«Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.» – Wirklich nicht?

Wie im letzten Artikel nachgezeichnet, hat die Artikelserie über das IV-Gutachterwesen im Blick zu diversen parlamentarischen Vorstössen geführt. Zwar enthüllte der Blick kaum etwas, was nicht schon seit Jahren bekannt gewesen wäre und auch entsprechende Vorstösse von Parlamentarier*innen gab es früher schon. Diese führten jedoch kaum je zu entscheidenden Verbesserungen. Bundesrat Berset hat nun allerdings auch eine Untersuchung gegen die Aufsichtstätigkeit des BSV veranlasst. Einige parlamentarische Antworten von Berset lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob sich tatsächlich etwas ändern wird. Denn dazu müsste erst einmal (an)erkannt werden, dass auf allen Ebenen Probleme bestehen, die nicht nur oberflächlicher Natur sind, sondern das System komplett durchdringen. Dass Bundesrat Berset das (noch) nicht verstanden hat, zeigt beispielsweise seine Antwort in der Fragestunde vom 16.12.19 auf die Frage von CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt «Schreiben sich die IV-Gutachter beliebig oft selber ab und kassieren dafür?»:

Eine Begutachtung einer versicherten Person ist eine sehr individuelle Angelegenheit, da die Untersuchung und die entsprechende Beurteilung nur einzelfallbezogen vorgenommen werden kann. (…) Das blosse Kopieren aus früheren Gutachten könnte von der IV nicht akzeptiert werden. Ein solcher Fall ist dem Bundesamt für Sozialversicherungen nicht bekannt. Dieses Vorgehen hätte in jedem Fall den vorsorglichen Ausschluss von der Vergabe weiterer Gutachten zur Folge.

Dazu ist folgendes zu bemerken: Bereits 2010 verfassten mehrere Behindertenorganisationen ein Positionspapier, in dem sie Problemfelder im Gutachterwesen aufzeigten und zugleich Lösungsvorschläge formulierten. So wurde u.a. folgendes vorgeschlagen:

Eine unabhängige Fachkommission aus Fachärzten und Juristen beurteilt stichprobeweise einzelne Gutachten und teilt ihre Ergebnisse einerseits der IV-Stelle resp. dem RAD sowie andererseits dem Gutachter resp. der Gutachterstelle mit. (…)

Die Prüfung muss schliesslich aber auch die Gutachten miteinander vergleichen und beispielsweise darauf achten, ob gewisse Gutachter immer wieder die gleichen Textbausteine verwenden, zu gleichen Diagnosen gelangen und Standardaussagen zur Arbeitsfähigkeit machen.

Es ist mehr als fragwürdig, wenn das BSV behauptet, dass ihm angeblich «kein entsprechender Fall» bekannt sei, obwohl die Behindertenorganisationen bereits 2010 explizit die «Textbausteine» erwähnen. Und dass dieses Vorgehen «in jedem Fall den vorsorglichen Ausschluss von der Vergabe weiterer Gutachten zur Folge hätte» stimmt auch nicht, vielmehr ist es so, dass das Bundesgericht in der Verwendung von Textbausteinen aus offensichtlich fremden Gutachten überhaupt kein Problem sieht:

Auch aus dem Vorbringen, die Gutachterin verwende mitunter unzutreffende Textbausteine (so habe sie die Versicherte als kräftig bezeichnet, obwohl diese „eine kleine und alles andere als kräftige Frau“ sei), ergibt sich nicht, dass sie die medizinische Lage der hier am Recht stehenden Versicherten unsachlich beurteilt hätte.

BGE 9C_233/2017

Ebenso befremdlich ist die (natürlich vom BSV verfasste) Antwort des Bundesrates vom 14.8.2019 auf ein Postulat von (mittlerweile Alt-) Nationalrätin Silvia Schenker, die eine Ombudsstelle für die Invalidenversicherung forderte. Der Bundesrat hält eine Ombudsstelle für unnötig und begründet dies u.a. folgendermassen:

Zweckdienlich sind in dieser Hinsicht auch die Forschungsberichte «Evaluation Assistenzbeitrag 2012 bis 2016» und «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten. Erfolgsfaktoren, Verlauf und Zufriedenheit»ersichertenperspektive». Die Berichte stützen sich auf Erhebungen bei Bezügerinnen und Bezügern von IV-Leistungen und zeigen, dass das Vertrauen der Versicherten in die IV hoch ist.

Dass generelle Vertrauen der Versicherten in die IV mit Studien zu belegen, in denen ausschliesslich Versicherte befragt wurden, die eine Leistung (Assistenzbeitrag oder Eingliederungsmassnahmen) zugesprochen erhielten (Zirkelschluss much?), ist wohl in etwa gleich aussagekräftig, wie wenn der Blick am Ende eines Artikels über zweifelhafte Gutachter fragt: «Haben Sie noch Vertrauen in die IV?»

Bildquelle: Blick

Vielleicht kann man ja die Resultate aus den BSV-Studien und der Blickumfrage in einen Topf werfen, dass ganze kräftig einkochen und dann aus dem Bodensatz lesen, wie es tatsächlich um das Vertrauen in die IV steht?

Allerdings… da gab es doch vor einiger Zeit durchaus mal eine Diskussion über die angeknackste Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Bürger*innen, die mittels verschärfter Kontrollen ganz dringend wiederhergestellt werden muss. Dazu aus einem parlamentarischen Votum des Berner BDP-Nationalrats Heinz Siegenthaler:

Der Staat hat die Aufgabe, seine Massnahmen und Handlungen vor Missbrauch zu schützen, dies auch im Bereich der Sozialversicherungen. Diese geniessen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Ohne Kontrollen und Überwachung entsteht aber ein Unbehagen. Der Generalverdacht, der hier oftmals erwähnt wurde, entsteht eben genau dann, wenn glaubwürdige Kontrollen fehlen. (…) Durch diese Missbrauchsfälle, die meist in den Medien noch prominent dargestellt werden, leidet die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. (…) Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Gutachtern. Sie werden dadurch vor unterschwelligen Vorwürfen geschützt (…).

Ich habe im Zitat eine kleine kosmetische Korrektur vorgenommen, natürlich hat Nationalrat Siegenthaler NICHT gesagt «Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Gutachtern.», er hat gesagt: «Kontrollen dienen letztlich auch den ehrlichen Versicherten». Das Zitat stammt aus der parlamentarischen Debatte über die Observation von Versicherten in der Frühjahrsdebatte 2018.

Diese Argumentationslinie von Siegenthaler haben Mitte-Rechts-Politiker*innen sowohl in den parlamentatrischen Debatten als auch und im Abstimmungskampf um die Versicherungsdetektive in unzähligen Varianten durchdekliniert. Die Observationen wurden in geradezu orwellscher Art als grosse Wohltat für Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit angepriesen. Zuweilen klang es, als ob die Betroffenen sogar froh und dankbar sein müssten, wenn sie selbst überwacht werden, denn (nur) so sei schliesslich der eindeutige Beweis erstellt, dass sie keine Betrüger seien. Erstaunlich nur, dass niemand vorgeschlagen hatte, dass diejenigen, bei denen die Überwachung zeigte, dass sie tatsächlich behindert sind, sich doch ein Echtheitszertifikat ans Revers heften sollten (ein hübscher gelber Stern vielleicht?).

Wer meint, das sei jetzt aber doch ein bisschen gar weit hergeholt: In seiner Dissertation «Psychosomatische Leiden und IV-Rentenanspruch» (Zürcher Studien zum öffentlichen Recht 257, 2018) plädiert der Jurist (und ehemalige BSV-Mitarbeiter) Kaspar Gerber dafür, dass bei psychosomatischen Leiden Detektivüberwachungen nicht nur bei einem konkreten Missbrauchsverdacht, sondern als «reguläre Abklärungsinstrumente» eingesetzt werden sollten. Gerbers «500 Shades of Missbrauchsfantasien» entlocken einem beim Lesen auch sonst ein permanentes «WTF?!» und lassen keinen Zweifel daran, welcher Partei der Autor angehört. Man kann nur hoffen, dass Gerber mit seinem Objektivierbarkeitsfetisch nie Bundesrichter werden wird.

Gerbers Parteikollegin Alexia Heine (Heine ist übrigens die Lebenspartnerin von Alexander Segert, dem Chefwerber der SVP) zeigt als Bundesrichterin jedenfalls exemplarisch, wie man die SVP-Parteidoktrin unter dem Deckmantel «rein juristischer Überlegungen» ins oberste Gericht trägt. Heine schrieb in einem Aufsatz zum indikatorenorientierten Abklärungsverfahren:

Die erneute Hoffnung, nun sämtliche psychischen Leiden einfacher einer Rente zuzuführen, soll nun nicht geschürt werden. Vielmehr gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass ein Erwerbsschaden nur dann rentenrelevant sein kann, wenn er nicht vermeidbar ist. (…) Der Mensch ist gesund, was bei gesamthafter Betrachtung nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild unserer Gesellschaft.

