EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Vermögen (Teil 2/2)

Wie im letzten Artikel aufgezeigt, entwickelt sich in der Bevölkerung ganz langsam ein Bewusstsein dafür, was die bei der letzten EL-Reform so beiläufig unter Umgehung der Vernehmlassung eingeführte Rückerstattungspflicht in der Praxis bedeutet: Nämlich, dass von den beschlossenen Verschärfungen erschreckenderweise gar nicht nur EL-Bezüger·innen betroffen sind. Auch Nicht-EL-Bezüger·innen können dann plötzlich von der kinderlosen Tante, um die sie sich jahrelang gekümmert haben, gar nicht mehr soviel erben, wie erhofft. Oder das Hüsli der eigenen Eltern kann wegen der jahrelangen Pflegebedürftigkeit des Vaters nicht geerbt werden, sondern muss verkauft werden, um damit die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückzubezahlen.

Es ist bezeichnend, dass von allen Restriktionen, die mit der EL-Reform eingeführt wurden, ausgerechnet jene Massnahme die grösste Empörung auslöst und bereits wieder rückgängig gemacht werden soll, welche EL-Beziehende zu deren Lebzeiten gar nicht direkt betrifft, sondern die vor allem die selbst meist nicht EL-beziehenden Erben zu spüren bekommen.

Mit ein bisschen mehr Weitsicht würde man natürlich erkennen, dass auch diverse andere Regelungen, welche vordergründig «nur» EL-Beziehende im Umgang mit ihrem Vermögen disziplinieren sollen (z.B. die Vermögensgrenze) schlussendlich auch Auswirkungen auf (noch) Nicht-EL-Beziehende haben. Nicht, dass die Auswirkungen auf Nicht EL-Bezüger·innen das einzig valable Argument gegen verschiedene EL-Bestimmungen wäre, aber es ist offenbar fast das einzige, das bei selbst (noch) nicht EL-beziehenden Personen verfängt. Alles, was hingegen Menschen betrifft, die bereits auf EL angewiesen sind und das auch längerfristig bleiben werden, scheint… vernachlachlässigbar.

Lebensführungskontrolle

Im Tagi-Artikel zur Rückerstattungspflicht für Erben kam die SP-Nationalrätin Gysi auch auf die (von Grünen und SP immerhin schon bei deren Einführung bekämpften) Lebensführungskontrolle zurück. Es ging ihr dabei wohl weniger um den Umgang von langjährigen IV-Beziehenden mit ihrem Vermögen, sondern in erster Linie um AHV-Beziehende, «die sich doch auch mal was gönnen dürfen sollen», ohne dass sie bei einem (potentiellen/späteren) EL-Bezug dafür sanktioniert werden:

Die Linke stört sich noch an einer weiteren Neuerung, die mit der EL-Reform eingeführt wurde. So kann ein übermässiger Vermögensverbrauch zu einer Kürzung des EL-Anspruchs führen. Als übermässig definiert das Gesetz einen Vermögensabbau von über 10 Prozent pro Jahr. Bei Vermögen bis 100’000 Franken gilt der Abbau von mehr als 10’000 Franken als übermässig. Wenn jemand während seines Erwerbslebens 100’000 Franken angespart hat und nach der Pensionierung 30’000 Franken für eine langersehnte Reise ausgibt, dann kann dies beim Antrag auf EL als unbegründeter Vermögensverbrauch gelten. Diese Neuregelung komme einer Lebensführungskontrolle gleich und sollte ebenfalls wieder abgeschafft werden, sagt Gysi. Zudem führe diese Regelung zu einem übermässigen Aufwand bei den Sozialversicherungsanstalten.

Erben sollen staatliche Hilfe für ihre Eltern nicht mehr begleichen müssen, Tages Anzeiger 4.11.2023

Die Lebensführungskontrolle gilt für AHV-Rentner·innen bereits zehn Jahre vor der Pensionierung und für alle EL-Beziehenden während der gesamten Zeit ihres EL-Bezuges. Für IV-Beziehende mit EL-Bedarf bedeutet das, dass sie viele Jahrzehnte, nämlich ihr ganzes restliches Leben lang unter amtlicher Aufsicht stehen und nur beschränkt über ihr eigenes Vermögen verfügen dürfen. Der gehässige Grundton mit der 2018 legiferiert wurde, wird im Votum von Thomas Weibel (GLP) deutlich:

Wenn ein IV-Berechtigter sein Vermögen übermässig abbaut, ohne das Geld in Pflegemassnahmen oder andere sinnvolle Tätigkeiten zu investieren, wenn er es auf Deutsch gesagt verprasst, dann habe ich kein Verständnis für diese Person. Dann ist es richtig, dass dieses Vermögen angerechnet wird.

Weibels Votum zeigt, wie er IV-Beziehende sieht: Als lästige Kostenfaktoren, die mit ihrem selbst angesparten Geld gefälligst ihre «Pflegemassnahmen» (Dafür gibt’s eigentlich Versicherungen) bezahlen oder in «sinnvolle Tätigkeiten» investieren sollen. Vielleicht meint er mit zweiterem, dass Behinderte eigentlich dafür bezahlen soll(t)en, dass sie «sinnvolle Tätigkeiten» in der geschützten Werkstätte verrichten dürfen?

Was Weibel und sehr vielen seiner Ratskolleg·innen vermutlich nicht bewusst oder halt einfach egal war: 30% der IV-Beziehenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, erzielen selbst ein Erwerbseinkommen (nach Zahlen vom BSV, Statistik nicht öffentlich). Zwar sind diese Einkommen oft eher gering (bei höheren Einkommen sind die Leute ja auch gar nicht mehr auf EL angewiesen), aber bei der EL-Berechnung wird jegliches Einkommen, das über 1000.-/Jahr liegt, zu zweit Dritteln angerechnet und die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt. Was hingegen den damaligen Parlamentarier·innen sehr wohl bewusst war: Bei EL-Beziehenden, die verheiratet sind, wird auch das Einkommen des Ehepartners bei der EL-Berechnung einbezogen. Das Parlament hat nämlich im Rahmen der EL-Reform beschlossen, dass das Einkommen von Ehepartner·innen nicht mehr wie bisher zu 2/3, sondern zu 80% angerechnet wird.

Das Bewusstsein reicht dann aber offenbar nicht so weit, um auch tatsächlich zu verstehen, dass EL-Beziehende nicht ausschliesslich von Ergänzungsleistungen leben. Zuerst einmal beziehen sie eine Versicherungsleistung, nämlich eine AHV- oder IV-Rente. Dazu können je nach persönlicher Situation unter anderem noch folgende Einkommensquellen kommen: eine weitere Rente (z.B. Pensionskasse), eigenes Erwerbseinkommen (oder das des Ehepartners) oder auch Vermögensverzehr auf dem Vermögen. Erst, wenn das alles nicht reicht, um den Lebensbedarf zu decken, werden als Ergänzung eben Ergänzungsleistungen ausgerichtet. Bei 15 % der EL-Beziehenden werden ausschliesslich die Krankenkassenprämien vergütet. Anders als IPV-Empfänger·innen, die nicht einer konstanten Lebensführungskontrolle unterliegen, reicht es bei EL-Beziehenden aus, das nur ein kleiner Anteil ihrer Lebenshaltungskosten durch die EL vergütet wird, dass sie in ihren gesamten finanziellen Belangen den Restriktionen des EL-System unterworfen werden. Unter anderem auch beim Umgang mit ihrem Vermögen.

Sparen? Eine ganz dumme Idee für EL-Beziehende

Die Möglichkeiten von EL-Beziehenden durch eigenes Einkommen ein Vermögen zu bilden, sind oberflächlich betrachtet eher gering, aber bei gleichzeitig sehr bescheidener Lebensführung (immerhin liegen die Ansätze für die Lebenshaltungskosten bei den EL deutlich höher als bei der Sozialhilfe) und über den Zeitraum von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten hinweg nicht völlig unmöglich.

Doch über das Geld, was sich IV/EL-Beziehende teils selbst erarbeiten und/oder mühsam quasi vom Mund absparen, dürfen sie nicht frei verfügen, sondern sollen es – nach Vorstellung von Herr Weibel (siehe oben) «in Pflegemassnahmen oder andere sinnvolle Tätigkeiten investieren». Und mehr noch: Das erarbeitete (oder von der EL ausbezahlte) Geld nicht kontinuierlich auszugeben, sondern es über mehrere Jahre hinweg zu sparen, wird explizit bestraft.

