauernde Erwerbsunfähigkeit“ zu ersetzen. Doch auch dieser Ausdruck wurde verworfen, da er ebenfalls negativ konnotiert ist („Erwerbs-un-fähigkeit“) und keine Verbesserung bringt.
Eine neue Terminologie zöge zudem eine Änderung der Bundesverfassung (was eine Volksabstimmung zur Folge hätte) und verschiedener Bundesgesetze nach sich. Zudem müssten zahlreiche internationale Vereinbarungen über soziale Sicherheit angepasst und neu verhandelt werden. Ein solch erheblicher administrativer Aufwand stünde in keinem Verhältnis zur erhofften Verbesserung.

Im April dieses Jahres hat Nationalrätin Marianne Streiff-Feller die selbe Forderung unter dem Titel «Gegen sprachliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderung»  und inhaltlich basierend auf dem geklauten Leitfaden der Agile («Sprache ist verräterisch») nochmals eingereicht. Genau wie 2010 schreibt sie:

Der Ausdruck „Invalidität“ wird seit Jahren von Menschen mit Behinderungen, deren Angehörigen und weiteren Kreisen als diskriminierend empfunden. Die Kantonalen Behindertenkonzepte verwenden die Terminologie „Menschen mit Behinderung“, im Behindertengleichstellungsgesetz wird nicht von Invaliden gesprochen. Es ist höchste Zeit, dass auch der Bund diesen Begriff abschafft.

Im gestrigen 20 Minuten erklärte Streiff-Feller:

Die IV könnte zum Beispiel VMB heissen – Versicherung für Menschen mit Beeinträchtigung.

Scheinbar hat Frau Streiff-Feller in den letzten fünf Jahren niemand erklärt, dass behindert «beeinträchtigt» nicht das selbe ist wie «erwerbsunfähig». Denn die IV ist keine «Behindertenversicherung», sondern eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Und viele Menschen mit sichtbarer Behinderung kämpfen genau gegen das Vorurteil, dass sie aufgrund ihrer Behinderung automatisch für erwerbsunfähig gehalten werden. Streiff-Feller hätte einfach mal ihren Fraktionskollegen, den sichtbar behinderten CVP-Nationalrat Christian Lohr fragen können, weshalb er – obwohl ganz offensichtlich Nationalrat – in fast jedem Interview erklären muss, dass er keine IV-Rente bezieht.

Aber daran hat die INSOS-Präsidentin Streiff-Feller (INSOS = Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderungen) trotz ihrem behinderten Nationalratskollegen ganz offenbar nicht gedacht: Dass es ausserhalb der Institutionen tatsächlich Menschen gibt, die zwar behindert beinträchtigt, aber nicht erwerbsunfähig sind.

Und das ist es, was mich am Behindertenbereich immer wieder so enorm stört; Man protestiert mal lautstark und öffentlich gegen irgendwas, weil das doch soooo gemein gegen die aaarmen Behinderten wäre. Aber die ganze Sache vorher wirklich durchdacht hat man nicht. Und praktikable und wirklich überzeugende Lösungsvorschläge anbieten kann man auch nicht.

Da muss man sich dann auch nicht wundern, wenn SVP-Nationalrat Mauro Tuena den Vorstoss folgendermassen kommentiert:

«Wir haben weiss Gott andere Probleme in diesem Land.»

Aber vielleicht gehören solche Pseudovorschläge zum ganzen Spiel dazu: Damit Menschen mit (und auch ohne) Behinderung öffentlich vorexerziert wird, dass «man» sich für die Behinderten einsetzt, (aber ja doch…) aber leider leider sind alle anderen so gemein und wollen sich einfach keine guten Lösungen einfallen lassen.

So ermächtigt man keine Betroffenen, man hält sie im Opferstatus.

Siehe auch: Warum die IV keine «Behindertenversicherung» (mehr) sein soll 

Wozu braucht die Gesellschaft Behinderte?