Alexia Heine/Beatrice Polla: Das Bundesgericht im Spannungsverhältnis von Medizin und Recht. Das strukturierte Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 und seine Auswirkungen. JaSo 2018, DIKE Verlag (2018), S. 133–146.

Die SP-Nationalrätin Brigitte Crottaz fragte deshalb kürzlich in der Fragestunde:

Ist eine Bundesrichterin, die solche Aussagen macht, in der Lage, unvoreingenommen über Menschen mit gesundheitlichen Problemen zu richten?

Das Bundesgericht (das natürlich nicht der eigenen Richterin auf die Füsse tritt): antwortete am 16.12. 2019 in der gleichen Art wie weiter oben gezeigt auch schon Bundesrat Berset bzw. das Bundesamt für Sozialversicherungen: «Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.» Oder ausgedeuscht:

Die Aussage, dass die versicherte Person als grundsätzlich gesund anzusehen ist und sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, beschreibt nichts anderes als die Situation, von der die IV-Stellen oder die Richter vor Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens auszugehen haben: dass vor ihnen nämlich eine grundsätzlich gesunde Person steht, deren gegebenenfalls invalidisierende Erwerbsunfähigkeit im Folgenden zu beweisen sein wird.

Der Chefarzt der Medas Zentralschweiz, Jörg Jeger, sieht das ganze etwas kritischer. Im Jusletter vom 8. Oktober 2018 belegte er mit diversen Datenquellen, dass die richterliche Annahme, «dass der Mensch gesund sei» so pauschal weder auf die Schweizer Bevölkerung zutrifft und noch viel weniger auf die spezifische Gruppe derjenigen, die um Leistungen der Invalidenversicherung ersuchen. Jeger warnt in seinem Fazit eindringlich davor, die Rechtsprechung erneut auf eine richterliche Annahme ohne jegliche Evidenz abzustellen:

[Rz 37] Mit den eingangs zitierten Sätzen begeben sich die beiden Autorinnen ins Kerngebiet der Medizin, nämlich die Unterscheidung zwischen «gesunden» und «kranken» Menschen. Eigentlich erwartet der interessierte Leser, dass sie dies aufgrund einer ausreichend begründeten Begriffsklärung und einer fundiert recherchierten empirischen Datenlage tun. Danach sucht man im Aufsatz vergeblich. Es bleibt beim Schlagwort. Die Tatsache, dass die Gesundheitsvermutung bereits Eingang in ein Leiturteil (BGE 144 V 50) gefunden hat, macht sie auch nicht wahrer, aber gefährlicher.

[Rz 38] Die Annahme der Rechtsprechung, es sei bei der Abklärung der Rentenberechtigung von «Validität» auszugehen, betrifft beweisrechtliche Grundsätze, nicht empirisches Datenmaterial zum Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung. Aus diesem beweisrechtlichen Grundsatz abzuleiten, «der Mensch ist gesund, was bei gesamthafter Betrachtung nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild unserer Gesellschaft», ist ebenso falsch wie unzulässig. Bedenklich ist, wenn Rechtsanwender mit dieser richterlichen Vorannahme an die Bearbeitung eines Einzelfalles herangehen. Die Wahrscheinlichkeit von falsch-negativen Entscheiden ist gross. Das hat auch viel mit Psychologie zu tun, ist doch erwiesen, dass der Mensch danach trachtet, seine persönlichen Vorannahmen und Überzeugungen bestätigen zu lassen.

[Rz 39] Schon einmal hat das Bundesgericht behauptet, es stütze sich bei seiner Rechtsprechung in BGE 130 V 352 (Schmerzrechtsprechung, «Überwindbarkeitspraxis») auf die «medizinische Empirie». Nachdem dargelegt wurde, dass die empirische Datenlage für diese Annahme dünn ist, änderte das Bundesgericht nach 10-jähriger Praxis seine Rechtsprechung mit BGE 141 V 281. Es ist daher aus medizinischer Sicht schwer verständlich, dass nun wieder neue, sachlich unbegründete Vorannahmen Eingang in die richterlichen Entscheide finden. (…) Die Erfahrungen mit der «Überwindbarkeitspraxis» aus den Jahren 2004 bis 2015 sollten zu denken geben.

Es liegt eine gewisse Ironie drin, dass gerade jene Jurist*innen und Bundesrichter*innen, welche sich in ihren Abhandlungen/Urteilen geradezu fanatisch an der (Nicht)Beweisbarkeit von Krankheitsbildern abarbeiten, sich selbst bei ihrer «Beweisführung» immer wieder auf unbewiesene Schlagworte, Vermutungen, Hörensagen oder sonst irgendwie «Gefühltes», abstützen. Ein System, das vom obersten Gericht mithilfe juristischer Taschenspielertricks immer wieder auf dermassen tönerne Füsse gestellt wird, kann als Ganzes gar nicht fair funktionieren.

Der Mediziner Jörg Jeger hat zu seinen oben zitierten Überlegungen übrigens auch einen Vortrag gehalten und die ganze Situation in den Vortragsfolien mit einem wunderschön subtilen Foto illustriert:

Meine Ausführungen werden ein kleines bisschen länger (und ausschweifender) als geplant… Fortsetzung folgt.

[7/7] Erwerbs(un)fähig – Was heisst das konkret?

Aber… ist das nicht eine etwas gar einseitige Sicht der Dinge, die ich in den letzten sechs Artikeln gezeichnet habe? Hat die SVP trotz allem nicht auch «eine wichtige Debatte angestossen»?

Sagen wir mal so: Wenn ein Sturmkommando von 100 Schützen über Jahre hinweg regelmässig wahllos auf grosse Menschenansammlungen schiesst und dabei zufälligerweise gelegentlich auch ein Taschendieb oder ein Krebspatient tot umfallen, heisst das nicht unbedingt, dass das eine ideale Methode darstellt, um Taschendiebstahl oder Tumore zu bekämpfen. Aber man kann der Bevölkerung natürlich durchaus jahrelang eintrichtern, dass das eben genau so sein müsse. Weil… Taschendiebe. Und Tumore.

Das ganze Schmierentheater darum, welche Krankheiten denn nun «objektivierbar» sind und welche nicht, hat von einer, wenn nicht der zentralen Frage abgelenkt: Wann ist jemand eigentlich erwerbs(un)fähig?

Erwerbsunfähigkeit wird im Artikel 7 des ATSG folgendermassen definiert:

1 Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt.

2 Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.

Nach ATSG ist also nicht die Diagnose relevant, sondern die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung. Man kann es sich natürlich einfach machen und behaupten, dass die Folgen der Krankheiten A, B, C, D, E … X, Y und Z grundsätzlich «objektiv überwindbar» (oder behandelbar) sind und darum keine Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit haben können. Das ist das, was die Juristen am Bundesgericht (trotz anderslautender Versprechungen im BGE 9C_492/2014) immer wieder machen. Oder wie man am Stammtisch sagen würde: Der Ueli im Rollstuhl ist ein Invalider, das sieht man sofort, aber bei Fatima da sieht man ja nix, das ist so eine Scheininvalide.

Wenn ich also ein grosses Versäumnis der letzten zehn, zwanzig Jahre benennen müsste, wodurch sich Vorurteile gegenüber Menschen mit unsichtbare Krankheiten auch in Rechtsprechung und Gesetzgebung festsetzen konnten, dann ist das die grossmehrheitliche Unfähigkeit/Untätigkeit von Medizinern/Psychiatern/Psychologen und auch der entsprechenden Organisationen sowohl der Bevölkerung, den Politikern, der Verwaltung, den Juristen als auch den Arbeitgebern zu erklären, wie sich unsichtbare/psychische Erkrankungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Welche Fähigkeiten können eingeschränkt sein, wenn jemand an einer Depression, einer Persönlichkeitsstörung oder einer Schmerzstörung erkrankt ist? Warum kann er oder sie dann möglicherweise nur beschränkt oder gar nicht arbeiten?