Wenn eine Einzelperson mehr als 30’000.- bzw. ein Ehepaar mehr als 50’000.- auf dem Konto hat, kosten jede zusätzlichen 1000 Franken die Betroffenen jedes Jahr(!) je nach persönlicher Situation 66.66 Franken (IV-Beziehende), 100.- (AHV-Beziehende) oder sogar 200.- (Heimbewohner·innen), um welche die jährlichen EL-Zahlungen gekürzt werden. Für eine (daheimlebende) IV/EL-beziehende Person, die zehn Jahre lang 40’000.- auf dem Konto hat, bedeutet das, dass sie jedes Jahr 666.66 weniger EL erhält und nach zehn Jahren 6666.- weniger EL erhalten haben wird. Allfällige Bankzinsen werden übrigens bei den Ergänzungsleistungen zusätzlich 1:1 als «Einkommen» angerechnet.

Das heisst: Geld – über den Freibetrag hinaus – zu sparen, ist für EL-Beziehende ein erhebliches Verlustgeschäft. Statt zuviel Geld auf dem Konto zu haben, ist es für EL-Beziehende deshalb sehr viel «lohnender» ihr Geld beispielsweise regelmässig in den Kauf und Konsum von bewussstseinserweiternden Substanzen zu investieren, um weiterhin in den Genuss von ungekürzten EL-Zahlungen zu kommen. «Drogenkonsum» läuft zwar vermutlich nicht unter dem, was Herr Weibel unter «sinnvolle Tätigkeiten» für IV-Beziehende versteht, aber da auch bei Suchterkrankungen (wieder) IV-Renten gesprochen werden, ist das kein völlig abwegiger Verwendungszweck, der unter 10’000.-/Jahr auch nicht sanktioniert werden kann.

Interessant dürfte es dort werden, wo IV-Beziehende erkrankungsbedingt (Drogensucht, Spielsucht, Kaufsucht, Manie, Psychose) sehr schnell mehr als 10’000.- von ihrem Vermögen ausgeben: Könnten die EL-Behörden ein krankhaftes Verhalten sanktionieren, dass der «Grund» für den IV- und damit auch den EL-Bezug ist?

Nun werden einige Leser·innen einwenden: Aber IV-Beziehende mit Ergänzungsleistungen haben doch oft eh gar kein grösseres Vermögen, das sie schnell ausgeben könnten. Zum einen erzielen sie meist nicht viel Erwerbseinkommen und zum anderen sparen sie nicht, weil es sich (siehe oben) sowieso nicht lohnt. Ein Blick in die Statistik zeigt allerdings: Es gibt durchaus EL-Beziehende, die über ein gewisses Vermögen verfügen:

BfS: Periodische EL, Vermögen, Fälle Ende Jahr

Da die Vermögensgrenze bei 100’000.- liegt, können EL-Beziehende einerseits mit einem gewissen Vermögen in den EL-Bezug «starten» und zum anderen können sie auch während des EL-Bezuges sehr plötzlich zu einigem Vermögen kommen: In der Schweiz wird viel Geld vererbt und geerbt. Auch von EL-Beziehenden. Und das kann diese – selbst wenn sie das Geld nicht «verprassen» – paradoxerweise sogar in grosse finanzielle Nöte bringen.

Exkurs – Wenn EL-Beziehende selber erben

EL-Bezüger·innen wird eine Erbschaft rückwirkend ab dem Todestag des Erblassers angerechnet. Das bedeutet, dass auch bei noch unverteilten Erbschaften die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt oder ganz eingestellt werden. Bei jahrelangen Erbschaftsstreitigkeiten erhalten EL-Beziehende dann weder ihre Erbschaft, noch Ergänzungsleistungen und sind im schlimmsten Fall sogar auf Sozialhilfe angewiesen. Die Radiosendung Espresso berichte im Sommer 2023 von einem solchen Fall:

Für Marc Müller hat diese Regelung drastische Konsequenzen: «Bis heute habe ich von meinem Erbe keinen roten Rappen gesehen», erzählt er im SRF-Konsumentenmagazin «Espresso». Grund: Die anderen beiden Erbparteien sperren sich dagegen, dass sich Marc Müller seinen Anteil auszahlen lassen kann. Sie weigern sich auch, ihn – den IV-Bezüger mit psychischen Problemen – an den Mieteinnahmen zu beteiligen. Marc Müller klagt vor Gericht auf Erbteilung. Doch dieses schiebt den für ihn so wichtigen Entscheid seit Jahren vor sich her. Gleichzeitig sitzen ihm die Steuerbehörden im Nacken: Jene des Kantons Bern und jene des Kantons, in dem das Mehrfamilienhaus steht. Zumindest die Berner Behörden hätten lange Verständnis gezeigt für seine schwierige Lage, aber nun würden auch sie ihren Anteil am – theoretisch vorhandenen – Vermögen einfordern. Absurd: Auf dem Papier und für die Behörden gilt der Mann seit nunmehr acht Jahren als vermögend. In Tat und Wahrheit haben sich über die Jahre Schulden angehäuft. Damit er noch halbwegs über die Runden kommt, ist er jetzt von der Sozialhilfe abhängig.

Trotz Erbschaft seit Jahren in der Schuldenfalle, Espresso, 16.6.2023

Um nicht in eine solche Situation zu kommen, könnten EL-Beziehende ihr Erbe ja einfach ausschlagen? Nun, nein, das dürfen sie leider nicht:

Grundsätzlich kann jeder Erbe und jede Erbin innert dreier Monate nach dem Tod des Erblassers eine Erbschaft auch ausschlagen. Das Problem sei aber, dass die für die Ergänzungsleistungen zuständige Sozialversicherung eine ausgeschlagene Erbschaft als Vermögensverzicht anrechnen dürfe, sagt Sozialrechtsexperte Michael Meier.

«Catch 22» Wie man so schön sagt. Bei Espresso meldeten sich nach der Ausstrahlung noch andere Betroffene und in der Sendung vom 8. September 2023 wurde das Thema nochmal aufgegriffen und gefragt, ob man da nicht die Regeln ändern könne?

Das BSV liess jedoch auf Nachfrage hin verlauten, es sähe «keinen Handlungsbedarf», es könne da auch sowieso nichts machen und dass es für eine Gesetzesänderung einen Vorstoss vom Parlament bräuchte. Daraufhin reichte die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter am 22.12.2023 die Interpellation «Auf dem Papier vermögend, in der Realität arm: Verlust des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen trotz blockierter Erbschaft» ein. Sie fragt darin unter anderem:

Wäre es denkbar eine Regelung einzuführen, dass Ergänzungsleistungen im Fall einer blockierten Erbschaft in der Übergangsphase weiter bezogen werden könnten und später zurückbezahlt werden müssten?

Dieses Prinzip kommt grundsätzlich immer zu Geltung, wenn eine EL-beziehende Person erbt. Denn eine Erbschaft steht den Erben nie bereits am Todestag des Erblassers zu Verfügung. Oft dauert es Monate, um nur schon festzustellen, wie hoch ein Erbe überhaupt ausfallen wird. Zwischen dem Todestag und dem Zeitpunkt, an dem Klarheit über die Höhe des Erbes herrscht, werden die Ergänzungsleistungen weiterhin ausbezahlt. Steht die Höhe des Erbes fest, wird eine Neuberechnung der Ergänzungsleistungen vorgenommen und seit dem Todestag des Erblassers zuviel bezogene Leistungen werden zurückgefordert und gegebenfalls die Leistungen eingestellt. Soweit so klar.

Doch die Tücke liegt bereits bei soweit unproblematischen, also relativ zügig ausbezahlten Erbschafen im Detail: Weil das durch das Erbe erhöhte Vermögen ab dem Todestag angerechnet wird, aber das durch die Rückzahlung verminderte Vermögen erst am 1. Januar des auf die Rückzahlung folgenden Jahres für die künftige Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigt wird, werden erbende EL-Beziehende grundsätzlich immer etwas «betrogen». Meist sind das keine hohen Beträge, aber je nachdem, wie weit die Zeitpunkte von Todesfall, Meldung, Rückzahlung und Jahresende auseinander bzw. zueinander liegen und ob es sich um eine hohe Erbschaft und einen hohen EL-Bedarf (z.B. im Heim) handelt, können sich für die betroffenen EL-Beziehenden durchaus schmerzhaft spürbare Beträge ergeben, die ihnen vorenthalten werden.