Jedesmal wenn irgendwo der Satz «Die Gesellschaft braucht Behinderte» fällt, frage ich mich, wie wohl derselbe Satz aufgenommen würde, wenn man «Behinderte» mit Braunäugige/Weisshäutige/Rothaarige (Merkmal nach freier Wahl einsetzen) ersetzen würde. Ich finde es nämlich eine ziemlich gruselige Vorstellung, dass eine Gruppe Menschen aufgrund irgend eines willkürlichen Merkmals eine «Nützlichkeit» für eine Gesellschaft haben soll, und noch grundsätzlicher gesagt, mag ich gar nicht erst anfangen, die «Nützlichkeit» eines Menschen zu definieren. Nur ein kurzer Denkanstoss dazu: Robert Oppenheimer, «Vater der Atombombe»: Nützlich – Ja oder Nein? Und je nachdem, zu welchem Ergebnis man kommt; heisst das dann, «dass die Gesellschaft Männer mit deutsch-jüdischer Abstammung (nicht) braucht»? Sehr glitschiges Terrain hier… und überhaupt; so kann man das doch nicht verallgemeinern!

Ja merkwürdig, bei «Behinderten» kann man das aber. Die sind nämlich keine Individuuen, sondern eh alle gleich. Darum setzt man auch Down-Syndrom-Kinder so gerne als Synonym für «die Behinderten». Die sind laut Klischee immer fröhlich und merken auch gar nicht, dass sie behindert sind. Was zwar nicht stimmt, denn natürlich können auch Menschen mit einer (leichten) geistigen Behinderung erkennen, dass Nichtbehinderte Möglichkeiten haben, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht haben (z.B. bei der Berufswahl). Aber Behinderte mit individuellen Vorlieben oder gar Berufswünschen, das passt dann doch nicht ins Bild! Die sollen doch auch gar nichts wollen, es reicht, wenn sie fröhlich und damit eine «Bereicherung für die Gesellschaft» sind.

Es klingt zwar – erstmal – nett, wenn man sagt, dass «Behinderte» eine Bereicherung darstellen. Aber das einzige Merkmal, dass alle Menschen mit Behinderung verbindet ist – die Behinderung. Und eine Behinderung/chronische Erkrankung per se ist – mit Verlaub – keine Bereicherung, sondern kann etwas Lästiges bis sehr Quälendes sein. Der vielgepriesenen «Fröhlichkeit» bei einer geistigen Behinderung liegt auch nicht eine grundsätzlich positive Weltsicht zugrunde, sondern ein Defizit, nämlich u.a. die mangelnde Fähigkeit, vorausschauen/planen zu können. Das Leben im Moment (wie Kinder es in Ermangelung des Vorauschauenkönnens ebenfalls tun) mag von aussen «erfrischend» wirken. Aber wenn man sich als erwachsener Mensch mit einer geistigen Behinderung vorschreiben lassen muss, wie/wo man zu wohnen hat, um welche Zeit in einem Heim die Mahlzeiten stattfinden, ob und wie eine mögliche Partnerschaft gelebt werden darf und wie mit einem etwaigen Kinderwunsch umgegangen wird, ist das alles vielleicht nicht mehr ganz so «unbeschwert».

Und wenn jemand sagt, dass er durch seinen behinderten Sohn oder die demente Grossmutter «Geduld» oder die «Freude an kleinen Dingen» gelernt hat, ist das natürlich sehr schön, aber um beim Wort «brauchen» zu bleiben: Ist es nicht ziemlich anmassend, dass gewisse Menschen ein eingeschränktes/beschwerliches Leben führen müssen, damit Gesunde «was lernen können»?

So kann man die Frage natürlich nicht stellen, denn Behinderungen/Krankheiten gibt es halt einfach; so wie es Braunäugige/Weisshäutige/Rothaarige gibt. Manche Behinderungsarten verschwinden (Möchte hier vielleicht doch noch jemand ein bisschen Kinderlähmung bekommen, so als «Bereicherung» für die Gesellschaft?), andere nehmen hingegen zu (aktuell: Demenz). Behinderte sterben also ganz sicher nicht aus, wie manche behaupten.

Und wenn man mal genauer hinschaut, verbirgt sich hinter der vordergründigen Sorge ums «Aussterben» der Behinderten an so manchen Orten pure Instrumentalisierung zugunsten eigener Interessen, so beispielsweise in der sozialistischen Zeitung «vorwärts»:

Wenn man bedenkt, dass die Norm durch den Durchschnitt definiert wird, bedeutet dies nichts anderes, als dass sich der Leistungsdruck auf uns alle erhöht, sobald man sich den aktuell Schwächsten entledigt.

So klar wird das sonst zwar nicht gesagt (oder wenn, dann zumindest mit korrektem Genitiv), aber diese Einstellung findet man ganz sicher nicht nur bei den radikalen Sozialisten. Vielmehr liegt darin eben tatsächlich ein nicht unbeträchtlicher «Nutzen» von Behinderten: Ist doch immer schön, wenn irgendjemand (leistungs)schwächer, kränker, dümmer, ärmer ist als man selbst.