Jörg Jeger, Rheumatologe und Chefarzt der Medas Zentralschweiz, hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Einteilung in sogenannt «objektivierbare» und «nicht objektivierbare» Krankheitsbilder den effektiven Auswirkungen, die diese Krankheiten zur Folge haben können, nicht gerecht wird. Besonders eklatant zeigte sich die Willkürlichkeit dieser Einteilung, als das Bundesgericht befand, dass eine (nicht direkt objektivierbare) Cancer related Fatigue NICHT den «Päusbonog» zuzurechnen sei:

Als Begleitsymptom onkologischer Erkrankungen und ihrer Therapie liegt der CrF zumindest mittelbar eine organische Ursache zugrunde, weshalb es sich mit der Vorinstanz nicht rechtfertigt, sozialversicherungsrechtlich auf die tumorassoziierte Fatigue die zum invalidisierenden Charakter somatoformer Schmerzstörungen entwickelten Grundsätze (BGE 130 V 352) analog anzuwenden.

BGE 8C_32/2013

Jeger fragte u.a.:

Handelt es sich um ein Werturteil? Sind Menschen, die eine lebensbedrohliche Krebskrankheit überlebt haben und danach müde sind, für die Invalidenversicherung schützenswerter als Menschen, die repetitive körperliche und psychische Traumatisierungen überlebt und eine chronische Schmerzkrankheit entwickelt haben oder müde geworden sind?

Warum vertraut man bei der Cancer-Related Fatigue auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit durch den Arzt, beim Fibromyalgie-Syndrom nicht?

Jörg Jeger: Die persönlichen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Überwindbarkeitspraxis

Im Gegensatz zu Jeger, der für eine grundlegende Gleichbehandlung aller Versicherten plädiert (egal welche Diagnose einer Behinderung/Einschränkung zugrunde liegt) reagierten die Juristen von Integration Handicap in «Behinderung und Recht 4/13» in typischer Behindertenwesenmanier auf den Bundesgerichtsentscheid bezüglich Cancer related Fatigue:

Diese [die Päusbonog] Rechtsprechung hat bisweilen dazu geführt, dass sich gewisse IV-Stellen bei jeder Schmerzproblematik und bei jeder Fatigue-Problematik undifferenziert auf die genannte Rechtsprechung berufen und eine Invalidität verneinen. Das Bundesgericht hat nun glücklicherweise dieser Tendenz mit einem neuen Grundsatzurteil einen Riegel geschoben.
(…)
Das Urteil ist insofern von grosser Bedeutung, als es den Beurteilungen der medizinischen Fachspezialisten wieder die ihnen gebührende Bedeutung zurückgibt und die zunehmende Kluft zwischen medizinischen und rechtlichen Einschätzungen im Sozialversicherungsrecht nicht noch grösser werden lässt. Was für die tumorassoziierte Fatigue gilt, dürfte gleichermassen für die ebenfalls häufige MS- assoziierte Fatigue, die Müdigkeit im Rahmen eines Post-Polio-Syndroms sowie andere regelmässig durch schwere organische Erkrankungen ausgelöste Müdigkeitserscheinungen gelten.

Statt Gleichberechtigung und faire Einschätzung der Leistungsfähigkeit für alle Menschen mit einer Behinderung/Erkrankung zu fordern, wurde «begrüsst», dass die «richtig» behinderten Schäfchen nun doch noch knapp ins Trockene gerettet werden konnten. Soviel dazu, was die Behindertenorganisationen zum ganzen Schlamassel beigetragen haben. Von der Reaktion von Pro Infirmis auf die Scheininvalidenkampagnen fange ich gar nicht erst gross an:

Wir vertreten natürlich nur Behinderte mit Pro Infirmis Echtheitszertifikat und nicht so Leute mit komischen Krankheiten (Ein Kind kann zwar rein rechtlich gar nicht invalid/erwerbsunfähig sein, aber Hauptsache ein herziges Bild). Die mit den komischen Krankheiten benutzen wir zehn Jahre später dann aber gern, um ein bitzeli Werbung in eigener Sache zu machen.

Es gab (und gibt) nur wenige Akteure, die versuch(t)en, die Sachverhalte objektiv (soweit das halt möglich ist) zu analysieren und auch konkrete Ideen entwickelten, wie ein vorurteilsfreier Umgang mit Versicherten mit allen Arten von Behinderungen aussehen könnte. Der oben erwähnte Gutachter Jörg Jeger engagiert sich seit vielen Jahren für eine bessere Verständigung zwischen Medizinern und Juristen sowie für eine faire und möglichst faktenbasierte Begutachtung.

→ Aktuelles Portrait von Jörg Jeger und seinem Berufskollegen Christoph Ettlin im Beobachter: «Wir sind von allen Seiten unter Druck» 
Fachartikel von Jörg Jeger bei Researchgate

Auch der Basler Psychologe Niklas Baer hat mit diversen Forschungsarbeiten dazu beigetragen, Licht ins Dunkel der Invalidisierungen aus psychischen Gründen zu bringen. Baer macht seine Forschungsergebnisse regelmässig in Vorträgen für die Praxis zugänglich und informiert Arbeitgeber darüber, wie sich psychische Störungen auf die Arbeitsfähigkeit auswirken und wie Arbeitgeber mit betroffenen Mitarbeitenden umgehen können.

Forschungsarbeiten von Niklas Baer
→ Leitfäden für Arbeitsplatzerhalt bei psychisch erkrankten Mitarbeitenden für ArbeitgeberInnen und PsychiaterInnen

Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) hat zudem Leitlinien für die Begutachtung psychiatrischer und psychosomatischer Störungen erarbeitet.

Es ist also nicht so, dass überhaupt niemand was macht, nur in die breite Öffentlichkeit schafft es das komplexe Thema «Erwerbs(un)fähig – Was bedeutet das bei psychischen/unsichtbaren Krankheiten konkret?» halt einfach nicht. Das hat natürlich auch mit der Stigmatisierung psychischer Krankheiten bzw. generell von Behinderung zu tun. Man (das heisst die «Gesunden») will eigentlich lieber gar nicht so genau wissen, was man dann möglicherweise alles nicht mehr kann, wenn man krank oder behindert ist. Das ist nicht schön. Und es macht Angst.

Wenn das Bundesgericht behauptet, dass mittelschwere Depressionen «behandelbar» sind, ist das zu einem gewissen Teil auch einfach eine Verdrängung Verleugnung der Tatsache, dass das halt nicht immer so ist. Die Psychiaterin Ulrike Hoffmann-Richter hält im Bezug auf die Praxis des Bundesgerichtes fest:

Depressive Störungen sind grundsätzlich behandelbar. Das ist unbestritten. Allerdings beruht dieses Wissen auf Studienergebnissen. Das heisst, es handelt sich um Gruppenergebnisse. Ob die Störung auch beim einzelnen Patienten behandelbar ist und wie gut sich die Symptomatik zurückbildet, wie leistungsfähig er wieder werden kann, bedarf der individuellen Prüfung.(…) Die pharmakologische Behandlung ist bei ca. zwei Dritteln der Patienten erfolgreich, bei einem Drittel ist sie nicht wirksam. In den Studien aus den letzten Jahren hat sich die Relation sogar umgekehrt: Die Pharmakotherapie scheint nur bei ca. 1/3 der Patienten die erwartete, überprüfbare Wirkung zu zeigen. Zusätzliche Effekte sind durch Psychotherapie erreichbar. Auch sie wirkt nicht in jedem Fall.

Ulrike Hoffmann-Richter: Psychische Beeinträchtigungen in der Rechtsprechung – Ein Blick aus psychiatrischer Sicht. (Sozialversicherungsrechtstagung 2015)

Die Ausführungen von Hoffmann-Richter zeigen (einmal mehr), dass das Bundesgericht keine Grundsatzentscheide darüber fällen sollte, welche Krankheitsbilder behandel- oder überwindbar sind. Das entspricht wie eingangs schon gezeigt auch nicht dem ATSG wonach nicht die Diagnose, sondern die individuellen Folgen einer Erkrankung für die Einschätzung der Erwerbsunfähigkeit ausschlaggebend sein sollen.

Der Berufsalltag von Bundesrichtern bringt es zudem mit sich, dass sie zu einem grossen Teil vor allem jene IV-Fälle sehen, die unklar, speziell und irgendwie «schwierig» sind. Und zu einem ebenfalls grossen Teil wurde bei diesen Fällen ein Medas-Gutachten erstellt. Erstellt von Gutachtern, die tendenziell auch vor allem jene Fälle begutachten müssen, die unklar, speziell und irgendwie «schwierig» sind. Aufgrund dieser Gutachten von Gutachtern, die vor allem schwierige Fälle sehen, fällen dann die Bundesrichter – die auch vor allen die schwierigen Fälle sehen – (Bias anyone?) Grundsatzurteile zur Überwindbar-/Behandelbarkeit, die zwar für den «schwierigen» Einzelfall vielleicht noch nachvollziehbar erscheinen, aber in ihrer Absolutheit allen anderen Fällen mit dem selben Krankheitsbild nicht gerecht werden.