Die Ausgleichskasse Solothurn hat sich dieses System besonders schlaumeierisch zu Nutze gemacht: Weil sie die Meldung über eine Erbschaft erst neun Monate nach deren Eingang bearbeitet hat, konnte der EL-Bezüger zuviel bezogene EL nicht früher zurückzahlen und deshalb wurde ihm für die Neuberechnung der Ergänzungsleistungen rückwirkend ein Vermögen angerechnet, dass er gar nicht mehr gehabt hätte, wenn die EL das Erbe früher berücksichtigt hätte (Kurze Anmerkung meinerseits: da die Meldung kurz vor Jahresende erfolgte, wäre dasselbe auch passiert, wenn die EL-Stelle nur zwei Monate zur Bearbeitung gebraucht hätte). Da der betroffene EL-Bezüger in einen Heim wohnt und ihm somit jährlich 20% seines (über dem Freibetrag liegenden) Vermögens als Vermögensverzehr angerechnet wird, bedeutet das, dass er ein Jahr lang 100.-/Monat weniger EL bekam, als ihm eigentlich zustehen würde. Die Beiständin des Mannes wehrte sich vor dem Verwaltungsgericht gegen diesen Entscheid, doch das Gericht gab der Ausgleichskasse recht. Es argumentierte, dass die (rückwirkend berechnete!) Rückforderung zum für die Berechnung massgeblichen Zeitpunkt noch gar nicht bestanden hätte (wie denn auch?) und folglich vom zum massgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Vermögen nicht in Abzug gebracht werden kann und zudem ist dieser Betrug der EL rechtens, weil:

Mit Blick auf die gerichtsnotorisch hohe Arbeitsbelastung der Ausgleichskasse sei es nachvollziehbar, dass die Neuberechnung der Ergänzungsleistungen nicht vor Ende 2021 habe gemacht werden können.

Weniger Geld für einen IV-Rentner: Was passieren kann, wenn Dossiers für Ergänzungsleistungen nicht schnell genug bearbeitet werden, Solothurner Zeitung, 13.9.2023

Wie das Gericht (nach neuem EL-Recht) wohl entschieden hätte, wenn der Mann statt 60’000 Franken 105’00 Franken geerbt hätte? Mit dieser abenteuerlichen Logik läge sein Vermögen «auf dem Papier» dann so lange über der Vermögensgrenze, bis die EL ihre Rückforderung stellt und er hätte deshalb rückwirkend während der ganzen Zeit gar keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen gehabt, weshalb die EL sämtliche seit dem Todestag des Erblassers bezogenen Leistungen (in diesen Fall wären das über 40’000.- gewesen) zurückfordern könnte. Dies, obwohl die Vermögensgrenze bei sofortiger Einstellung/Rückzahlung der Ergänzungsleistungen schon nach kürzester Zeit unterschritten worden wäre und somit wieder ein EL-Anspruch bestanden hätte. Welche abenteuerlichen Berechnungsmedthoden die Ausgleichskasse Solothurn dann erst bei der Rückzahlung von jahrelang von blockierten Erbschaften anwenden würde, will man lieber nicht so genau wissen.

Der Vorstoss von Suter wäre aber auf jeden Fall ein guter Anlass, um auch solche Schlaumeiereien der Durchführungsstellen künftig zu verhindern. Das Ganze würde gerechter, wenn bei der unterjährigen Neuberechnung der Ergänzungsleistungen aufgrund einer Erbschaft für die Berechnung der EL ab Meldedatum die Erbschaft nicht mehr voll, sondern abzüglich der gleichzeitig berechneten Rückforderung angerechnet würde. Denn es liegt schon eine gewisse bösartige Ironie darin, dass EL-Bezüger·innen bei einer Erbschaft rückwirkend ab dem Todestag des Erblassers ein Vermögensverzehr angerechnet wird, den sie zurückzahlen müssen, aber bei der Berechnung der künftigen Ergänzungsleistungen eben dieser bereits angerechnete Vermögensverzehr auf wundersame Weise durch die Rückzahlung gar nicht «verzehrt» wurde. Das Problem des (rückwirkenden) Unterschreitens der Vermögensgrenze zwischen Todestag des Erblassers und Meldedatum wäre damit allerdings noch nicht behoben und muss anders gelöst werden.

Auch beim Erben widerspiegeln sich die geringen Selbstbestimmungsmöglichkeiten von EL-Beziehenden

Insgesamt ist festzuhalten, dass eine Erbschaft für eine EL-beziehenden Person nur dann grösstenteils unproblematisch ist, wenn ihr gesamtes Vermögen dadurch nicht über 30’000.- steigt oder die Erbschaft so hoch ist, dass die Erbin oder der Erbe langfristig (am besten lebenslang) keine Ergänzungsleistungen mehr benötigt. Erbschaften, durch welche das Vermögen auf zwischen 30’000.- und 100’000.- steigt, ermöglichen den begünstigten EL-Beziehenden zwar eine gewisse Bewegungsfreiheit, doch diese ist wird begrenzt durch die Lebensführungskontrolle, die den Verbrauch auf 10’000.-/Jahr beschränkt. Da das Erbe nur «dosiert» verbraucht werden darf, wird auf dem verbleibenden Vermögen jedes Jahr ein zusätzlicher Vermögensverzehr angerechnet, der das Erbe weiter schmelzen lässt. Die Erbanteile, welche das Vermögen über die Vermögensgrenze von 100’000.- ansteigen lassen, aber keine längerfristige Ablösung von der EL ermöglichen, sind für EL-Beziehende meist nutzlos (ausser es handelt sich um Immobilien/anteile mit Wohnrecht).

Eltern oder andere Angehörige sollten deshalb gemeinsam mit der EL-beziehenden und voraussichtlich erbenden Person und ggf. einer Juristin sehr gut überlegen, wie ein Testament so gestaltet werden kann, dass die EL-beziehende Person dann auch tatsächlich «etwas vom Erbe hat». Eltern von behinderten (erwachsenen) Kindern neigen dazu, ihre behinderte Tochter oder ihren behinderten Sohn im Testament bevorzugen zu wollen, damit es ihr oder ihm nach deren Tod «gut geht». Doch aufgrund der Gesetzgebung empfehlen Jurist·innen genau das Gegenteil:

Die Lösung, welche die Juristin Janine Camenzind vorschlägt, heisst: Zuwendung an Dritte mit Auflage. Das geht so: Das Kind wird auf den Pflichtteil gesetzt, über den verbleibenden Erbanteil können die Eltern frei verfügen. «Sie können diesen als Zuwendung einer anderen Person zukommen lassen, mit der Auflage, dem behinderten Kind gewisse Leistungen zu gewähren.» Laut Camenzind könnte die beauftragte Person dem Kind etwa die Ferien oder den Coiffeur bezahlen, einen neuen Laptop kaufen oder die Kosten einer Therapie übernehmen, die von der Grundversicherung und damit auch von den EL nicht bezahlt werden. Die Zuwendungen seien zwingend als freiwillige Leistung zu gestalten. Die beauftragte Person solle diese nach eigenem Ermessen und nach Bedarf des Kindes ausrichten können, betont Camenzind. Das Kind darf keinen Anspruch auf die Leistungen haben, weil sie sonst bei den EL angerechnet werden. Voraussetzung ist schliesslich auch, dass die Eltern eine Person mit der Aufgabe betrauen, der sie voll vertrauen können.

Die Möglichkeiten, um die Lebensqualität von behinderten Kindern mit EL zu verbessern, seien letztlich aber sehr beschränkt, so Camenzind. Die Juristin, die im Rahmen eines Nationalfondsprojekts zur Nachlassplanung bei Nachkommen mit Behinderung forscht, sieht den Grund darin, dass die EL-Regeln für Einkommen und Vermögen keinen Unterschied machen zwischen bedürftigen Altersrentnern und Bezügerinnen einer IV-Rente. Dabei seien vor allem IV-Rentner auf EL angewiesen, darunter sehr viele, die seit Geburt behindert seien. Diese stünden mitten im Leben und brauchten mehr Mittel als Menschen im hohen Alter, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sagt Camenzind. «Wenn die Eltern aber keine Möglichkeit haben, mit einer Erbschaft den Lebensstandard ihrer Kinder über das Existenzminimum der EL anzuheben, dann ist dies problematisch.» Die betroffenen Kinder selbst seien nicht in der Lage, ihre Situation zu verbessern – ausser sie erbten so viel, dass es sie langfristig von den EL befreit.

«Erben mit Behinderung: Damit das Kind etwas vom Erbe hat» Tages Anzeiger, 23.11.2020

Im Fall von Menschen mit einer Behinderung , die unter Vormundschaft stehen und aus behinderungsbedingten Gründen nicht die Fähigkeiten haben, ihr Geld selbst zu verwalten, mag die vorgeschlagene Lösung mit den freiwilligen Zuwendungen vielleicht noch knapp akzeptabel sein. Für alle anderen IV/EL-Beziehenden widerspiegelt diese mehr schlechte als rechte «Lösung» einmal mehr das enge Korsett des EL-Systems, welches ihre finanzielle Selbstbestimmung massiv einschränkt und dem sie oft lebenslang schlicht nicht entkommen können.

EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Vermögen (Teil 1/2)

Im Zuge der EL-Reform wurden die kleinen Möglichkeiten der EL-Beziehenden zur finanziellen Selbstbestimmung und Optimierung nicht nur wie in den letzten beiden Beiträgen gezeigt bei den Krankenkassenprämien und den Mietzinsmaxima unterbunden. Auch im Umgang mit Vermögenswerten wurden mehrere Änderungen eingeführt, welche zum einem die finanzielle Selbstbestimmung der Betroffenen zusätzlich einschränken und zum anderen den Charakter der Ergänzungsleistungen fundamental ändern.