Solange man selbst nicht dieser jemand ist.

(An dieser Stelle nochmal die Frage: Kinderlähmung anyone? Oder MS, Schizophrenie, ein schwerer Unfall? So als wohltätiger Dienst an der Gesellschaft?)

Arme Behinderte

Das Narrativ des «armen Behinderten» erfreut sich nicht nur bei Behindertenorganisationen grosser Beliebtheit, auch in den Medien sind regelmässig Geschichten von «armen IV-Bezügern» zu lesen, die mit ganz ganz wenig Geld auskommen müssen. Da diejenigen, die erst im mittleren oder höherem Alter behindert invalid wurden, in der Regel zusätzlich zur IV auch eine Rente der Pensionskasse erhalten und damit finanziell meist ganz ordentlich abgesichert sind, drehen sich die entsprechenden Zeitungsartikel häufig um extrem bemitleidenswerte Früh- oder Geburtsbehinderte, die zusätzlich zur vollen ausserordentlichen IV-Rente (1567.-) auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind.

So berichtete letztes Wochenende die Schweiz am Sonntag über den angeblich «rätselhaften Entscheid der Behörden» wonach die mit Glasknochen lebende Sängerin Vanessa Grand plötzlich 65 Franken weniger Ergänzungsleistungen pro Monat erhalte. Im ganzen Artikel wird nicht erklärt, weshalb dem so ist, dafür um so mehr Seitenhiebe in alle Richtungen verteilt:

«Mit der IV-Rente und den Ergänzungsleistungen erhalte ich jetzt nur noch 1855 Franken im Monat – davon zu leben, ist fast unmöglich», sagt Vanessa Grand mit schwerer Stimme.
Gemäss Grand beruhen die Berechnungen der Ergänzungsleistungen auf Zahlen eines Vergleichswertes einer gesunden Person. Lebenshaltungs- und Wohnkosten werden nicht anhand der Bedürfnisse einer behinderten Person berechnet.

Hier irrt Frau Grand (und die Schweiz am Sonntag mit ihr). Für den Lebensbedarf werden bei den Ergänzungsleistungen aktuell (2015) 1607.50/Monat eingerechnet, während es bei der Sozialhilfe (je nach Kanton/Gemeinde) nur zwischen ca. 850.- und 970.- sind. (Zusätzlich zum Lebensbedarf gibt es bei den Ergänzungsleistungen die Möglichkeit, auf individueller Basis sogenannte «behinderungsbedingte Mehrkosten» geltend zu machen). Ausserdem wird die kantonale Durchschnittsprämie der Krankenkasse vergütet, welche im Falle von Frau Grand (da sie im Wallis wohnt) bei ca. 350.- liegt. Lebensbedarf (1607.50) und KK (350.-) ergäbe zusammen monatliche Ergänzungsleistungen (inkl. IV-Rente) von 1957.50 -. Dass jemand weniger EL erhält, als offiziell vorgesehen, liegt i.d.R. daran, dass derjenige ein anrechenbares Einkommen erzielt (Als «Einkommen» werden auch Zinsen auf dem Sparkonto, sowie Teile eines (höheren) Vermögens gezählt).

Entgegen der Darstellung in der Schweiz am Sonntag ist die Auszahlung von Ergänzungsleistungen nämlich kein «willkürlicher» Behördenakt, sondern beruht auf genauen gesetzlichen Berechnungs-Vorgaben, die dem Ergänzungsleistungsbezüger in seiner Verfügung auch komplett transparent aufgezeigt werden. Frau Grand hätte also einfach nur ihre eigene EL-Verfügung genau anschauen – und gegebenenfalls (es können ja auch mal Fehler passieren) Einsprache erheben können (Auch dieses Recht ist auf der Ergänzungsleistungsverfügung ausdrücklich vermerkt).

Stattdessen bietet ihr die Schweiz am Sonntag eine breite Plattform, um sich als Opfer zu inszenieren. Zum Beispiel auch hiermit:

Würde ich nicht zu Hause bei meinen Eltern wohnen, wäre ich schon längst pleite.

Auch hier irrt Frau Grand, denn würde sie eine eigene Wohnung bewohnen, würde ihr von den Ergänzungsleistungen selbstverständlich auch der Mietzins vergütet. Als Rollstuhlfahrerin erhielte sie zum üblichen Höchstbetrag (1’100.-) noch 300.- zusätzlich, da rollstuhlgängige Wohnungen in der Regel teurer sind.