IV-Stellen und kantonale Gerichte prüfen dann aber die entsprechenden Fälle gar nicht mehr individuell, sondern beziehen sich auf das Grundsatzurteil des Bundesgerichtes. Im vorauseilenden Gehorsam beziehen sich findige Gutachter ebenfalls auf die Rechtsprechung und versuchen mit allerlei Tricks aus einer anerkannten Gesundheitsstörung eine zu machen, die eben nicht anerkannt wird. Prof. Dr. med. Alexander Kiss, Universitätsspital Basel Abt. Psychosomatik, hat in der SAEZ solche «Strategien» von Gutachtern beleuchtet:

Strategie 6: Kombination von Fehldiagnose, Unwissen und Entwertung des betreuenden Arztes
Der behandelnde Psychiater stellt bei seiner 39-jährigen Patientin mit einem metastasierenden Brustkrebs ein CRF mit einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit fest. Die Patientin wird begutachtet. Das Gutachten stellt fest, dass die Patientin kein Cancer-related Fatigue, sondern eine Neurasthenie hat und somit 100% arbeitsfähig ist.

Alexander Kiss: Wie soll man begutachten? (SAEZ, 2017/3031)

Und wenn der Guatchter nicht «findig» oder willig ist, hilft die IV-Stelle auch gerne mal nach und fordert ganz direkt:

«Wir bitten Sie, bei der Plausibilisierung des Verlaufes der Arbeitsunfähigkeit die aktuelle Rechtsprechung zur posttraumatischen Belastungsstörung zu berücksichtigen.»

Jörg Jeger: Unklare Beschwerdebilder – Ist die Rechtsprechung klar? (2015)

Wie bisher bereits mehrfach erwähnt, sollte nicht die Diagnose, sondern die effektiven Einschränkungen relevant sein. Diese Sichtweise vertritt auch die Interessengemeinschaft Versicherungsmedizin Schweiz (SIM):

Leider machen immer noch viele Gutachter trotz intensiver Weiter- und Fortbildung durch die Swiss Insurance Medicine den Fehler, die Leistungseinschätzung resp. die Arbeitsunfähigkeit direkt auf die Diagnose abzustützen anstatt aufzuzeigen, welche Fähigkeiten aufgrund der Diagnosen gestört sind und wie sich diese Fähigkeitsstörungen auf Aktivität und Teilhabe auswirken.

Medizinische Begutachtung in der Schweiz, SIM 2017 

Und hier wären wir dann bei der Verantwortung der behandelnden PsychiaterInnen:

  • Wenn Sie für die IV ein Gutachten über eine/n PatientIn schreiben, sollten Sie möglichst genau aufzeigen, welche Fähigkeiten durch die Erkrankung eingeschränkt sind. Die Beschreibung der Einschränkungen ist nicht nur für eine eventuelle Berentung relevant, sondern auch für die Erhaltung des Arbeitsplatzes oder für eine Reintegration.
  • Bei der Erhaltung des Arbeitsplatzes oder einer Reintegration kann (vor allem bei einer starken Beeinträchtigung des Patienten) ein gemeinsames Gespräch zwischen dem Arbeitgeber, dem Patienten und Ihnen als PsychiaterIn hilfreich sein.
  • Falls Sie Bedenken wegen des Arztgeheimnisses haben: Der Arbeitgeber braucht weder die Krankengeschichte noch die genaue Diagnose des Patienten zu kennen. Relevant ist vor allem, was der Mitarbeiter kann und was nicht und wo er gegebenenfalls gewisse Anpassungen braucht.
  • Weder die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit noch die Gesprächsführung mit Arbeitgebern oder IV sind Teil der psychotherapeutischen Ausbildung. Besuchen Sie deshalb Infoanlässe und Weiterbildungsangebote der IV-Stellen oder der Interessengemeinschaft Versicherungsmedizin Schweiz (SIM).
  • Informieren Sie sich über das aktuelle politische und juristische Geschehen rund um die Invalidenversicherung – und zwar bevor Sie Ihren Patienten und Patientinnen versichern, dass deren IV-Renten «sicher» seien.
  • Wenn Sie sich in den Medien äussern (sei es in der Tagespresse, Interviews, Fachzeitschriften oder Leserbriefen): So beliebt tragische Geschichten über arme Tröpfe, die bei der Sozialhilfe landen auch sind; Versuchen Sie immer auch möglichst sachlich und anschaulich zu vermitteln, welche Auswirkungen psychische/unsichtbare Erkrankungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit haben können (Konzentrationsprobleme, schnelle Erschöpfbarkeit usw.). Die Öffentlichkeit wurde nun seit bald 15 Jahren mit dem Narrativ (von SVP, Bundesgericht u.s.w.) gefüttert, dass diverse psychische/nicht organische Störungen keine Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit haben können. Es ist deshalb wichtig aufzuzeigen, welche Symptome solche Störungen verursachen und was die Psychiatrie/Therapie/Medikamente zu bewirken vermag, und eben auch: was nicht.
  • Lesen Sie:
    Unklare Beschwerdebilder: Ist die Rechtsprechung klar? (Jeger, 2015)
    Was ist schwierig an «schwierigen» Mitarbeitern? (Baer, 2013)
    Erkenntnisse aus der «Evaluation der Eingliederung und der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung» (Baumann, 2015)

Die Entwicklungen, die ich in dieser Serie skizziert habe, kommen nicht von ungefähr. Sowas passiert dann, wenn niemand laut und deutlich sagt: «Herr Blocher, Sie lügen.» Und das nicht nur einmal, sondern jedesmal. Ja, das ist mühsam. Und ja, wir haben wirklich alle Besseres zu tun, als permanent eine organisierte Lügenbande zu korrigieren. Aber wenn man dem nichts entgegensetzt, geht das immer so weiter. Im aktuellen Postulat «Massnahmen zur Senkung der Prämienlast in der obligatorischen Krankenversicherung. Strikte Trennung zwischen Therapie und längerfristiger Krankschreibung» fordert die SVP-Fraktion nämlich:

Der Bundesrat wird beauftragt, zu prüfen und zu berichten, welche Gesetzesbestimmungen wie anzupassen sind, damit eine strikte Trennung der ärztlichen Tätigkeit als Therapeut und derjenigen als Beurteiler der Arbeits- und/oder Erwerbstätigkeit der Patienten nach mehr als 1-monatiger Arbeitsunfähigkeit erreicht werden kann. Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit müsste dann durch andere, festzulegende Institutionen nach objektiv gültigen Kriterien erfolgen. (…)

Begründung:
Dies würde Patientenkarrieren und Abklärungen verhindern, die nur zum Zweck eines sekundären Krankheitsgewinns entstehen. Es darf aus praktischer Erfahrung vermutet werden, dass dies einen nicht unerheblichen Teil der heutigen Gesundheitskosten ausmacht, z.B. im Bereich der überaus kostenverursachenden chronischen Rückenschmerzen, aber auch im Bereich der Psychosomatik, um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen.

Man hätte hier auch wertfrei argumentieren können, dass Krankschreibungen (oder deren Verweigerung) die therapeutische Beziehung belasten können. Aber die Sache an sich ist offenbar nur sekundär. Das Postulat dient vor allem dazu, Ärzte wie Patienten (Sekundärer Krankheitsgewinn, Psychosomatik, Kosten) einmal mehr in ein schlechtes Licht zu rücken.

SVP-Exponenten nutzen nach wie vor jede erdenkliche Möglichkeit, Menschen mit angeblich unklaren oder psychischen Störungen als Kostenfaktoren und Sozialschmarotzer darzustellen. In der Sendung «Arena» vom 12. Mai 2017 (Thema: Legal Kiffen?) deutete die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog bedeutungsschwanger auf den vor ihr liegenden Papierstapel. Sie habe hier eine Studie des BSV und darin stehe, dass:

  1. Die Zahl der jungen IV-Bezüger zwischen 18 und 29 Jahren massiv zugenommen habe (Komplett falsch: die Neurenten bei dieser Altersrgruppe sind seit 15 Jahren stabil)
  2. Fast ein Drittel der Neurentenbezüger eine Rente wegen Schizophrenie bezögen (Die betreffende Studie hat nicht alle jungen Neurentner – ca. 2600/Jahr – sondern nur die mit psychischen Krankheiten – ca. 1600/Jahr – untersucht. Davon haben 22% Schizophrenie. Heisst: Ca. 13,5 aller Neurentner zwischen 18 und 29 leiden unter einer Schizophrenie. Das ist nicht «fast ein Drittel»
  3. Ein Grossteil sei wegen/im Zusammenhang mit Cannabis IV-Bezüger. (Die Studie hält fest, dass bei der Gruppe der Schizophrenen – also bei 13,5% aller jungen Neurentner «oft eine Substanzabhängigkeit diagnostiziert» sei: «Erfahrungsgemäss meist Cannabis. Es ist bekannt, dass Cannabiskonsum bei Personen mit schizophrener Symptomatik stark gehäuft auftritt (Möller, Laux & Deister, 2005).»