Für den Bezug von Ergänzungsleistungen wurde neu eine Vermögensgrenze eingeführt, die Freibeträge gesenkt und eine Art finanzielle Lebensführungskontrolle etabliert. Mit der Rückzahlungspflicht nach dem Tod der EL-beziehenden Person durch deren Erben wurden die Ergänzungsleistungen zudem in ein Fürsorgesystem umgewandelt. Sowohl die Vermögensgrenze als auch die Rückzahlungspflicht waren nicht in der Vernehmlassung, sondern wurden erst während der parlamentarischen Debatten still und leise durchs Hintertürchen eingebracht und – in Anbetracht der damit einhergehenden grundlegenden Systemänderung – ziemlich (fahr)lässig durchgewunken.

Vordergründig ging es bei den Änderungen im Bezug auf den Umgang mit Vermögen um «Missbrauchsbekämpfung» und um finanzielle Einsparungen, allerdings wurde auch hier in der sehr kurzsichtigen Gesetzgebung nicht bedacht, dass Gesetzesänderungen diverse Effekte nach sich ziehen können, die so nicht beabsichtigt waren (z.B. Verhaltensänderungen aller Beteiligten, ausufernden Bürokratie usw.) und die ursprünglichen Absichten pervertieren und auch das Sparpotenzial deutlich mindern können.

Die Neuerungen

Der Freibetrag für alleinstehende Personen wurde von 37’500.– auf 30’000.– und für Ehepaare von 60’000.- auf 50’000.– gesenkt. Das bedeutet, dass bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen auf die diese Beträge übersteigenden Vermögenswerte ein Vermögensverzehr von jährlich 1/15 (IV-Beziehende) bzw. 1/10 (AHV-Beziehende bzw. (je nach Kanton unterschiedlich) bei Heimbewohner·innen bis zu 1/5 pro Jahr angerechnet und die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt werden.

Vor der Reform wurde natürlich auch schon ein jährlicher Vermögenverzehr angerechnet, aber es gab keine explizite Vermögensgrenze nach oben. Das heisst, je höher das Vermögen war, desto weniger EL bekam jemand, bis dann halt – je nach individueller Berechnung – gar kein Anspruch mehr bestand. Es war ein fliessender Übergang mit wenig Schwelleneffekten.

Mit der Einführung einer Vermögensgrenze ist der Übergang nun nicht mehr fliessend, sondern sehr abrupt gestaltet worden. Alleinstehende erhalten keine Ergänzungsleistungen, solange ihr Vermögen über 100’000.- beträgt. Bei Ehepaaren liegt die Grenze bei 200’000.-. Da die Lobby der Eigenheimbesitzer·innen im Parlament sehr stark ist, wurde allerdings die bereits vorher bestehende Privilegierung von Wohneigentum noch weiter verstärkt: Für selbstbewohntes Wohneigentum gilt zum einen keine Vermögensgrenze und zum anderen liegt der Freibetrag für Wohneigentum bei 112’500.- bzw. bis zu 300’000.- wenn ein Ehegatte Hilflosenentschädigung bezieht oder im Heim lebt.

Konkret bedeutet das: Wer 112’500.- auf dem Konto hat, bekommt keinen Rappen Ergänzungsleistungen, aber wer Wohneigentum bewohnt, das einen deutlich höheren Wert hat, kann durchaus Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben. Oder anders gesagt: Wer (Wohneigentum) hat, dem wird gegeben.

Neu eingeführt wurde auch eine Lebensführungskontrolle. EL-Bezüger·innen dürfen pro Jahr noch höchstens 10’000.- ihres Vermögens verbrauchen, bei höheren Ausgaben müssen sie belegen, dass diese aus «wichtigen» Gründen erfolgten. Können sie dies nicht, werden ihnen die EL so berechnet, wie wenn sie das «übermässig» ausgegebene Vermögen noch hätten. Begründet wurde die Gesetzgebung über den «übermässigen Vermögensverbrauch» damit, dass – angeblich – verhindert werden sollte, dass Personen vor oder am Anfang der Pensionierung «ihr ganzes Geld verjubeln» und danach Ergänzungsleistungen beziehen (müssen). AHV-Rentner·innen, die EL beantragen, dürfen deshalb bereits in den 10 Jahren vor dem AHV-Rentenanspruch nicht mehr als 10% ihres Vermögens pro Jahr «ohne wichtigen Grund» verbraucht haben. Da ein IV-Bezug nicht ganz so vorhersehbar ist, wie die Pensionierung, greift die Lebensführungskontrolle für IV-Beziehende gnädigerweise erst ab Rentenanspruch.

Last but not least wurde eine Rückzahlungspflicht nach dem Tod eingeführt. Erb·innen müssen aus dem Nachlass Ergänzungsleistungen zurückzahlen, welche der oder die Verstorbene zu Lebzeiten bezogen hat. Dies gilt für Erbschaften, die 40’000.- übersteigen.

Rückblick ins Jahr 2018: Wenn Wutbürgerparlamentarier·innen Gesetze machen

Ein Blick zurück zeigt, dass diverse Regelungen zu den Vermögenswerten nicht aufgrund von wohlüberlegten Abwägungen neu gestaltet wurden. Vielmehr regierte auch hier der Geist eines äusserst kurzsichtigen Wutbürgertums, das – wie bereits den Krankenkassenprämien – durch einen skandalisierenden Medienbericht über empörende Einzelfälle in Rage versetzt wurde und drastische Bestrafungen Änderungen forderte.

Die damalige SP-Nationalrätin Silvia Schenker beschrieb ihr Unbehagen mit dieser Art von Gesetzgebung in der Frühjahrssession am 14. März 2018, als die EL-Reform im Parlament behandelt wurde:

Schenker Silvia (S, BS):
Es mutet vielleicht etwas seltsam an, dass ich hier eine Minderheit vertrete, die sich gegen die Einführung einer Vermögensschwelle richtet. In erster Linie ist es die Art und Weise, wie hier legiferiert wurde, die mich stört. Wegen eines Artikels in einer Zeitung über einen zugegebenermassen extremen Einzelfall wird ein Wechsel des EL-Systems vorgenommen.
(…)

Neu müssen alle ihr Vermögen bis auf 100 000 Franken verbrauchen, bevor sie überhaupt in das System der Ergänzungsleistungen hineinkommen können. Das ist gegenüber heute ein kompletter Systemwechsel.
 Dieser Antrag der Mehrheit war natürlich nicht in der Vernehmlassung. Das finde ich, gerade weil er eine starke Veränderung gegenüber dem Status quo bedeutet, einfach nicht richtig. Ausserdem wurde überhaupt nicht darüber gesprochen, ob die Grenze von 100 000 Franken sinnvoll gewählt ist. Es gab keine Diskussion über die Höhe dieser Schwelle, sie wurde willkürlich festgelegt. Dass ich Ihnen also jetzt beantrage, diese neueingeführte Vermögensschwelle abzulehnen, ist in erster Linie wegen des Vorgehens und wegen des willkürlich festgelegten Betrags der Fall.

Schenker bezieht sich auf eine öffentliche/mediale Diskussion, die durch einen im Mai 2017 ausgestrahlten Rundschaubeitrag ausgelöst wurde. In der betreffenden Sendung des Schweizer Fernsehens wurde offengelegt, dass zum damaligen Zeitpunkt 10 Millionär·innen gab, die Ergänzungsleistungen bezogen. Es handelt sich dabei allerdings um eine ganz spezielle Konstellation, die keine Einzelperson betrifft, sondern bei der es sich jeweils um ein Ehepaar handelt (welches bei der EL als «ein Fall» gilt), das eine Liegenschaft besitzt, die der eine Ehepartner bewohnt, während der andere Ehepartner im Pflegeheim ist. Doch solche Details waren natürlich unwichtig. Die Schlagzeilen lauteten unter anderem: «Sozialsystem auf Abwegen? – Wenn Millionäre Sozialgeld beziehen» (SRF) oder «Millionäre beziehen in der Schweiz Sozialleistungen – Reiche Rentner kassieren ab» (Tages Anzeiger).

Die damalige CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, als langjährige Versicherungs-Lobbyistin äusserst geübt in geschickter PR gegen Versicherte aller Art, ritt elegant auf der öffentlichen Empörungswelle und forderte sogleich eine Vermögensschwelle für den Bezug von Ergänzungsleistungen. Dieser Antrag wurde (wie von Silvia Schenker oben erwähnt) unter Umgehung der Vernehmlassung in den laufenden Gesetzgebungsprozess eingebracht und gegen den Widerstand von SP und Grünen vom Parlament ohne grosse Diskussion angenommen. Allerdings hat das vermutlich eine recht hohe Hausbesitzer·innendichte aufweisende Parlament für Hausbesitzende Sonderregelungen getroffen, damit diese trotz Wohneigentum Ergänzungsleistungen beziehen können. Also genau jene Fälle, die zur öffentlichen Empörungsbewirtschaftung benutzt wurden, würden damit weiterhin möglich sein.