Aufgrund ihrer Behinderung ist auch davon auszugehen, dass sie Anrecht auf Hilflosenentschädigung der IV hat (je nach Schweregrad der Hilflosigkeit bis zu 1’880.-/Monat zusätzlich) sowie einen Assistenzbeitrag beantragen könnte, der es ihr ermöglichen würde, persönliche Assistenten anzustellen und somit selbständig zu wohnen.

Was ihre Einkünfte als Sängerin betrifft, sagt Grand:

Von der Musik zu leben, sei unmöglich. Einnahmen aus CD-Verkäufen und Auftritten decken nach eigenen Angaben in keiner Weise die Ausgaben und Spesen. Die Musik sei lediglich ein Hobby.

Als vor einigen Jahren die Presse breit darüber berichtete, dass die Boxerin Aniya Seki aufgrund ihrer Bulimie eine IV-Rente beziehe, füllten sich die Kommentarspalten mit Entrüstung. Boxen, aber IV-beziehen? «Unverschämtheit!» so der Tenor. Singen, aber IV beziehen? Nur ein Hobby, und das geht klar, weil… Vanessa Grand ist ja sichtbar behindert.

Ganz anders sieht das die bundesrichterliche Rechtsprechung bei den Päusbonongs. Dort wird nur allerausnahmsweise eine Invalidität anerkannt, wenn zusätzlich zur eigentlichen Erkrankung mehrere Foerster-Kriterien erfüllt sind. Eines dieser Foerster-Kriterien lautet: «Sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens» und wird vom Bundesgericht besonders streng ausgelegt. Im Falle eines Mannes mit Chronique Fatigue Syndrom befand es:

Sodann bestehen wohl Rückzugstendenzen, hat doch der Beschwerdeführer glaubhaft dargetan, dass er seine früheren zahlreichen Vereinsaktivitäten aufgegeben hat. Andererseits pflegt er weiterhin regelmässigen Kontakt zu Freunden, die ihn zu Hause besuchen, und bezeichnet sich nach wie vor als an Politik und am Gemeindegeschehen interessiert. Zudem beschliesst er jeweils seinen Tagesablauf zusammen mit der Familie auf einem kurzen Abendspaziergang nach dem Nachtessen. Mit Blick auf diese Umstände ist auch das Kriterium des „sozialen Rückzugs in allen Belangen des Lebens“ klar zu verneinen. (9C_662/2009)

Während also jemand mit einer offensichtlichen Geburtsbehinderung Gesangsauftritte absolvieren und trotzdem eine IV-Rente beziehen kann (und sich niemand daran stört) erhält jemand mit einem Päusbonog (d.h. einer unsichtbaren Behinderung) u.a deshalb keine IV-Rente, weil er noch von seinen Freunden besucht wird und in der Lage ist einen kurzen Abendspaziergang zu unternehmen.

Vermutlich ist das ja genau derjenige, den Frau Grand im Auge hat, wenn sie sagt:

Manch anderer spaziere auf zwei gesunden Füssen mit mehr als 4000 Franken IV-Rente durchs Dorf, und auch andere Sozialfälle oder Zugewanderte, gar kriminelle, erhielten zum Teil weit höhere Beiträge als sie, ärgert sich Grand. Sie wolle nicht für sich persönlich jammern, sondern die Missstände aufzeigen, die in der Schweiz bestehen. «Missstände, die anscheinend unsere Politiker nicht in der Lage sind zu regeln.

Abgesehen davon, dass der oben Erwähnte (mit dem CFS) eben gerade keine Rente erhält, auch wenn der Abendspaziergang noch so ungefähr das einzige ist, was er noch kann. Und dass die Höchstrente der IV aktuell 2350.-  und nicht 4000.- beträgt, ist auch nur ein Detail am Rande.

Es gibt ja Leute, die behaupten, «Behinderte seien Experten in eigener Sache.» Bevor man sich allerdings in einer schweizweiten Publikation öffentlich zum Thema äussert, würde es dem einen oder anderen Experten vielleicht ganz gut anstehen, wenn man zumindest über die Gesetzgebung, die einem selbst betrifft (Eigene IV- und EL-Ansprüche) einigermassen im Bilde ist. Dass man sich zudem auch mal über die effektiven Resultate der vor 7 Jahren eingeführten intensiven Missbrauchsbekämpfung bei der IV informiert, ist aber vermutlich schon zuviel verlangt.