SVP-Nationalrätin Verena Herzog schaffte es also in knapp 30 Sekunden (im Video ab 12.46) den Eindruck zu erwecken, dass Junge sich haufenweise «in eine IV-Rente kiffen». Als Patrick Frey nachfragte, ob das denn bewiesen sei, antwortet Herzog: «Ich habe sie da, die Studie des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Das sind Zahlen, die ich von da entnehme.»

Ähem ja. «Kreativ» interpretierte «Zahlen». Die BSV-Studie untersuchte übrigens die «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten (2015) » und nicht die genetischen Faktoren, welche gleichzeitig die Anfälligkeit für Schizophrenie und Suchterkrankungen erhöhen.

Aber weil die BSV-Studie dummerweise aufgezeigt hatte, dass die jungen IV-Bezügerinnen nicht alle dieses eingebildete ADHS, sondern tatsächlich schwerwiegende Einschränkungen haben, schwenkt man jetzt eben um auf «Aber die sind selber schuld an ihrer Krankheit!» (Von «überwind- und therapierbar» ist der Weg dann auch gar nicht mehr so weit zu «mit überwiegender Wahrscheinlichkeit selbstverschuldet» und ergo «nicht versichert»).

Oder um es kurz zu machen: Bullshitter will bullshit. Und wenn man nichts dagegen tut, wird das auch weiterhin rechtliche und gesellschaftliche Folgen für Menschen mit unsichtbaren/psychischen Erkrankungen haben.

Für diejenigen Menschen, deren Leben durch eine Erkrankung komplett auf den Kopf gestellt wurde. Die ihre beruflichen und privaten Pläne und Träume (Beruf? Kinder?) im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen oft nicht mal im Ansatz verwirklichen können. Die jeden Tag mit Widrigkeiten kämpfen, die man sich als Gesunde(r) gar nicht vorstellen kann (und lieber auch nicht vorstellen will). Seien es ständige Schmerzen, permanente Erschöpfung, Panikattacken, Stimmen, die befehlen, man solle sich doch lieber umbringen oder Ärger mit Krankenkassen und Ämtern. Wo manche Angehörige oder Freunde sich irgendwann zurückziehen, weil sie das Leid nicht mehr mitansehen können.

Menschen, die sich neben all den krankheitsbedingten Herausforderungen auch noch damit herumschlagen müssen, dass man sie als Simulanten und Schmarotzer hinstellt. Das Erschreckende daran ist, dass das schon lange nicht mehr alleine die Sturmtruppe von rechtsaussen macht, sondern IV-Stellen auf ihren Webauftritten seit einigen Jahren beispielsweise völlig selbstverständlich dazu aufrufen, einen «Missbrauchsverdacht» zu melden. Komplett anonym freilich. Als kleiner Wutbürger-Empörungs-Snack für zwischendurch.

Und wenn Gutachter mittlerweile sogar aus der Tatsache, dass sich jemand in den Social Media äussert, Schlussfolgerungen über dessen Erwerbsfähigkeit ziehen (sic!) wird nicht nur der Bewegungs- sondern auch der Kommunikationsrahmen für Menschen mit unsichtbaren Erkrankungen immer enger. Während Menschen mit sichtbaren Behinderungen sich problemlos politisch engagieren, im Chor singen oder eine Selbsthilfegruppe leiten können, gilt dasselbe Verhalten bei sogenannt «nicht objektivierbaren» Störungen als «Ressource». Oder als «Verdachtsmoment».

BGE 9C_492/2014: «Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben»

Die Überwindbarkeitspraxis ist den Betroffenen gegenüber schlecht kommunizierbar und beleidigt sie, weil sie mit einer Schuldzuweisung verbunden ist: Wir haben durch unsere Abklärung nicht nur herausgefunden, dass Sie keine Rente bekommen, wir haben auch noch gemerkt, dass Sie an Ihrem misslichen Zustand selber Schuld sind, Sie könnten nämlich arbeiten gehen und selber Geld verdienen, wenn Sie nur wollten!

– Dies ist kein Zitat aus einer realen Verfügung, aber die Botschaft, wie sie beim Empfänger ankommt, wenn mit der «willentlichen Überwindbarkeit» argumentiert wird.

Jörg Jeger: Die persönlichen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Überwindbarkeitspraxis, 2014

Jörg Jeger ist nicht etwa Rechtsanwalt bei einer Patienten- oder Behindertenorganisation, sondern Chefarzt der Medas Zentralschweiz. Neben diesem eher anekdotischen Zitat hat Jeger vor allem mit seinem fachlich fundierten und langjährigen Engagement für eine gerechtere Begutachtung bei somataformen Schmerzstörungen einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass das Bundesgericht im kürzlich publizierten BGE 9C_492/2014 zum Schluss kam: «Die Überwindbarkeitsvermutung ist aufzugeben.»

Der vom Rechtsanwalt David Husmann errungene Bundesgerichtentscheid war, wie die Schadenanwälte in ihrem Kommentar «Überwindbarkeitsrechtsprechung überwunden!» schreiben, nämlich «Teamwork» an dem – wie sich an den Literaturhinweisen im Urteil ablesen lässt – viele verschiedene Akteure beteiligt waren. Eine wichtige Rolle spielte auch das von den Anwälten von «Indemnis» in Auftrag gegebene Gutachten des renommierten deutschen Professors Dr. Peter Henningsen, der sachlich fundiert darlegte:

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Schmerzkrankheiten beruht auf falschen Annahmen über die medizinische Empirie.

Darauf hatten zuvor zwar schon andere Autoren (u.a. der oben ziterte Jörg Jeger) mehrfach hingewiesen, aber das waren eben «die berühmten Propheten im eigenen Land» wie es Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht im Tagi-Interview («Ich erwarte, dass Patienten ganzheitlicher begutachtet werden») formulierte.

[Kurzer Einschub]
Ein im IV/psychisch-Bereich im Übrigen nicht ganz unbekanntes Phänomen. Bevor im Januar 2014 der OECD-Länderbericht Schweiz «Psychische Gesundheit und Beschäftigung» Handlungsbedarf konstatierte, hat das Thema ausser ein paar Verschrobenen niemanden interessiert. Mittlerweile lassen sich sogar in Hintertupfingen Weinfelden (TG) ganze Säle damit füllen und es finden nationale Tagungen (z.B. «Arbeit und psychische Gesundheit – Herausforderungen und Lösungsansätze» am 26. August 2015 in Zürich) statt.

Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass im Land der sorgsam gepflegten Ressentiments gegen «fremde Richter» gewisse Themen erst durch Gutachten/Berichte aus dem Ausland in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Schweiz-Intern gälte als hinreichender Beleg der Relevanz des Themas vermutlich einzig die Ausgrabung eines entsprechenden historischen Dokuments («Arbeytsfähigkeit bey Mannen des Ritterstandes nach Postraumatischen Belastungsstörungen» Bernardus der Ältere, Morgarten, 1317).
[Einschub Ende]

Zurück zum Thema.
Was ändert sich mit dem BGE 9C_492/2014 denn nun genau?
Während bisher davon ausgegangen wurde, dass eine somatoforme Schmerzstörung (bzw. Päusbonog) mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar und darum per se nur in seltenen Ausnahmefällen (bei Erfüllung der sog. Foerster-Kriterien) invalidisierend ist, soll nun jeder Einzelfall indviduell und «ergebnisoffen» abgeklärt werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Funktionsfähigkeit und Ressourcen gelegt werden, die anhand von vom Bundesgericht skizzierten «Indikatoren» festgestellt werden sollen:

Funktioneller Schweregrad
– Gesundheitsschädigung
– Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome
– Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
– Komorbiditäten

Persönlichkeit
– Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen

Sozialer Kontext*

Konsistenz
– gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen
– behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck

* Ausführung im BGE dazu:

Soweit soziale Belastungen direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, bleiben sie nach wie vor ausgeklammert(…) Anderseits hält der Lebenskontext der versicherten Person auch (mobilisierbare) Ressourcen bereit, so die Unterstützung, die ihr im sozialen Netzwerk zuteil wird.