Um diese offensichtliche Privilegierung der Hausbesitzer·innen etwas abzuschwächen, wurde dann noch flugs mit einem – ebenfalls von Humbel unter Umgehung der Vernehmlassung eingebrachten – Antrag eine Rückzahlungspflicht für Ergänzungsleistungen eingeführt. Zwar sollten Hausbesitzer·innen zu Lebzeiten nicht gezwungen sein, ihr Haus verkaufen zu müssen, aber deren Erb·innen sollten das Haus dann so schnell wie möglich verkaufen, um aus dem Erlös die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückzuzahlen. Mit der Rückzahlungspflicht bei Erbschaften, die 40’000.- übersteigen, wurde mal eben nebenher ein grundlegender Systemwechsel vollzogen, den alle Parteien ausser die GLP mittrugen. Der Zürcher GLP-Nationalrat Thomas Weibel hielt in der parlamentarischen Debatte fest:

Den Antrag der Minderheit Humbel betreffend die Rückerstattung der Ergänzungsleistungen werden wir nicht unterstützen. Das wäre ein Systemwechsel, und diesen wollen wir nicht mittragen.

Eine einzige Nationalrätin enthielt sich zudem in dieser Abstimmung im März 2018 der Stimme: Es war die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi.

2023: Erb·innen müssen nun tatsächlich… das Elternhaus verkaufen und… EL zurückzahlen?!

Nicht einmal drei Jahre nach der Inkraftsetzung der EL-Reform reichte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates am 27. Oktober 2023 die Motion «Rückerstattungspflicht der Erben gemäss Artikel 16a ELG korrigieren» ein, in dem sie den Bundesrat beauftragt, «die Rückerstattungspflicht der Erben bei den Ergänzungsleistungen rückgängig zu machen» und der Bundesrat beantragte am 29. November 2023 die Annahme des Antrages.

Woher kam dieser plötzliche Stimmungswandel? Der Tages Anzeiger lüftete am 4. November das Geheimnis: Man hatte bei der Gesetzgebung nicht an die allerallerwichtigste Bevölkerungsgruppe der Schweiz gedacht:

Eine der treibenden Kräfte ist Thomas de Courten. Nach den bisherigen Erfahrungen seien häufig Bauernbetriebe betroffen, sagt der SVP-Politiker. Wenn die Eltern EL bezogen hätten, müssten sich die Nachkommen zur Rückerstattung hoch verschulden, wenn sie den Hof behalten und selber weiterführen wollten. Bei den Betroffenen handle es sich meist um Familien mit kleinen Einkommen und wenig Vermögen. Die Hofübergabe von den Eltern an die Kinder und damit die Weiterführung des Landwirtschaftsbetriebes werde wegen der Rückerstattungspflicht erschwert oder gar verunmöglicht. Ziel der Rückerstattungspflicht sei es nicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen, sagt de Courten: «Ziel muss es sein, dass Vermögende keine EL beziehen können.»

Erben sollen staatliche Hilfe für ihre Eltern nicht mehr begleichen müssen, Tages Anzeiger 4.11.2023

2018 hatte De Courten der von Humbel in einem Minderheitenantrag eingebrachten Rückzahlungspflicht noch zugestimmt und nun behauptet er, «es sei nicht Ziel der Rückerstattungspflicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen». Für wen, dachte der SVP-Nationalrat denn genau, dass die Rückzahlungspflicht gedacht sei? Für alle, ausser die Bauern? Vielleicht hätte man mal einen Moment darüber nachdenken sollen, wer mit «denen» eigentlich gemeint ist, wenn man es «denen» mal so richtig zeigen will beim Gesetze machen.

Auch die SP-Nationalrätin Barbara Gysi zeigt deutliche Erinnerungslücken im Bezug auf die damalige Abstimmung im Parlament. Im Tagi heisst es:

Die SP habe die Rückerstattung immer abgelehnt, sagt Nationalrätin Barbara Gysi. Der Motion habe die SP [in der SGK-N] nun zugestimmt, weil verhindert werden müsse, dass künftig noch weitere Sozialleistungen rückerstattungspflichtig würden.

Wie oben erwähnt, hat Gysi sich 2018 als einzige der Stimme enthalten. Die restlichen SP-Nationalrät·innen hatten die Rückerstattungspflicht damals alle gutgeheissen.

Kein Erbenschutz, nämmli.

Rückerstattungspflicht klang halt einfach super, und war doch bloss «gerecht.». Mit der «Gerechtigkeit» war auch anno 2015 im reisserischen NZZ-Artikel «Prämiengeschenke vom Staat» argumentiert worden:

«EL-Bezüger werden heute bei den Prämienverbilligungen gleich doppelt bevorteilt», sagt Andreas Dummermuth, der Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen. Erstens bezahle der Staat den meisten EL-Bezügern die ganze Prämie – während andere bedürftige Personen oft nur einen Anteil erhalten. Zweitens bekämen die EL-Bezüger auch noch die Überschüsse ausbezahlt.

Als direkte politische Folge dieses NZZ-Artikels wird EL-Bezüger·innen seit der EL-Reform keine Pauschale mehr, sondern nur noch die effektive Krankenkassenprämie vergütet. Doch die angebliche «Gleichbehandlung» von «normalen» Empfänger·innen von Prämienverbilligungen und den EL-Beziehenden war dann plötzlich gar nicht mehr relevant. «Warum nicht», dachte sich man sich wohl in der Verwaltung «einfach EL-Beziehende schlechter stellen, als «normale IPV-Empfänger·innen?» und schrieb hurtig in die EL-Wegleitung:

4710.02 Die Rückerstattungspflicht der Erben umfasst sowohl die jährlichen EL einschliesslich des Betrages für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wie auch die vergüteten Krankheits- und Behinderungskosten.

In der breiten Bevölkerung kommen die Auswirkungen der neuen EL-Gesetzgebung erst langsam an und stossen auf wenig Begeisterung: Eine Nidwaldner Erbengemeinschaft (der sehr offensichtlich ein Jurist angehört), sah beispielsweise überhaupt nicht ein, warum sie aus dem Nachlass die dem Erblasser vergüteten Krankenkassenprämien zurückzahlen sollte:

Die Beschwerdeführer argumentieren überdies, dass bei der Auslegung des Begriffs Leistungen zu berücksichtigen sei, dass eine zu Lebzeiten ausgerichtete Prämienverbilligung nicht zurückzuerstatten sei. Weshalb dies bei einem EL-Bezüger anders sein soll, sei nicht einsehbar. (…)

Doch das Verwaltungsgericht Nidwalden hatte kein Musikgehör für die Argumentation der Erbengemeinschaft:

Der Wortlaut von Art. 16a Abs. 1 ELG ist klar. Rückerstattungspflichtig sind im Sinne dieser Bestimmung rechtmässig bezogene Leistungen nach Artikel 3 Absatz 1 ELG, namentlich sowohl die jährlichen EL wie auch vergütete Krankheits- und Behinderungskosten (vgl. auch Rz. 4710.02 WEL). Zu den jährlichen EL gehört wie gesagt entgegen der Meinung der Beschwerdeführer auch der Beitrag für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Art. 10 Abs. 3 lit. d ELG. (…)

Ausserdem:

Den Erben verbleibt mithin trotz Rückerstattung ein Teil des Nachlasses und ihr eigenes Vermögen bleibt unangetastet. Es vermindert sich einzig ihr Erbanteil (ERWIN CARIGIET/UWE KOCH, a.a.O., Rz. 384). Es kann schliesslich nicht darum gehen, die Erbmasse von EL-Bezügern zu schützen. Der Gesetzgeber wollte klar kein Erbenschutz bei den Ergänzungsleistungen.

SV 22 21, Entscheid vom 5. Dezember 2022 Sozialversicherungsabteilung, Verwaltungsgericht Kanton Nidwalden

Oder anders gesagt: Seid froh, dürft ihr überhaupt was erben, ihr gierigen Geier.

Die Erbengemeinschaft versuchte zudem, zumindest die Todesfallkosten geltend zu machen:

Die Ausgleichskasse habe im Nachlassinventar die Todes- und Beerdigungskosten unberücksichtigt gelassen. (…) Was unter «Nachlass» nach Art. 16a Abs. 1 ELG zu verstehen sei, ergebe sich mithin aus Art. 474 ff. ZGB. Danach berechne sich der verfügbare Teil nach dem Stande des Vermögens zur Zeit des Todes des Erblassers. Bei der Berechnung seien die Schulden des Erblassers, die Auslagen für das Begräbnis, für die Siegelung und Inventaraufnahme sowie die Ansprüche der Hausgenossen auf Unterhalt während eines Monats von der Erbschaft abzuziehen (Art. 474 Abs. 1 und 2 ZGB). Es gäbe keinerlei Hinweise, dass der Gesetzgeber die durch den Tod verursachten Kosten beim Abzug habe unberücksichtigt lassen wollen.