Gilt übrigens auch für Journalisten, die den armen Behinderten alles glauben. Behinderte sind halt nun mal keine besseren Menschen und erzählen genau so viel Schmarren wie alle anderen Menschen auch. Menschen mit Behinderung ernst nehmen, heisst dann halt eben auch, dass man genau so darauf aufmerksam macht, wenn sie «Schmarren» erzählen, wie wenn das der IV-Chef, ein Gutachter oder eine Bundesrichterin tut.

«Menschen mit Behinderung sind was ganz Besonderes». Nicht. [Teil 2]

In meinem letzten Artikel versuchte ich darzulegen, warum Menschen mit Behinderung eigentlich genau so besonders oder eben «nicht besonders» sind, wie alle anderen Menschen auch. Das heisst natürlich nicht, dass sich durch eine Behinderung keine besonderen Bedürfnisse ergeben können. Niemand würde wohl bestreiten, dass ein Rollstuhl bei einer Gehbehinderung ein durchaus praktisches Hilfsmittel darstellen kann. Naja fast niemand. Die Pro Infirmis teilte nämlich Ende letzten Jahres auf ihrer Facebookseite folgendes Bild:

special need PI[Bildbeschreibung: Eine comic-artige Darstellung eines Jungen im Rollstuhl, daneben der Text: The only special need that I have, is to be loved and accepted just the way I am]

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Rollstuhl des abgebildeten Jungen durch Akzeptanz ersetzt werden kann (oder sollte). Und ob ihm Liebe in einem mehrstöckigen Gebäude ohne Lift tatsächlich weiterhelfen würde. Ausserdem ist «geliebt und akzeptiert zu werden wie man ist» eben genau kein spezielles Bedürfnis von Menschen mit Behinderung, sondern von allen Menschen. Aber ein «Recht auf Liebe» gibt es für Menschen mit Behinderungen genau so wenig wie für solche ohne Behinderungen.

Und wo wir grad beim Thema «Liebe» sind: Es gibt auch kein «Recht auf Sex». Für niemanden. Es existiert ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (solange man damit niemand anderen beinträchtigt), das Recht auf Schutz vor sexueller Ausbeutung u.s.w. aber ein Recht auf Sex gibt es nicht. Auch wenn sogenannte SexualbegleiterInnen ihre Dienstleistungen gerne damit bewerben, dass auch «Behinderte ein Recht auf Sex» hätten» und es dabei schliesslich «gefühlvoller» zugehe als in der «echten» Prostitution.

Ironischerweise liegt aber gerade im gekonnten Verkauf von Illusionen (besonders gefühlvoll!) der Kern der Prostitution. Oder wie es eine ehemalige Sexworkerin beschreibt:

Sie hat zu sagen, zu denken und zu fühlen, was er sich von ihr verspricht. Das heisst sie tut so als ob. Je perfekter, desto besser. Und egal wie oder was er macht, sie hat es absolut geil zu finden. Sexworkerinnen sind ausgezeichnete Schauspielerinnen. Der Trick ist, (…) ihm das Gefühl zu vermitteln, er, nur er, sei der Einzige, bei dem sie je einen Orgasmus hatte. Wer einen Freier persönlich kennt, wird genau das von ihm hören: “Bei mir ist es ihr wirklich gekommen“

Und nun vergleichen wir das Ganze mit der Aussage des körperlich behinderten John Blades im Film über die australische Sexualbegleiterin Rachel Wotton:

Blades sitzt nach seiner Nacht mit Wotton in einem Strandcafé und feiert sich als Sexmaschine. „Ich glaube, ich war besser als jeder 22-Jährige!“

Menschen (oder sagen wir besser: Männer*) mit Behinderung haben kein «Recht auf Sex», aber sie können sich – genau wie nichtbehinderte Männer – eine Illusion kaufen. Die Illusion. Nicht die Frau. Denn gekaufter Sex bleibt immer Sex mit jemandem, der einem weder liebt noch begehrt. Sonst müsste man ja nicht dafür bezahlen. Oder wie es die deutsche Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp formuliert:

Prostitution ist letzten Endes die institutionalisierte Idee vom Recht auf sexuellen Egoismus. Ihre Existenz garantiert, dass Männer „Fickrechte“ in Anspruch nehmen können, ohne sich über ihre sexuellen Wünsche mit anderen auseinandersetzen zu müssen.