Ich interpretiere das mal frei: Schwierige Scheidung hinter sich? Ist IV-fremder Faktor, interessiert uns nicht. Unterstützender Ehepartner? Oho! Pluspunkt für die Ressourcen, ergo tieferer IV-Grad. – Und was passiert, wenn der unterstützende Ehepartner ein paar Jahre später nicht mehr da ist? Ist das dann neuerdings ein IV-Revisionsgrund?

Im Hinblick auf die konkrete Umsetzung wird wohl noch einiges zu klären sein. Das Bundesgericht formuliert deshalb auch einen deutlichen Auftrag an die medizinischen Fachgesellschaften:

Bezüglich Leitlinien der (psychiatrischen) Begutachtung besteht dringender Handlungsbedarf.

Und:

In künftige Leitlinien einzubeziehen sein werden auch Schlussfolgerungen aus der laufenden Nationalfonds-Studie des Universitätsspitals Basel „Reliable psychiatrische Begutachtung im Rentenverfahren“ (RELY-Studie), welche die Verlässlichkeit einer funktionsorientierten psychiatrischen Begutachtung untersucht.

Das ist jetzt ein bisschen ein gemeiner Seitenhieb von den Bundesrichtern. Die Zwischenergebnisse der RELY-Studie vom März 2015 zeigen nämlich leider eher das Gegenteil dessen, was sie eigentlich zeigen sollten:

Die Zwischenergebnisse zeigen allerdings auch, dass die vier Gutachter bei der Bewertung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit ein und derselben Person eine geringere Übereinstimmung erzielten als erwartet. Das heisst, die Studie konnte bisher nicht schlüssig nachweisen, dass die funktionsorientierte Begutachtung zu akzeptablen Übereinstimmungen in der geschätzten Leistungs- und Arbeitsfähigkeit führt.

Dazu muss man allerdings sagen, dass in der Studie nicht überprüft wurde, wie hoch (oder tief) die Übereinstimmung bei herkömmlichen Begutachtungsmethoden ist. Bemerkenswert dazu ist, dass vor einem Jahr eine ebenfalls vom Unispital Basel (die Hälfte der Forschergruppe hatte allerdings «Beziehungen» zum ABI Basel) durchgeführte Begutachtungs-Studie für Schlagzeilen sorgte, in der festgestellt wurde, dass behandelnde Ärzte vor allem bei somatformen Störungen die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten tiefer einschätzen als Medas-Gutachter. Was in den meisten Medienberichten damals unter den Tisch fiel, war, dass nicht mit der Einschätzung von «Medas-Ärzten im Allgemeinen» verglichen wurde, sondern nur mit derjenigen einer einzigen Medas-Stelle (nämlich des ABI Basel). Und da das ABI Basel keine 50 Psychiater beschäftigt, ist davon auszugehen, dass die Gutachten vermutlich von einer eher kleinen Personengruppe mit ähnlichem «Gutachterverständnis» ausgestellt wurden.

Da die Psychiater in der RELY-Studie keine eigenen Patienten begutachtet haben und trotzdem zu relativ unterschiedlichen Resultaten kamen, legt den Schluss nahe, dass bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht nur eine Rolle spielt, ob sie der behandelnde oder ein Medas-Arzt vornimmt, sondern vor allem auch, welche ganz persönliche Sichtweise der Psychiater hat. Oder auch: 4 Psychiater, 5 Meinungen.

Um es noch mal mit dem Bundesgericht zu sagen:

Bezüglich Leitlinien der (psychiatrischen) Begutachtung besteht dringender Handlungsbedarf.

Und das «psychiatrisch» kann da gleich ganz weg, denn aus meiner Sicht ist nicht einzusehen, weshalb die neu propagierte Funktions-und Ressourcenorientierte Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nur für bestimmte und nicht für alle Krankheiten gleichermassen gelten soll. Henningsen sagt das in seinem Gutachten auch genauso:

Es ist insofern nicht gerechtfertigt, Körperbeschwerdesyndrome mit eindeutiger organischer Ätiologiekomponente im Hinblick auf die Begutachtung der Arbeitsfähigkeit anders zu behandeln als solche ohne eindeutige Komponente.

 

Medienmitteilung Bundesgericht
Bundesgerichtsentscheid 9C_492/2014

10vor10: Kehrtwende des Bundesgerichts/Folgen für die Invalidenversicherung
NZZ: Kurswechsel bei den Invalidenrenten
Tagesanzeiger: Patienten mit Schleudertrauma können wieder IV beantragen / Eine überfällig Kurskorrektur

. . . . . . . .

Noch etwas zur Rolle der Behindertenorganisationen Supervision für Procap und Pro Infirmis

Erfreulich war, dass die Procap sehr flink mit einer Stellungnahme auf den Bundesgerichtsentscheid reagiert hat, so dass diese auch in der sda-Meldung erwähnt wurde:

Die Behindertenorganisatorin [sic! Hallo sda?] Procap begrüsste das Ende der «unsinnigen und ungerechten Diskriminierung» einzelner Menschen mit Behinderung. Procap erwarte nun, dass für die Beurteilung ein faires Verfahren geschaffen werde und auch die Fälle aus den letzten Jahren wieder aufgerollt würden, bei denen Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden seien.

So schaut gute Medienarbeit aus.

Pro Infirmis hingegen fand, eine knappe Information auf der Webseite einen Tag später reiche auch. Anders als die Procap (die sowohl die MM des Bundesgerichtes, die Stellungnahme der Schadenanwälte, als auch einen Artikel aus dem letzten Procap-Magazin zur Schmerzrechtsprechung verlinkt) findet man Zusatzinfos bei der PI unnötig. Viel wichtiger ist, dass der stellvertretende Direktor der Pro Infirmis, Urs Dettling, Kraft seines Amtes betont, dass die Behindertenorganisationen an erster Stelle für eine gerechtere Beurteilung gekämpft haben:

(…)wurde sowohl von Behindertenverbänden wie auch der Medizin und Juristen immer wieder auf der fachlichen Ebene kritisiert

Bei der Procap hingen wählte man eine etwas bescheidenere relitätsnähere Reihenfolge:

Die jahrelange breite Kritik von juristischen und insbesondere auch medizinischen Fachleuten sowie von Behindertenorganisationen(…)

Auch wenn die Procap sich auf der Zielgeraden noch schnell eigeklinkt hat (das Henningsen-Gutachten ist seit fast einem Jahr öffentlich und wurde erst in der diesjährigen Mai-Ausgabe des Procap-Magazins besprochen): Es waren wirklich nicht die Behindertenorganisationen, die an vorderster Front für eine faire Begutachtung für alle gekämpft haben.

Vielmehr wurde beispielsweise in Behinderung und Recht 4/13 (von Integration Handicap) «begrüsst», dass Cancer-related Fatigue nicht zu den Schmuddelkindern Päusbonogs gezählt werde. Wohingegen der bereits eingangs zitierte Jörg Jeger zum entsprechenden Urteil fragte:

Warum vertraut man bei der Cancer-Related Fatigue auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit durch den Arzt, beim Fibromyalgie-Syndrom nicht?

Um Veränderungen anzustossen, reicht es eben nicht, à la Behindertenorganisationen einfach zu sagen «Heiliger St. Florian…» «Das ist aber unfair!» Man muss etwas auch begründen bzw. gezielt in in Frage stellen können. Nun ist natürlich nicht jeder Mediziner oder Jurist und nicht jeder mag sich überhaupt mit sowas befassen. Wenn aber Pro Infirmis bei der entsprechenden Meldung nicht mal das zugehörige Bundesgerichtsurteil verlinkt, gibt man klar zu verstehen: Du Fussvolk, du eh zu doof, dir eine eigne Meinung zu bilden (oder gar Fragen zu stellen) – übernimm einfach unsere vorgekaute Meinung, das reicht. (Und komm bloss nicht auf die unverschämte Idee, genauer nachzufragen, was PI eigentlich überhaupt zu diesem erfreulichen Resultat beigetragen hat).

Menschen mit Behinderung in ihrer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu fördern, hiesse halt auch, ihnen aufzuzeigen, wie solche Veränderungen zustanden kommen, sie – wenn sie es möchten – am Prozess zu beteiligen und weiterführende Informationen, die ihre Angelegenheiten betreffen, zugänglich zu machen. Und wenn es nur 1% sind, sich damit befassen mögen. Ist wie bei den Rollstuhlrampen, die müssen einfach da sein, auch wenn sie in manchen Fällen vielleicht nur einmal im Jahr benutzt werden.

Rechtsgleiche Behandlung ähnlicher Krankheitsbilder? Nun… ähm… Nein.

