Auf Augenhöhe. Aktion Mensch: Ja. Insieme: Nein.

Die Aktion Mensch (Deutschland) hat im März einen Kurzfilm veröffentlicht, der entspannt und humorvoll zeigt, was «Augenhöhe» bedeutet. Empfehle, ihn anzuschauen:

Die Elternvereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung Insieme Schweiz hatte zufällig eine sehr ähnliche Idee und daraus ein mit Kitschmusik unterlegtes trändendrüsiges Ding gemacht:

Insieme zeigt damit, was KEINE Augenhöhe bedeutet: Im Zentrum stehen die wohlmeinenden Nichtbehinderten, die über ihre «bereichernde Erfahrung mit den Behinderten» reden. Die Menschen mit Behinderung werden im (Haupt-)Clip überhaupt nicht persönlich befragt (nur teilweise kurz in den Making of-Filmen) – Im Gegensatz zum Film der Aktion Mensch, wo beide Partner gleichwertig behandelt und am Schluss auch beide befragt werden.

Der Erkenntnisgewinn der Nichtbehinderten («Das sind ja Menschen wie du und ich») steht zwar beiden Filmen im Zentrum, kommt aber bei der Aktion Mensch viel subtiler, unverkrampfter und natürlicher daher, während Insieme es so verkitscht und forciert darstellt, dass man dazu den mehrfachbehinderten Professor Nils Jent zitieren möchte:

Ich koche, wenn ich den Satz ‹Behinderte sind auch Menschen› höre. Nun, wir sind tatsächlich Menschen, keine Sachen.

Selbstverständlichkeit zeigt man halt gerade nicht, indem man hundert blinkende Pfeile mit der Aufschrift «Sind Menschen wie du und ich» rund ums rosafarben inszenierte Bild plaziert und mit zuckersüsser Musik unterlegt.

Und was die Aktion Mensch in Deutschland ebenfalls ganz nebenbei wunderbar gemacht hat, nämlich verschiedene Formen der Behinderung (es ist auch ein Mädchen mit Downsyndrom dabei) ganz selbstverständlich im selben Spot unterzubringen, ist im Spartendenken des Schweizer Behindertenwesens wohl noch sehr ferne Zukunftsmusik. Im Vordergrund stehen halt leider und einmal mehr unübersehbar die Partikulärinteressen einer Organisation. Denn dass der Insieme-Spot nach offizieller Lesart anlässlich des 55-Jahr Jubiläum der Organisation erscheint, wirkt aufgrund der Zahl schon nicht sehr glaubwürdig und beim Lesen der Pressemitteilung wird noch deutlicher, weshalb dieser Spot exakt zum jetztigen Zeitpunkt veröffentlicht wird:

Menschen mit geistiger Behinderung gehören dazu. Sie sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft und machen sie erst komplett. Seit 55 Jahren setzt sich insieme für dieses Ziel ein. Aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen zeigen, dass es auch weiterhin viel zu tun gibt. So zum Beispiel bei der Diskussion um die schrankenlose Zulassung der Präimplantationsdiagnostik PID.

Dass Menschen mit einer Behinderung eine Gesellschaft «erst komplett machen» finde ich eine ganz merkwürdige Aussage. Ebenso das oft gebrauchte Wort der «Bereicherung». Warum, habe ich unter dem Titel «Menschen mit Behinderung sind was ganz Besonderes. Nicht.» schon mal erklärt.

Dass man das nichtdestotrotz wichtige Thema «Begegnung» auch mit etwas weniger erdrückendem Bereicherungs-Kitsch und «auf Augenhöhe» darstellen kann, zeigt das Video der Aktion Mensch jedenfalls eindrücklich.

Assessment – Ein Dokumentarfilm von Mischa Hedinger

Hinweis: Die Verlosung der Tickets ist abgeschlossen. Die Gewinner sind: Luzern: L. Hafen, Bern: D. Jäckel, St. Gallen: H. Müller –

Herr Strässle ist vor sieben Jahren mit dem Motorrad schwer verunfallt, hat seither von der IV gelebt und soll nun wieder arbeitsfähig sein. Ebenso Frau Speck, die an einem Hirntumor erkrankte, und Herr Nimani, der seit seinen furchtbaren Erlebnissen in den Balkankriegen an Depressionen leidet.