Doch das Nidwaldner Gericht zeigte sich auch hier völlig unbeeindruckt:

Gemäss Art. 27a Abs. 1 Satz 2 ELV ist für die Berechnung der Rückforderung das Vermögen am Todestag massgebend. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen, insbesondere die Todesfallkosten, bleiben unberücksichtigt (Rz.4720.03 WEL) und sind von den Erben zu begleichen. (…)

Interessant ist hierzu, dass dem oben zitierten Rz 4720.03 WEL:

Massgebend für die Höhe der Rückerstattung ist der Netto-Nachlass (Brutto-Nachlass abzüglich Schulden) zum Todeszeitpunkt der EL-beziehenden Person und bei Ehepaaren des zweitverstorbenen Ehegatten. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen (z. B. Todesfallkosten), bleiben unberücksichtigt.

in der ab 1.1.2024 gültigen EL-Wegleitung am Schluss zur Klärung noch folgender Satz angefügt wurde:

Entscheidend ist der Zeitpunkt der Entstehung der Forderung und nicht der Zeitpunkt der Rechnungsstellung.

An diesem kleinen Detail ist schon ersichtlich, dass die Rückzahlungspflicht in der Praxis mitnichten so einfach abzuwickeln ist, wie sich das die Parlametarierer·innen bei ihrer «quick & dirty»-Gesetzgebung gedacht haben. Ausserdem mag die Bevölkerung die Rückzahlungspflicht in der Theorie vielleicht gut heissen («Genau, zurückzahlen sollen sie, die Schmarotzer!»), aber sobald man dann als Erb·in selbst betroffen ist, wird um jeden Franken gekämpft. Eine Erbengemeinschaft aus dem Kanton Bern argumentierte ähnlich wie jene aus Nidwalden bezüglich Krankenkassenprämien und Todefallskosten, doch auch das Berner Verwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab.

«Quick & dirty» ist dann manchmal halt sehr… dirty

Zusätzlich zur offensichtlich eher durchwachsenen Akzeptanz in der Bevölkerung ist fraglich, ob sich der ganze bürokratische Aufwand unterm Strich auch wirklich lohnt:

Die Zahlen aus Bern und Zürich zeigen, dass von den Erben der verstorbenen EL-Bezügerinnen und -Bezüger durchschnittlich rund 15’000 Franken zurückverlangt werden. Da der Staat bei der Rückforderung nur Zugriff auf jenen Teil des Nachlasses nimmt, der den Betrag von 40’000 Franken übersteigt, wurden in den erwähnten Fällen durchschnittlich rund 55’000 Franken vererbt, also relativ kleine Beträge.

Tages Anzeiger, 4.11.2023

Eine so grundlegende Änderung des Systems mal eben schnell nebenher unter Umgehung des Vernehmlassungsverfahres und mit einem durchgehend gehässigen Grundton zusammenzubasteln, war möglicherweise nicht die allerbeste Idee. Dabei wurden auch diverse Dinge beschlossen, die man bei etwas sorgfältigerer Gesetzesarbeit eventuell nochmal überdacht hätte. Unter anderem wäre dann vielleicht auch mal irgendwem eingefallen, dass es sich bei Erben von EL-Beziehenden nicht immer um wohlsitutierte Jurist·innen in fortgeschrittendem Alter handelt, die wegen ein paar tausend Franken EL-Rückforderungen just for fun vor Gericht gehen können, sondern dass die (jüngeren) IV-Beziehenden auch minderjährige Kinder hinterlassen können. Anders als Ehepartner wurden minderjährige Kinder jedoch nicht von der Rückerstattungspflicht ausgenommen. War die verstorbene EL-Beziehende Person ledig, geschieden oder verwitwet, müssen auch deren minderjährige (oder sich noch in Ausbildung befindliche) Kinder aus ihrem Erbe gegebenenfalls EL-Leistungen ihres verstorbenen Elternteils zurückzahlen und aus dem restlichen Erbe auch noch die Todesfallkosten begleichen.

Wenn man bei der Gesetzgebung mit minimalem Augenmass und Einfühlungsvermögen vorgegangen wäre, hätte man Kinder, die minderjährig sind oder sich noch in der Ausbildung befinden, ebenfalls von der Rückzahlungspflicht befreien können. Aber weil die Gesetzgebenden EL-Bezüger·innen mit einer IV-Rente ausschliesslich als Kostenfaktoren sehen, für die es sich «nicht lohnen sollte (zu) viele Kinder zu haben» und nicht als schwerbehinderte oder -kranke Menschen, die möglicherweise verfrüht sterben und auch minderjährige Kinder hinterlassen können, hat man schlicht nicht daran gedacht.

Wenn man ganz besonders zynisch ist, kann man dazu noch bemerken: Das ist doch nur gut gemeint. Denn wenn Waisen möglicherweise höhere Beträge erben könnten, verlören sie dadurch den (eventuellen) Anspruch auf Ergänzungsleistungen, weil dann womöglich die – neu eingeführte – Vermögensgrenze überschritten würde:

Rz 3124.01 Bezügerinnen und Bezüger von Waisenrenten, deren Reinvermögen mehr als 50 000 Franken beträgt, haben keinen EL-Anspruch (vgl. Rz 2511.01).

Die Gehässigkeit bei der EL-Gesetzgebung hat viele Gesichter. Dieses hier ist ein ganz besonders hässliches.

EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Teil 2/4: Prämiengeschenke für die Krankenversicherer

Die Ergänzungsleistungen stellen eine Art Mittellösung zwischen Sozialhilfe und Versicherung dar. Je nach politischer Einstellung oder dem Zeitgeist werden sie mehr in die eine oder die andere Richtung verortet. Vor der Anfang 2021 in Kraft getretenen EL-Reform waren die Ergänzungsleistungen zwar auch als Bedarfsleistungen konzipiert, aber der «Bedarf» wurde eher grosszügig und unkompliziert mit schweizweit (fast) gleichen Pauschal-Ansätzen berechnet. Einzig bei der Anrechnung der Beiträge für die obligatorische Krankenpflegeversicherung wurden lokale Unterschiede einbezogen, aber bei den anerkannten Ausgaben nicht die effektiven Kosten, sondern die kantonale bzw. regionale Durchschnittsprämie berücksichtigt.

Die Krankenkassenprämien waren dann auch das Einfallstor, über das schon Jahre vor der EL-Reform von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt am EL-System gesägt wurde. Das Ganze vollzog sich ganz langsam in mehreren Etappen:

Systemwechsel «ohne nachteilige finanzielle Folgen für die Betroffenen» hat dann doch… nachteilige finanzielle Folgen für die Betroffenen

Zuerst einmal wurde – durch entsprechendes Lobbying der Krankenversicherer – das Problem von unbezahlten Krankenkassenprämien in den politischen Fokus gerückt. Damit zumindest die Empfänger·innen von staatlichen Prämienverbilligungen diese nicht für Alkohol, Drogen oder einen BMW ausgegeben können (man kennt es ja, arme Menschen sind einfach nicht vertrauenswürdig), beschloss das Parlament 2010, dass Prämienverbilligungen ab 2012 nicht mehr an die Versicherten, sondern direkt an die Versicherer selbst ausbezahlt werden. Da auch die KK-Prämien der EL-Beziehenden aus dem dem Topf der Prämienverbilligungen finanziert werden, galt die neue Regelung nach einer Übergangsfrist ab 2014 auch für sie.

Laut einem Kassensturzbeitrag von 2016 informierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vor der Umstellung in einer (heute nicht mehr ergoogle-baren) Broschüre und schrieb:

Insgesamt hat diese Änderung für die Bezügerinnen und Bezüger von EL aber keine nachteiligen finanziellen Folgen.

Der Kassensturzbericht zeigte am Beispiel von zwei AHV-Rentner·innen auf, dass diese (von den Portraitierten zudem als Bevormundung empfundene) Änderung für EL-Beziehende sehr wohl finanzielle Folgen hatte: Sie konnten die Kosten für die Versicherungsprämien – da sie diese nicht mehr wie bisher selbst an die Krankenkasse zahlten – nicht mehr von den Steuern abziehen und sahen sich deshalb plötzlich mit einer deutlich höheren Steuerrechnung konfrontiert. Auf Anfrage des Kassensturzes wies das BSV den Vorwurf zurück, falsch informiert zu haben. Es hätte keine Absicht bestanden, Rentner·innen zu benachteiligen. Das Bundesamt schrieb:

Tatsache ist, dass die Nicht-EL-Beziehenden mit Anspruch auf Prämienverbilligung diesen Abzug auch nicht machen können. Vor der Einführung der Direktauszahlung der Prämien bei EL-Beziehenden hat dies aber niemand bemerkt.