Die Logik, welche der unterschiedlichen IV-rechtlichen Behandlung von Menschen mit Cancer related Fatigue («nicht willentlich überwindbar») und Päusbonogs («willentlich überwindbar») zugrunde liegt, hat mir schon mehrfach Kopfzerbrechen bereitet. Und wie eigentlich die IV-Stellen bzw. Gutachter die 30 – 40% Krebspatienten, bei denen eine CrF auftritt, von den 60% – 70% unterscheiden, bei denen dies nicht der Fall ist, konnte man mir selbst beim BSV nicht nachvollziehbar erklären.

Jörg Jeger, Chefarzt der Medas Zentralschweiz, hat nun im Buch «Psyche und Sozialversicherung» (Hrsg. Riemer-Kafka, 2014) die Unlogik der bundesrichterlichen Rechtsprechung in zwei Tabellen (farbige Markierungen durch die Bloggerin) bildhaft dargestellt. Jeger schreibt dazu:

Bei früheren Begründungen zur Überwindbarkeitspraxis wurde mehrmals auf die Notwendigkeit einer rechtsgleichen Behandlung ähnlicher Krankheitsbilder verwiesen. Vergleicht man Fibromyalgie und Cancer-Related Fatigue, so ergibt sich, dass die Kombination Schmerz und Müdigkeit willentlich überwunden werden muss, die alleinige Müdigkeit nach einem Krebsleiden dagegen nicht.

Noch eklatanter ist der Vergleich zwischen Chronic Fatigue Syndrome und Cancer-Related Fatigue: Allein die kausale Deutung entscheidet, ob die Symptomatik aus juristischer Sicht überwindbar ist oder nicht. Nicht das Ausmass der Behinderung ist vor dem Recht entscheidend, sondern wie sie zustande gekommen ist. Wenn die Müdigkeit mit einer Infektionskrankheit beginnt, dann muss sie überwindbar sein, wenn sie mit einem Krebsleiden beginnt dagegen nicht. Das ist aus medizinischer Sicht schwer verständlich.

FIB_CFS_jeger

Jeger:

Ein Vergleich der Rechtsprechung zur HWS-Distorsion Grad II und zur Cancer- Related Fatigue lässt an der inneren Logik zweifeln:

HWS_Jeger

Kaum nachvollziehbar ist (…), dass vergleichbare Begründungen zu zwei völlig unterschiedlichen Rechtsprechungen führen können. Zudem fragt sich, ob das Bundesgericht mit BGE 139 V 346 nicht ein neues «typisches Beschwerdebild» geschaffen hat.

Jeger tönt damit an, dass der einstige (mit der Schaffung der Päusbonog-Rechtsprechung korrigierte) Entscheid des Bundesgerichtes, bei «typischen Beschwerdebild bei einem Schleudertrauma ohne organisch nachweisbare Verletzungen» eine IV-Rente zuzusprechen, zu mehr IV-Renten mit entsprechendem Beschwerdebild geführt hatte. Das selbe könnte nun theoretisch bei CrF geschehen. Bereits kurz nach dem entsprechendem Bundesgerichtsurteil schrieb ich im Juli 2013:

Krebspatienten sind alles total gute und ehrbare Menschen, die nie simulieren würden und wenn sie sagen sie leiden, dann tun sie das auch wirklich. Nicht so wie diese komischen Leute mit somatoformen oder psychischen Störungen.

Jeger stellt diesbezüglich auch einige interessante Fragen:

  • Handelt es sich um ein Werturteil? Sind Menschen, die eine lebensbedrohliche Krebskrankheit überlebt haben und danach müde sind, für die Invalidenversicherung schützenswerter als Menschen, die repetitive körperliche und psychische Traumatisierungen überlebt und eine chronische Schmerzkrankheit entwickelt haben oder müde geworden sind?
  • Warum vertraut man bei der Cancer-Related Fatigue auf die Einschätzung der Leistungsfähigkeit durch den Arzt, beim Fibromyalgie-Syndrom nicht?
  • Warum gibt sich das Bundesgericht bei der Cancer-Related Fatigue mit der komplexen, multifaktoriellen, nicht restlos geklärten Ätiopathogenese zufrieden, beim Fibromyalgie-Syndrom nicht?
  • Müssten nicht beide Krankheiten der gleichen Rechtsprechung unterworfen werden, welche einen konsistenten, überzeugenden Nachweis der geltend gemachten Behinderung erfordert statt von einer juristisch-theoretischen
    «willentlichen Überwindbarkeit» ausgeht?
  • Wie steht es mit dem Grundsatz der rechtsgleichen Behandlung aller Versicherten?
  • Wenn mit der gleichen Begründung zwei völlig unterschiedliche Resultathergeleitet werden, können dann beide Rechtsprechungen «richtig» sein?

Im Gegensatz zu Jeger, der für eine grundlegende Gleichbehandlung aller Versicherten plädiert (egal welche Diagnose einer Behinderung/Einschränkung zugrunde liegt) reagierten die Juristen von Integration Handicap in «Behinderung und Recht 4/13» in typischer Behindertenwesenmanier auf den BGE bezüglich Cancer related Fatigue:

Diese [die Päusbonog] Rechtsprechung hat bisweilen dazu geführt, dass sich gewisse IV-Stellen bei jeder Schmerzproblematik und bei jeder Fatigue-Problematik undifferenziert auf die genannte Rechtsprechung berufen und eine Invalidität verneinen. Das Bundesgericht hat nun glücklicherweise dieser Tendenz mit einem neuen Grundsatzurteil einen Riegel geschoben.
(…)
Das Urteil ist insofern von grosser Bedeutung, als es den Beurteilungen der medizinischen Fachspezialisten wieder  die ihnen gebührende Bedeutung zurückgibt und die zunehmende Kluft zwischen medizinischen und rechtlichen Einschätzungen im Sozialversicherungsrecht nicht noch grösser werden lässt. Was für die tumorassoziierte Fatigue gilt, dürfte gleichermassen für die ebenfalls häufige MS- assoziierte Fatigue, die Müdigkeit im Rahmen eines Post-Polio-Syndroms sowie andere regelmässig durch schwere organische Erkrankungen ausgelöste Müdigkeitserscheinungen gelten.

Statt Gleichberechtigung und faire Einschätzung der Leistungsfähigkeit für alle Menschen mit einer Behinderung/Erkrankung zu fordern, wird «begrüsst», dass die «richtig» behinderten Schäfchen nun doch noch knapp ins Trockene gerettet werden konnten.

Von Organisationen, die sich angeblich für die Gleichberechtigung von behinderten Menschen mit Nichtbehinderten einsetzen, sollte man eigentlich erwarten können, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen und ebenso viel Wert auf die rechtliche Gleichbehandlung der verschiedenen Behinderungsformen legen. Dass keine grosse Behindertenorganisation diese Gleichbehandlung öffentlich und dezidiert fordert, lässt tief blicken.

Jörg Jeger: Die persönlichen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Überwindbarkeitspraxis (PDF)
(via researchgate)

Siehe dazu auch das Gutachten von Prof. Peter Henningsen: «Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Schmerzkrankheiten beruht auf falschen Annahmen über die medizinische Empirie».

Bundesgericht: Was kümmert uns die Wissenschaft…

Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr (voll) erwerbsfähig ist und deshalb die Invalidenversicherung um Leistungen ersucht, der muss erstmal beweisen, dass er kein Simulant wirklich krank ist. Röntgenbilder und ähnliches sind zu diesem Zweck sehr zu empfehlen, die sagen zwar grundsätzlich nicht sehr viel darüber aus, wie sich das, was kaputt ist, konkret auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt, aber sie beweisen immerhin schon mal, dass etwas kaputt ist.

Wer keine Röntgenbilder oder sonstigen wissenschaftlichen Beweise vorlegen kann, bei dem geht die Invalidenversicherung mittlerweile in den meisten Fällen erstmal grundsätzlich davon aus, dass er «irgendsowas Ähnliches wie eine somatoforme Schmerzstörung hat und deshalb grundsätzlich erwerbsfähig ist».

Auch wenn beispielsweise eine nichtorganische Hypersomnie beim besten Willen nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einer somatoformen Schmerzstörung aufweist, besteht die Rechtsprechung darauf, dass es «aus Gründen der Rechtssicherheit geboten ist, sämtliche pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage den gleichen sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen zu unterstellen».

