Plündern Ausländer die IV? – reloaded

Wir optimieren, qualifizieren, diplomieren und zertifizieren uns ein Leben lang. Wir werden seit frühester Jugend angehalten, stets das «Beste» aus uns zu machen. Und wir lesen und hören es immer wieder: Fehlende Aus- und Weiterbildung stellt das grösste Risiko dar, arbeitslos, Sozialhilfe – oder IV-Rentenbezüger zu werden. Nur: wenn alle optimiert, qualifiziert und diplomiert sind – wer arbeitet dann in den Fabriken? Wer auf den Baustellen? Als Putzkraft?

Ja, wer macht diese Jobs in der Schweiz…?

So hätte der Artikel eigentlich beginnen sollen. Er hätte davon handeln sollen, dass in Berufen mit hohem Unfallrisiko der Ausländeranteil überdurchschnittlich hoch ist, dass der Migrationskontext eine erhöhte gesundheitliche Vulnerabilität darstellen kann und damit im Falle einer Erkrankung die Vorraussetzungen für eine erfolgreiche Krisenbewältigung ungünstiger sind, als bei Menschen mit der selben Erkrankung, aber ohne Migrationshintergrund.

Ich hätte schreiben wollen, dass belastende Arbeitsbedingungen wie Eintönigkeit, mangelnde Befriedigung, körperliche Anstrengung, fehlende gesellschaftliche Anerkennung und geringer Lohn ebenso zu einer schlechteren Allgemeinverfassung beitragen können, wie die berufliche Perspektivenlosigkeit aufgrund mangelnder Ausbildung und Zusatzqualifikationen und damit das Invaliditätsrisiko erheblich steigern.

Ich hätte geschrieben, dass mit zunehmender Qualifikation eines Arbeitnehmers auch die Bereitschaft der Arbeitgeber steigt, diesen im Falle einer Krankheit oder eines Unfalls an einem geeigneten Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen – und in entgegengesetzter Richtung mit abnehmender Qualifikation des betroffenen Mitarbeiters eben auch sinkt. Was an sich logisch ist, denn je tiefer die Qualifikation desto weniger flexibel ist jemand einsetzbar.

Ich hätte auch erwähnen wollen, dass die Invalidenversicherung eine sogenannte Gleichwertigkeitsklausel kennt, die es in der Regel nicht erlaubt, dass sich jemand durch eine von der IV bezahlte Wiedereingliederungsmassnahme beruflich und finanziell besser stellen kann, als er es vor Eintritt der Invalidität war. Und was macht man dann mit unqualifizierten Arbeitskräften, die aufgrund einer körperlichen Behinderung/Erkrankung keine körperlich anstrengenden Tätigkeiten mehr ausüben können, wenn man sie nicht höher qualifizieren darf? Bzw. die Höherqualifikation (auf den ersten Blick) zu teuer/aufwändig und bei älteren Arbeitnehmern schlicht nicht mehr möglich ist? Genau: Berenten.

So hatte ich das alles gestern bereits geschrieben. Und nun wurden just heute zwei Studien des BSV veröffentlicht, die die erhöhte Rentenquote von Menschen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei erforscht haben – deshalb füge ich mal das Fazit der einen Studie hier an:

Aufgrund der in dieser Studie festgestellten Tatsache, dass das erhöhte Invaliditätsrisiko der Migranten nicht «IV-hausgemacht» ist, sondern primär auf dem Verfahren zeitlich vorgelagerte Gründe zurükkzuführen ist, erweist sich der Spielraum der Invalidenversicherung für Anpassungen als eng. An der Tatsache, dass Migrantinnen und Migranten aus den hier im Vordergrund stehenden Ländern in Risikoberufen arbeiten, unterdurchschnittlich qualifiziert sind, häufig die Landessprache schlecht beherrschen, durch zusätzliche biographische Faktoren etwas stärker belastet und tiefere Eingliederungschancen in angepassten Tätigkeiten aufweisen als Schweizerinnen und Schweizer, kann die IV selbst wenig ändern.

Insgesamt verweisen die Befunde dieser Studie darauf, dass das Invaliditätsrisiko der Migrationsbevölkerung in der Schweiz wohl in starkem Masse von der Einwanderungs- und Integrationspolitik abhängt. Je besser die Integration der Migrantinnen und Migranten gelingt, desto grösser dürfte auch die Wahrscheinlichkeit sein, dass sie im Falle einer gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit wieder beruflich eingegliedert werden könen. (Quelle: «Migrantinnen und Migranten in der Invalidenversicherung: Verfahrensverläufe und vorgelagerte Faktoren» BSV 2010)

Erfreulich, dass das Ganze nun auch noch wissenschaftlich untermauert wird.

Ich füge dann doch nochmal einen Teil dessen ein, was ich eigentlich schreiben wollte, denn es verliert nichts von seiner Gültigkeit:

Anstatt sie zu verunglimpfen und zu Sündenböcken zu machen, sollten wir all diesen Menschen dankbar sein, die trotz Heimweh, schlechten Arbeitsbedingungen, Schichtarbeit, tiefem Lohn und körperlicher Belastung unsere Strassen und Häuser bauen, für saubere Büros sorgen, die alten Menschen pflegen, in den Wäschereien der Spitäler arbeiten und in den Fabriken an den Maschinen stehen. Und an tausend anderen Orten in aller Stille und Verstecktheit dafür sorgen, dass unser aller Leben reibungslos funktioniert.

Und es sollte selbstverständlich sein, dass sie bei Krankheit oder Unfall von der Invalidenversicherung, für die sie Beiträge bezahlt haben (denn wer nicht einbezahlt hat, erhält auch keine Leistungen) unterstützt werden.