Jeder kann, darf und soll selbst entscheiden, ob sie oder er sexuelle Dienstleistungen anbieten oder in Anspruch nehmen möchte. Es ist allerdings nicht ersichtlich, weshalb man den «nackten Tatsachen» im Falle von behinderten Männern* mit dem Wort «Sexualbegleitung» ein kaschierendes Mäntelchen der Wohltätigkeit umhängen sollte.

. . .

*Natürlich gibt es auch Frauen, die sich sexuelle Dienstleistungen kaufen. Sie machen allerdings eine verschwindend kleine Zahl aus.

«Wir sind mit der Alltäglichkeit von Behinderungen momentan ungefähr da, wo die Homosexualität Anfang der Neunziger war»

Der deutsche Inklusions-Aktivist und Mitbegründer von leidmedien.de Raúl Krauthausen sagte neulich in einem Gespräch mit der «Welt»:

Wir sind mit der Alltäglichkeit von Behinderungen momentan ungefähr da, wo die Homosexualität Anfang der Neunziger war. In etwa zu Zeiten von Komödien wie ,Der bewegte Mann‘, als Schwule noch vorwiegend als lustige Tunten gezeigt wurden

Wie um Krauthausens Aussagen zu unterstreichen, geschahen in den Schweizer Medien kürzlich zwei Dinge: Zum einen erschien in der Aargauer Zeitung ein Artikel über die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, der mit folgenden Worten begann:

Den einen ist Ruth Humbel zu forsch. Wenn beispielsweise aus Anlass der IV-Revision Behinderte in die Wandelhalle des Bundeshauses eingeladen werden, dann sagt sie: «Ob dieser Betroffenheitspolitik wird mir fast schlecht.» Andere finden diese direkte Art erfrischend – endlich sagt ein Politiker, was er wirklich denkt.

Solche Aussagen kann man als gewählte Volksvertreterin in der Schweiz mal eben ganz locker machen – das finden die einen dann allerhöchstens etwas «forsch» oder eben gar «erfrischend». Auch die NZZ drückte vor einem Jahr deutlich ihr Unbehagen mit der «Betroffenheitspolitik» von Christian Lohr aus. Protest von irgendeiner Seite? Nö.

Ganz anders sieht es aus, wenn ein SVP-Nationalrat sich über die angeblich «verkehrt laufenden Hirnlappen» Homosexueller äussert. Empörung auf allem Kanälen. Die Medien greifen das Thema auf und Herr Bortoluzzi erhält allüberall Plattformen um (je nach Sichtweise) den anderen «Ewiggestrigen» zu versichern, dass sie mit ihrer Meinung («ich bin normal und die anderen abnormal») nicht alleine sind oder aber um sich weiter mit seiner (aufgeklärten Zeitgenossen zufolge) ewiggestrigen Meinung zu blamieren. Zweitere veröffentlichen dann engagierte Postings und «offene Briefe» in den Socialmedia, um für die Gleichberechtigung homosexueller Menschen zu plädieren die eigene Coolheit zu demonstrieren, weil man doch so weltoffen und aufgeklärt ist. Gleiches bei der NZZ am Sonntag wo man man sich in der Rubrik «Wortkontrolle» süffisant über Bortoluzzi lustigmacht.

Dabei befinden sich sowohl die Socialmediaempörten wie die NZZ auf der sicheren Seite, da man ja weiss, dass man sowieso in der Mehrheit ist, schliesslich hat das Schweizer Volk bereits vor neun Jahren das Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare angenommen. Damit möchte ich im übrigen nicht sagen, dass es  – besonders in ländlichen konservativen – Gegenden nicht nach wie vor schwierig sein kann für homosexuelle Jugendliche sich zu outen. Aber in Zeiten, in denen die Stadtpräsidentin der grössten Schweizer Stadt öffentlich in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben kann, ist Homosexualität vielleicht nicht mehr ganz so exotisch.

Es wäre allerdings einmal interessant zu erfahren, wieviele der heutigen «Weltoffenen» vor 25 Jahren (wären sie denn damals schon alt genug dazu gewesen und hätte es die Socialmedia schon gegegeben) öffentlich ihre Unterstützung gegen Diskriminierung Homosexueller gezeigt hätten. Vermutlich nicht ganz so viele wie heute, da es ihren «Coolheitsfaktor» damals nicht unbedingt erhöht hätte.