Diese und noch drei weitere «Klienten» der Sozialdienste des Kantons Zug sind die Protagonisten im Dokumentarfilm des jungen Berners Mischa Hedinger. Um genau zu sein, sind sie die eine Hälfte der Protagonisten – die andere Hälfte sind die sechs Vertreter von IV, RAV und Sozialamt, die in einem sogenannten «Assessment» die «Klienten» beurteilen, einen Integrationsplan aufstellen zwecks möglichst schneller Reintegration in den Arbeitsmarkt – und sei dies auch noch so unrealistisch und weltfremd.

Mit unglaublicher Formstrenge begleitet die Kamera von Mischa Hedinger diese Assessments und offenbart ohne jede Polemik und mit grösster Nüchternheit die Absurdität eines wohlmeinenden Professionalismus sozialer Institutionen, die letztendlich vor allem jenen Arbeit und Auskommen sichern, die darin beschäftigt sind.

«Assessment» hatte seine Weltpremiere im vergangenen November bei der renommierten «Duisburger Filmwoche», dem Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms, und gewann dort den «Carte-Blanche-Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen» als bester Nachwuchsfilm. Aus der Jurybegründung: «Ein Film, der Beobachter bei ihrer Arbeit beobachtet (…). Selbstentfaltungsfloskeln laufen ins Leere, Machtdynamiken werden von der Kamera entziffert, Misstrauen ist die Konstante. (…) ‹Assessment› prüft auch unseren eigenen Willen zum Ressentiment. Und Mischa Hedinger empfiehlt sich nicht bloss als findiger Beobachter und hinterlistig-präziser Erzähler. Er denkt und untersucht die Zumutungen neoliberal durchformter Realität von der Wahrnehmungs- und Machtmaschine Film her».  (Text: kinok.ch)

Filmwebsite: assessment-film.ch

Mischa Hedinger, geboren 1984 in Jegenstorf (BE), lebt und arbeitet als freischaffender Filmemacher und Editor in Zürich. Er studierte Video an der Hochschule Luzern, Design & Kunst und Film an der ECAL in Lausanne. Nach dem Abschluss des Studiums (2008) schnitt er die Kino-Dokumentarfilme «Moi c’est moi» (2011) und «Image Problem» (mit Katharina Bhend, 2012). Er unterrichtet unter anderem an der Schule für Gestaltung Bern-Biel.

Freier Film, Aarau
Mo 24. März 20.30 (mit anschliessendem Gespräch mit dem Regisseur)
Mi 26. März 18.00

Planet 13, Basel
Fr 27. Juni 20.00 (mit anschliessendem Gespräch mit dem Regisseur)

Neues Kino, Basel
Do 18. September 21.00 (mit anschliessendem Gespräch mit dem Regisseur)
Fr 19. September 21.00

Vergangene Termine:

Kinok, St. Gallen:
Di 14. Januar 20.30 (In Anwesenheit des Regisseurs Mischa Hedinger und des Soziologen Peter Schallberger. Das Gespräch moderiert die Kulturwissenschaftlerin Patricia Holder)
Mo 20. Januar 19.00
Do 30. Januar 18.45

Solothurner Filmtage:
So 26. Januar 14.15/14.30 Kino Canva Blue & Canva Club (Doppelvorstellung)
Do 30. Januar 11.30 Kino im Uferbau

Stattkino, Luzern:
Mi 5. Februar 19.00 (mit anschliessender Diskussionmit dem Regisseur)

Filmpodium Biel/Bienne
Montag 24.02.14 um 20.00 (mit anschliessender Diskussion mit dem Regisseur)

Kino im Kunstmuseum, Bern:
Mo 3. März um 18.00 (mit anschliessender Diskussion mit dem Regisseur)