Und das hat auch einen ganz bestimmten Grund: Es geht dabei weniger darum, dass man alle gleich fair (oder auch unfair) behandelt, sondern dass das Gericht nicht in jedem Einzelfall und bei jedem Krankheitheitsbild erneut beweisen muss, dass die Auswirkungen der Erkrankung «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind». Es wird dabei von der sogenannt «qualifizierten natürlichen Vermutung» ausgegangen, dass dem bei einer somatoformen Schmerzstörung (und ähnlichen Sachverhalten) ganz generell der Fall sei.

Nur ausnahmsweise kann ein invalidisierender Gesundheitsschaden bei einer somatoformen Schmerzstörung (und ähnlichen Sachverhalten) trotzdem gegeben sein, nämlich dann, wenn die sogenannten Foersterkriterien erfüllt sind. Und die wären:

  • psychiatrische Komorbidität
  • chronische körperliche Begleiterkrankungen
  • Verlust der sozialen Integration
  • ausgeprägter primärer (aber nicht sekundärer) Krankheitsgewinn
  • mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission
  • unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und stationärer Behandlungs-massnahmen auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz
  • gescheiterte Rehabilitationsbemühungen

Es müssen hierbei nicht alle Punkte erfüllt sein, in der Gerichtspraxis werden jedoch die meisten Punkte sowieso kaum je als «ausreichend» erfüllt anerkannt und die Beweisführung dreht sich häufig ausschliesslich darum, ob eine psychiatrische Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer ausgewiesen sei oder nicht. Eine schwere psychiatrische Erkrankung könne nämlich – laut Rechtssprechung – die Fähigkeit zur Schmerzüberwindung ausnahmsweise beeinträchtigen.

Es geht also nicht darum, was jemand ganz konkret trotz einer somatoformen Schmerzstörung noch kann oder nicht kann (die Rechtsprechung geht davon aus, dass jemand mit einer somatoformen Schmerzstörung grundsätzlich kann) sondern ob er zusätzlich eine psychiatrische Diagnose vorzuweisen hat. Und weil psychiatrische Diagnosen an sich wiederum schwer zu beweisen sind, sieht es für die Betroffenen meistens schlecht aus. Sie erinnern sich: IV-Stellen und Gerichte stehen total auf Röntgenbilder und all den schwer wissenschaftlich untermauerten Kram.

Nun hat aber der Chefarzt der MEDAS Zentralschweiz, Dr. med. Jörg Jeger mit einer eingehenden Literaturrecherche* eindrücklich dargelegt, dass sich aus den Publikationen von Foerster nicht ergibt, auf welcher (empirischen) Grundlage er zu den Prognosekriterien gekommen ist. Es liegt keine wissenschaftliche Arbeit vor, die den Zusammenhang zwischen seinen Kriterien und der Wiedereingliederungschance belegt. Weiter existiert auch kein Nachweis, dass – wie es das Bundesgericht handhabt – der psychischen Komorbidität eine herausgehobene Stellung zukommt, wie dies das Bundsgericht anzunehmen scheint. (Thomas Gächter / Dania Tremp, Schmerzrechtsprechung am Wendepunkt?, in: Jusletter 16. Mai 2011)

Und:
Das Urteil BGE 131 V 49 und mehrere juristische Schriften verweisen auf die «allgemeine Lebenserfahrung» und die «medizinische Empirie», die zeige, dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (nicht: Schmerzen per se) in der Regel willentlich überwindbar sei. Sucht man in der medizinischen Literatur nach Belegen für diese Annahme, so findet man eher Hinweise auf das Gegenteil: In allen OECD-Staaten stehen Schmerzen weit vorne als Grund für verminderte Leistung am Arbeitsplatz (Präsentismus), Arbeitsausfälle (Absentismus) und vorzeitige Berentungen.*

Heisst: Die gesamte Rechtssprechung bezüglich der «pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage» basiert auf einer wissenschaftlich nie verifizierten «Vermutung». Soviel zum Thema: «IV-Stellen und Gerichte stehen total auf Röntgenbilder und all den schwer wissenschaftlich untermauerten Kram». Aber auch nur, wenn Versicherte diese Beweise erbringen müssen. Für das Ablehnen von Leistungen hingegen findet man die wissenschaftliche Evidenz nicht so wichtig total irrelevant.

*Jörg Jeger, Die Entwicklung der «FOERSTER-Kriterien» und ihre Übernahme in die bundesgerichtliche Rechtsprechung: Geschichte einer Evidenz, in: Jusletter 16. Mai 2011

Nachtrag Mai 2013: Klaus Foerster selbst sagt gegenüber dem Beobachter: «Die Schweizer Rechtsprechung hat meine Kriterien auf eine eigenmächtige Art übernommen und angewendet, wie ich das nie beabsichtigt habe»

Höflichkeit, Respekt und Achtung vor dem Bürger

Genauso so unwahr wie die Behauptung, dass alle IV-Bezüger Simulanten seien, wäre auch die Behauptung, dass alle IV-Gutachter ihre Arbeit nicht ordentlich machen. Denn ausgerechnet der Chefarzt der MEDAS Zentralschweiz, Dr. med. Jörg Jeger, äussert sich immer wieder sehr kritisch zur bundesgerichtlichen Rechtssprechung bezüglich der somatoformen Schmerzstörungen. So beispielsweise auch sehr ausführlich im Jusletter vom 16. Mai 2011. Davon jedoch ein andermal. Ich möchte erstmal ein kleines Detail am Rande aus dem langen Artikel Jegers herausgreifen. Etwas, das mich berührt hat. Eine Kleinigkeit mag man sagen. Ein Detail eben. Und dennoch bedeutsam. Und zwar schreibt Jeger folgendes:

«In den Verfügungen sollte von der Formulierung «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass Sie Ihre Beschwerden mit zumutbarer Willensanspannung überwinden und 100% arbeiten könnten» Abstand genommen werden. Diese Art der Kommunikation wirkt oft anmassend und verletzend.
Eine sozialverträglichere Kommunikation läge auch auf der Linie von Markus Müller, der in seinem Büchlein über die «Psychologie im öffentlichen Verfahren» von der Verwaltung im Umgang mit dem Bürger Höflichkeit, Respekt und Achtung vor dem Gegenüber fordert. Es gibt aus der beschränkten Optik eines Mediziners keinen Grund, eine rechtmässige Leistungsablehnung mit einer kommunikativen Beleidigung zu verbinden. So könnte man in einer Verfügung alternativ formulieren: «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass sich Ihre ärztlich festgestellte Krankheit nicht mit einer vom Bundesgericht als objektiv akzeptierten Methode nachweisen liess. Damit fehlen die rechtlichen Voraussetzungen für die Ausrichtung von Leistungen durch die Invaliden-versicherung.» Das würde kein Geld kosten, lediglich Sozialkompetenz.»

Nun kann man sagen: Die schönen Worte ändern auch nichts am Sachverhalt. Sie ändern aber ganz entschieden etwas an an der Perspektive. Die Formulierung mit der zumutbaren Willensanstrengung sagt eigentlich: «Wir halten Sie für einen wehleidigen Simulanten.» Und so wird das dann auch in der Bevölkerung wahrgenommen, titelte doch beispielsweise der Blick am 2. Februar 2011: «IV-Bezügern für Schleudertrauma gehts an den Kragen». Der Ausdruck «an den Kragen gehen» wird oftmals in dem Sinne verwendet, dass jemand für ein Fehlverhalten oder gar Verbrechen seine gerechte Strafe bekommt.

Ein ganz anderes Bild jedoch vermittelt die von Jeger vorgeschlagene Formulierung «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass sich Ihre ärztlich festgestellte Krankheit nicht mit einer vom Bundesgericht als objektiv akzeptierten Methode nachweisen liess». Das sagt nämlich: Wir anerkennen das Vorhandensein einer Erkrankung, sind aber leider total unfähig (naja so in etwa…), die invalidisierende Wirkung dieser Erkrankung nachzuweisen.
Der «Fehler» liegt dann nicht beim Betroffenen, der das Pech hat, an einer solchen Erkrankung zu leiden, sondern eher an der Wissenschaft, die (noch) keine geeigneten Nachweismethoden zur Verfügung stellen kann.

Es liegt leider in der Natur der Sache, dass Menschen mit unsichtbaren Krankheiten auch im Alltag gegen das Vorurteil zu kämpfen haben, sie wären an sich gar nicht richtig krank. Dass der Staat diesen Vorurteilen aber auch noch Nahrung bietet, lässt die Vermutung aufkommen, dass dies keine Unacht-samkeit, sondern volle Absicht ist. Denn natürlich lassen sich sinkende Neurentenzahlen viel besser ans Volk verkaufen, wenn die nicht gewährten bzw. gestrichenen Renten damit begründet werden, dass die Betroffenen sich eben nur ein bisschen mehr anstrengen müssten…