Notleidende Rentner: Behörden treiben Betagte in die Steuerfalle, Kassensturz, 10.05.2016

Man kann natürlich aus Verwaltungssicht rückblickend argumentieren, dass die EL-Beziehenden vorher eben unbemerkt ungerechtfertige Abzüge machen konnten (diese frechen Sozialschmarotzer!), die finanzielle Situation der EL-Beziehenden hatte sich (entgegen dem ursprünglichen Zusicherung des BSV) durch die Änderung dennoch ganz real verschlechtert.

Geldverlagerungen

Die Direktauszahlung der Krankenkassenprämien an die Krankenkassen war also weit mehr als nur eine «rein formale» Änderung und schuf zudem die Grundlagen für weitere Verschlechterungen sowohl in direkt finanzieller Hinsicht, als auch im Bezug auf die finanzielle Selbstbestimmung der EL-Beziehenden.

Genauso wie für den allgemeinen Lebensbedarf eine Pauschale eingesetzt wird, welche die EL-Beziehenden nach freiem Gutdünken verwenden können (also auch durch Einschränkungen bei der Lebensführung etwas Ersparnisse bilden), konnten sie bis 2014 durch die Wahl des Versicherungsmodells (z.B. Hausarztmodell) einen Teil des für die KK-Prämie vorgesehenen Betrages eigenvernatwortlich einsparen und für etwas anderes einsetzen (Beispielsweise für eine für chronisch kranke Menschen oft wichtige Zusatzversicherung).

Zwar konnten EL-Bezüger·innen auch noch nach 2014 ein günstigeres Versicherungsmodell wählen, da die EL-Durchführungsstellen aber jeweils Ende November(!) des Vorjahres den gesamten in der EL-Berechnung festgesetzten jährlichen Pauschalbetrag an die Krankenversicherer überwiesen, mussten EL-Beziehende anfangs des neuen Jahres nun die ihnen gesetzlich zustehende Restsumme vom Krankenversicherer aktiv zurückfordern, andernfalls wurde diese (so zumindest die Praxis bei diversen Krankenkassen) bis Ende Jahr erstmal einbehalten und erst dann an die Versicherten ausbezahlt.

Die Krankenkassen haben also durch den Systemwechsel seit 2014 also nicht nur die gesamten jährlichen Krankenkassenbeiträge aller EL-Beziehenden bereits Ende des Vorjahres auf ihrem Konto liegen (2014 waren das laut EL-Statistik über 1,5 Milliarden, im Jahr 2021 bereits über 2,0 Milliarden Franken), sondern behielten ohne aktive Rückforderung auch noch die Überschüsse, die eigentlich den EL-Bezüger·innen zustanden, möglichst lange ein. Damit lag nun plötzlich ziemlich viel Kapital ziemlich lange in den Kassen der Krankenkassen, das da vorher nicht lag. Und kann von den Krankenkassen natürlich gewinnbringend angelegt werden. Doch diese neuen Kapitalbildungsmethoden der Krankenkassen interessierten niemanden. Vielmehr nutzen die Krankenkassen die durch die neue EL-Praxis 2014 sichtbar werdenden Beträge, die sie den EL-Bezüger·innen zurückzahlen mussten, um diese Überschüsse zu skandalisieren und sich diese schlussendlich selbst zuzuführen. Wie sie das machten? Mit der äusserst willigen Hilfe von Medien und Politik:

«Prämiengeschenke vom Staat»

Der am 11. April 2015 in der NZZ veröffentlichte Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat» schlug ein wie eine Bombe und sorgte für schweizweite Empörung. Bereits der Lead liess die bei vielen von der Materie unbedarften Leser·innen den Blutdruck in schwindelerregende Höhen steigen:

Zehntausende Personen erhalten Prämienverbilligungen, die höher sind als ihre Krankenkassenprämie. Einzelne kassieren über 5000 Franken extra, den Staat kostet das Dutzende Millionen Franken.

Im Fokus standen nicht die Empfängerinnen von «normalen» Prämienverbilligungen, denen i.d.R. nur ein Teil ihrer Prämien vergütet wird, sondern die EL-Beziehenden, die für die Krankenkassenprämien einen Pauschalbetrag erhielten. Wer nur etwas Ahnung von den für die EL-Berechung massgebenden Durchschnitttsprämien 2014 hatte, wusste schon nach dem Lesen der ersten Zeilen des Artikels: Das kann so nicht stimmen. Die ausbezahlten Durchschnittsprämie lagen zum einen 2014 in den meisten Kantonen unter 5000.- und zum anderen war höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet im Kanton mit der höchsten Durchschnittsprämie (BS, 6’156.– .-) jemand ein Versicherungsmodell gefunden hatte, das nur 1156.-/Jahr bzw. 96.30 im Monaten kostete und somit 5000-. «herausbekommen» konnte.

Doch egal, wenn kümmern schon die Details, wenn es um Sozialschmarotzer geht. Die NZZ rechnete vor:

Die CSS musste im letzten Jahr 9 Millionen Franken überschüssige Subventionen an 30’000 Versicherte auszahlen. Die Helsana zahlte 9 bis 10 Millionen an rund 25’000 Versicherte, die KPT 3,7 Millionen an 6’520 Versicherte, die Swica knapp 3 Millionen an 10’000 Prämienzahler, bei der Groupe Mutuel waren es rund 2 Millionen. Auf die ganze Schweiz hochgerechnet, dürften sich die Subventionsüberschüsse auf mindestens 50 Millionen summieren.

Kleine Zwischenbemerkung: Im Jahr 2014 hat die EL knapp 310’000 Personen die Krankenversicherungsprämie vergütet. Teilt man den – geschätzten – Subventionsüberschuss von 50 Millionen durch diese Zahl, macht das im Schnitt pro EL-Bezüger·in einen kleinen «Gewinn» von 161.- pro Jahr – nicht pro Monat.

Die 161 Franken pro Jahr bzw. 13.40 pro Monat, die sich jede/r EL-Beziehende im Schnitt ungerechtfertigerweise unter den Nagel riss, konnten natürlich nicht geduldet werden. Deshalb reichte der heutige Bundes- und damalige FDP-Nationalrat Ignazio Cassis mit Bezug auf den NZZ-Artikel die Motion «Krankenversicherung. Keine Prämiengeschenke vom Staat» ein, in der er forderte, dass im Rahmen der kommenden EL-Reform Bezüger·innen von Ergänzungsleistungen nicht eine höhere Prämienverbilligung ausbezahlt wird, als die effektiven Kosten der Krankenkassenprämien betragen. Zudem sollte die zulässige Prämienhöhe möglichst weit nach unten nivelliert werden.

Dazu meinte der Bundesrat:

Eine Ausrichtung nach der tiefsten möglichen Krankenkassenprämie würde zudem zu einer Konzentration der EL-Beziehenden bei einer einzigen Krankenkasse in jedem Kanton führen. Diese müsste in der Folge ihre Prämie anpassen. Damit wäre diese Krankenkasse nicht mehr die günstigste, was die EL-Beziehenden wiederum zum Wechsel der Krankenkasse zwingen würde. Die Folgen wären entsprechende administrative Mehrkosten für die Krankenkassen.

15.3465 Motion. Krankenversicherung. Keine Prämiengeschenke vom Staat

Also Billigkassen für für EL-Bezüger·innen wären an sich völlig ok – aber die «administrativen Mehrkosten» durch das ständige Wechseln könnte man den armen, armen Krankenkassen nun wirklich nicht zumuten.

Im Bezug auf den NZZ-Artikel hielt der Bundesrat ausserdem noch fest:

Ein gewisses Einsparpotenzial könnten die EL-beziehenden Personen erzielen, indem sie eine höhere Franchise wählen. Allerdings gehen sie damit das Risiko ein, dass sie einen höheren Anteil an Krankheitskosten leisten müssen. Selbst so sind die im „NZZ“-Artikel vom 11. April 2015 aufgeführten Zahlenbeispiele aufgrund der jährlichen kantonalen Durchschnittsprämien nicht nachvollziehbar.