Und da stehen wir heute mit «Behinderung». Ist nicht ganz so cool. Menschen mit Behinderungen dürfen zwar kurz vor Weihnachten ihre behinderten Körper in Form von Schaufensterpuppen mal kurz in der Öffentlichkeit präsentieren, trifft man dann aber real in der Wandelhalle des Bundeshauses oder gar im Parlament auf sie, findet man das nicht mehr ganz so herzerweichend eine Zumutung. Und das, das darf man nach wie vor öffentlich unwidersprochen äussern. Als Nationalrätin wie auch als NZZ.

Herrn Bortoluzzi wurde übrigens öffentlichkeitswirksam von Vertretern aller(!) Parteien augenzwinkernd ein Putzlappen überreicht (den er drehen und wenden kann wie er will). Dazu gab’s einen Auszug aus der Bundesverfassung, wonach niemand aufgrund seiner Lebensform diskriminiert werden darf.

Wenn Frau Humbel vor der nächsten Behandlung von Behindertenbelangen im Parlament von Vertretern aller Parteien ein Fläschchen Paspertin (und als charmante Zugabe vielleicht eine mit einem sinnigen Spruch bedruckte Spucktüte?)* überreicht bekäme, mit gleichzeitiger Lesung von Artikel 8, Absatz 2 der Bundesverfassung:

«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung»

wären wir mit der Alltäglichkeit von Behinderung (und dem Nichtakzeptieren von diesbezüglicher Diskriminierung) einen Schritt weiter. Bis dahin ist es aber offenbar noch ein weiter Weg.

*Diese Idee hatte ich im Übrigen schon vor der der Bortoluzzi-Putzlappenaktion, aber ich hoffte (da so naheliegend) da käme man bei der einen oder anderen Behindertenorganisation von selbst drauf und würde vielleicht…

Nun ja… Mal wieder die spontane Reaktionsfähigkeit von Behindertenorganisationen überschätzt. Man trinkt ja erst Tee. Meditiert. Oder … schläft gründlich aus.

An den Rollstuhl gefesselte Supermänner die auf eine IV-Rente verzichten

Falls es noch einen Beweis gebraucht hätte, dass der im letzten Blogartikel vorgestellte Sprachleitfaden nötig bzw. die durch dessen Lektüre angeregte Sensibilisierung wünschenswert wäre: Der ostschweizerische  «Anzeiger» erbrachte ihn mit seinem am 19. März 2014 publizierten Artikel «Superman mit Handicap» über den Thurgauer Rollstuhlsportler Marcel Hug. Einige Auszüge:

«Seine Wohnung liegt im zweiten Stock, einen Lift gibt′s nicht. So stemmt sich der Mann mit Spina bifida («offener Rücken») jedesmal mit Krücken die Treppen hoch.»

«Eine IV-Rente hat er nie beantragt, obwohl sie auch ihm möglicherweise zustünde. Warum nicht? «Weil ich im Moment gut durchkomme mit dem Sport, und weil ich stolz bin, dass ich auf eine IV-Rente nicht angewiesen bin.»

«Obwohl er mit seiner vorgeburtlichen Rückenmarkschädigung an den Rollstuhl gebunden ist (…)»

«Mit Sätzen wie «Ich will als Sportler respektiert und nicht als Behinderter bewundert werden» oder «Ich mache Sport, obwohl ich im Rollstuhl bin, und nicht, weil ich im Rollstuhl bin» verschaffte er sich Respekt und mauserte sich zu einem Aushängeschild des Behinderten- und Rollstuhlsports.»

Wie der Titel schon sagte: «Superman». Kann alles, braucht keinen Lift, und keine IV-Rente und Respekt verschafft er sich mit Sätzen, die in den Ohren des Journalisten offenbar wahnsinnig beeindruckend klingen, aber dessen Sinn er ebenso offenbar nicht verstanden hat, ansonsten würde er den Respekt der Hug entgegengebracht wird, nicht auf dessen «Sätze» sondern dessen Leistung zurückführen. Oder welcher nichtbehinderte Sportler wird aufgrund von «Worten» statt seiner Leistung anerkannt?

Der Verzicht auf die IV-Rente ist etwas, was auch in praktisch jedem Artikel über den Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr explizit hervorgehoben wird:

«(…)sagt Lohr, der seinen Lebensunterhalt ohne IV-Rente selber verdient» («Der Spiegel» hat ihn auch schon mit Bill Clinton verglichen, Tagesanzeiger 14.11.2011)

«Heute arbeitet er als Journalist und Dozent. Er verdient seinen Lebensunterhalt selbst und bezieht keine IV-Rente.» (Lassen Sie sich nicht behindern, Coopzeitung 22.11.2011)

«Lohr arbeitet nicht Teilzeit, sondern mehr als die meisten. Er bezieht keine Invalidenrente, obwohl sie ihm zusteht.» (Christian Lohr «Für seine Überzeugung muss man kämpfen» Beobachter 11. 3.2013)

«Als Schwerbehinderter wehrt sich Nationalrat Christian Lohr erfolgreich gegen das Sparen bei der Invalidenversicherung. Sein eigenes Leben meistert der Mann mit missgebildeten Armen und Beinen ohne eine IV-Rente.» (Siegeszug im Rollstuhl, Weltwoche 12.6.2013)

Im letzten Hort der heroischen Männlichkeit (oder was man dafür hält) der Weltwocheredaktion liebt man solche Darstellungen ganz besonders. Alex Baur schrieb vor einem Jahr auch über den «nach einem Velounfall an den Rollstuhl gebundenen Mirosch Gerber» der – natürlich – «auf eine IV-Rente verzichtet». Im Artikel «Der sympathische Projektmanager im Rollstuhl mit der Katze vs. die anonyme psychisch kranke Kantinenmitarbeiterin mit Migrationshintergrund»  schrieb ich damals: «Aufgrund einer von der IV bezahlten Umschulung konnte sich Gerber schliesslich auch beruflich als Projektmanager wieder erfolgreich eingliedern. Immerhin ist die Weltwoche so ehrlich, auch zu schreiben, dass die IV infolgedessen entschied, dass Mirosch Gerber zu hundert Prozent arbeitsfähig sei. Von einem im Lead erwähnten «Verzicht auf die IV-Rente» kann also keine Rede sein»

Woraufhin Mirosch Gerber im Blog kommentierte: «Sie irren, mit meinem Verletzungskatalog und den Spätfolgen könnte ich wenn ich wollte, 5 IV Renten beantragen und mit hoher Sicherheit auch erhalten».

Wir haben hier also lauter heroische Super-Männer im Rollstuhl, die eigentlich eine IV-Rente bekämen (weil – so der mit all diesen Artikeln vermittelte Eindruck – man ja in der Schweiz mit der Auslieferung des Rollstuhls gleich auch automatisch die IV-Rente dazubekommt), die aber stattdessen todesmutig in die Schlacht ziehen als Rollstuhlsportler/Nationalrat/Projektmanager tätig sind. Natürlich vor allem aus dem Grund, die Sozialversicherungen nicht zu belasten. Nicht etwa aus Notwendigkeit, weil die IV befände, wer als Nationalrat sein (gutes) Geld verdienen kann, wäre an sich nicht IV-berechtigt. Nein, diese «Behinderten» sind alle unsäglich gute Menschen, die alleine aus Dienst an den Mitmenschen arbeiten. Zum Beispiel um diese «zu inspirieren».

Hat irgendwer jemals in einem Artikel über die Rollstuhlsportlerin Edith Hunkeler gelesen, sie würde auf eine IV-Rente verzichten? Ich vermute, dass das nicht daran liegt, dass Edith Hunkeler tatsächlich eine IV-Rente bezieht, sondern dass sie –  wie sehr viele andere RollstuhlfahrerInnen auch – ganz einfach selbstverständlich ihrer Tätigkeit nachgeht. Ohne diesen zusätzlichen männlichen ich-beziehe-im-Fall-keine-IV-Rente-Superhelden-Nimbus.

Ach so, das liegt daran, dass die wirkliche Bestimmung (laut Weltwoche und so) der Frau nicht im Superheldendasein liegt, sondern im Mutter werden? Dazu empfehle ich die Sendung Reporter vom 06.11.2011 des Schweizer Fernsehens «Mutter auf Rädern – Ein Jahr mit Edith Hunkeler und ihrer Tochter Elin» die ziemlich ausgewogen zeigt, dass Mutterschaft zum einen auch für eine Rollstuhlfahrerin möglich ist, zum andern aber auch für eine so gut trainierte Sportlerin wie Edith Hunkeler aufgrund der Behinderung doch nicht immer ganz einfach ist. Manche Momente sind gut, andere sind schwieriger, so wie es bei Nichtbehinderten auch ist.

Wäre schön, wenn eine so ausgewogene Berichterstattung häufiger anzutreffen wäre.