Die NZZ erwähnte in ihrem reisserischen Artikel natürlich mit keinem Wort, dass sich wirklich hohe Einsparungen bei den Prämien nur mit einer sehr hohen Franchise erzielen lassen und dass diese «Gewinne» – wie bei allen anderen Personen mit hohen Franchisen auch – im Fall von wider Erwarten eintretenden Krankheitskosten für deren Bezahlung eingesetzt werden müssen. Zudem ruderte die NZZ im Bezug auf die Höhe der angeblichen «Prämiengeschenke» deutlich zurück. Folgende Korrektur am Ende des Artikel wurde allerdings erst mehrere Monate(!) nach dessen Veröffentlichung angebracht:

In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Prämienüberschuss von 5000 Franken in einem extremen Einzelfall genannt. Laut der zuständigen Krankenkasse wurde dieser Subventionsüberschuss 2014 tatsächlich an einen EL-Bezüger ausbezahlt. Aufgrund kritischer Reaktionen auf den NZZ-Artikel hat die Kasse den Fall nun noch einmal eingehend überprüft. Diese Überprüfung hat laut der Kasse ergeben, dass der zuständige Kanton ihr eine deutlich zu hohe Durchschnittsprämie gemeldet hatte. Deshalb zahlte die Kasse einen zu hohen Prämienüberschuss an den betroffenen EL-Bezüger aus. Auch ohne diesen Fehler hätte die Person laut Angaben der Kasse immer noch Anrecht auf einen Subventionsüberschuss in vierstelliger Höhe gehabt.

Später hinzugefügte Ergänzung zum am 11. April 2015 in der NZZ erschienenen Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat»

Doch das interessierte dann natürlich niemanden mehr.

Weniger Geld für EL-Bezüger·innen….

Die im September 2016 veröffentlichte Botschaft zur EL-Reform hielt fest:

Das Rückerstattungsverfahren zwischen dem Krankenversicherer und den EL-beziehenden Personen ist aufwändig und für letztere nicht immer nachvollziehbar. Die Übervergütung, welche durch die EL bei Personen mit einer tiefen Krankenversicherungsprämie vorgenommen wird, entspricht zudem nicht dem Charakter einer echten Bedarfsleistung. Dem soll künftig entgegengewirkt werden, indem den Kantonen die Berechtigung eingeräumt wird, in der EL-Berechnung nur noch die effektive Prämie zu berücksichtigen, falls diese unter der Durchschnittsprämie liegt. Dadurch können Übervergütungen und aufwändige Rückerstattungsverfahren verhindert und die Finanzflüsse transparenter gestaltet werden.

Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (EL-Reform) vom 16. September 2016

Ja mei, diese armen verwirrten EL-Beziehenden, die nicht verstehen, warum sie von den Krankenkasse Geld zurückerstattet bekommen – das muss man ganz dringend was dagegen machen! EL-Bezüger·innen, die schon vor der Gesetzesänderung EL bezogen, verstanden natürlich sehr wohl, warum sie Geld herausbekamen und konnten sich auch noch erinnern, wie man aufwändige Rückerstattungsverfahren vermeidet: Indem man den ganzen Pauschalbetrag einfach (wieder) – zusammen mit den restlichen EL-Leistungen – an die EL-Beziehenden auszahlt. Doch das war nach dem reisserischen NZZ-Artikel über die unerhörten «Prämiengeschenke vom Staat» keine Option mehr. Sowohl in der Botschaft als auch in den Vernehmlassungsantworten wurden verschiedene Varianten präsentiert, die meist ein Ziel hatten: Die EL-Beziehenden sollten weniger Geld bekommen.

Der einzig halbwegs intelligente Überlegung zur Variante «Berücksichtigung der effektiven Prämie» hatte der schweizerische Gewerbeverband in der Vernehmlassung formuliert:

Als eher zwiespältig beurteilt der SGV diese Lösung. Der Anreiz ginge verloren, eine günstige Krankenkasse zu wählen. Das könnt sogar kontraproduktiv sein. Ideal wäre ein System, bei welchem sich die öffentliche Hand und die EL-Bezüger die Differenz zwischen dem Pauschalbetrag und der tatsächlichen Prämien (sofern diese tiefer ist) aufteilen. Die Anreize seitens der EL-Bezüger könnten damit gewahrt werden und die öffentliche Hand könnte zumindest teilweise an den realisierbaren Differenzen partizipieren.

Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (EL-Reform), Zusammenfassung der Vernehmlassungsergebnisse (Ergebnisbericht), Bern, September 2016, Seite 44

Doch getreu dem inoffziellen Motto aller sozialpolitischen Gesetzgebungsprozesse der letzten Jahre («Denen zeigen wir’s jetzt aber, die müssen dann nicht meinen!») war eine Lösung, die den Betroffenen auch nur einen minimalen finanziellen Gestaltungsspielraum liess, für das Parlament schlicht unvorstellbar. Es wurde deshalb entschieden, dass EL-Beziehenden künftig nur noch die effektive Prämie vergütet werde, höchstens jedoch (wie vorher) die kantonale beziehungsweise regionale Durchschnittsprämie. Man hatte zwar auch mit möglichst tiefen «Höchstprämien» geliebäugelt, doch wie der Bundesrat bereits in seiner oben zitierten Antwort auf die Motion Cassis ausführte, würde das zur Klumpenbildung der EL-Bezüger·innen bei den günstigsten Kassen führen, die dann wegen der bei alten und kranken Menschen naturgemäss hohen Krankheitskosten ihre Prämien erhöhen müssten, was dann ein aufwendiges jährliches Ringelreihen zur jeweils neuen günstigsten Krankenkasse zur Folge hätte.

…. mehr Geld für den Staat die Krankenkassen

Kurz bevor die EL-Reform auf Anfang 2021 in Kraft trat, berichtet der Tagesanzeiger im Oktober 2020 über die bevorstehenden Änderungen, unter anderem auch über jene bei den Krankenkassenprämien:

Nach heutigem Recht haben EL-Bezüger Anspruch auf eine Pauschale für die Krankenkassenprämie. Sie entspricht dem Betrag der kantonalen oder regionalen Durchschnittsprämie. Ist die eigene Prämie tiefer, bekommt man die Differenz ausbezahlt. Damit ist nun Schluss. Neu wird nur noch die effektive Prämie angerechnet, höchstens bis zum Betrag der Durchschnittsprämie. Für EL-Bezüger·innen lohnt es sich somit nicht mehr, eine besonders günstige Kasse oder ein Sparmodell zu wählen, bestätigt BSV-Juristin Nadine Schüpbach.

Mehr Geld für die Miete, strengere Regeln beim Vermögen, Tages Anzeiger 12.10.2020

Man musste wirklich keine Quantenphysikerin sein, um schon Jahre im Voraus zu wissen, dass der Anreiz, ein Versicherungsmodell zu wählen, welches nur Einschränkungen (z.B. keine freie Arztwahl) aber keinen finanziellen Vorteil verspricht, gleich null ist. Zudem wird niemand freiwillig eine höhere Franchise wählen, um seine Prämienkosten zu senken, wenn er oder sie wider Erwarten eintretenden Krankheitskosten selbst berappen muss, da die dafür im Notfall eingesparten Prämienrabatte ja von der EL einbehalten werden.

Der Anreiz hingegen, ein «so teuer wie mögliches» Prämienmodell mit Mindestfranchise und ohne Einschränkungen wählen, ist hoch. Und so landen die unerhörten 161.-/Jahr, welche jede/r EL-Bezüger·in 2014 im Durchschnitt durch geschickte Wahl des Krankenkassenmodells heraus erhielten, durch die gesetzlichen Änderungen nun nicht beim Staat, sondern eben dieser Staat überweist dieses Geld in Form von höheren Prämien jeweils pünktlich Ende November des Vorjahres vollumfänglich auf die Konten der Krankenversicherer.

Statt den geldgierigen EL-Beziehenden, denen man keinesfalls eine minimale finanzielle Selbstbestimmung und eigenständige Optimierungsmöglichkeiten zugestehen wollte, kassieren die wirklich bedürftigen Krankenversicherer nun also jährlich die 2014 von der NZZ berechneten 50 Mio. (und mittlerweile wohl noch deutlich höheren) «Prämiengeschenke vom Staat». Der NZZ Journalist Markus Häfliger schrieb damals:

Im heutigen System würden die EL-Bezüger «faktisch vorab bedient», hiess es im Papier. Ihre Subventionsüberschüsse fehlten dann für andere, vor allem für Familien.

«Vorab bedingt» werden nun also stattdessen die Krankenkassen, denn die haben das Geld offenbar noch viel nötiger als die von der NZZ pro forma in Feld geführten «bedürftigen Familien».

Aus völlig unerfindlichen Gründen fällt mir dazu ein Zitat aus einem Tagi-Artikel von 2018 ein. Es geht im Artikel um die Behandlung des Sozialversicherungsdektive-Gesetzes im Parlament, dürfte aber wohl weit darüber hinaus Allgemeingültigkeit haben:

Kuprecht sagt, ironiefrei: «Hätten alle Politiker in den Ausstand treten müssen, die bei einer Krankenkasse, einer Versicherung oder einer Pensionskasse ein Mandat haben, hätten wir das Gesetz gar nicht beraten können.»

Als wäre der Teufel hinter ihnen her, Tagesanzeiger 15.03.2018