EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Vermögen (Teil 1/2)

Im Zuge der EL-Reform wurden die kleinen Möglichkeiten der EL-Beziehenden zur finanziellen Selbstbestimmung und Optimierung nicht nur wie in den letzten beiden Beiträgen gezeigt bei den Krankenkassenprämien und den Mietzinsmaxima unterbunden. Auch im Umgang mit Vermögenswerten wurden mehrere Änderungen eingeführt, welche zum einem die finanzielle Selbstbestimmung der Betroffenen zusätzlich einschränken und zum anderen den Charakter der Ergänzungsleistungen fundamental ändern.

Für den Bezug von Ergänzungsleistungen wurde neu eine Vermögensgrenze eingeführt, die Freibeträge gesenkt und eine Art finanzielle Lebensführungskontrolle etabliert. Mit der Rückzahlungspflicht nach dem Tod der EL-beziehenden Person durch deren Erben wurden die Ergänzungsleistungen zudem in ein Fürsorgesystem umgewandelt. Sowohl die Vermögensgrenze als auch die Rückzahlungspflicht waren nicht in der Vernehmlassung, sondern wurden erst während der parlamentarischen Debatten still und leise durchs Hintertürchen eingebracht und – in Anbetracht der damit einhergehenden grundlegenden Systemänderung – ziemlich (fahr)lässig durchgewunken.

Vordergründig ging es bei den Änderungen im Bezug auf den Umgang mit Vermögen um «Missbrauchsbekämpfung» und um finanzielle Einsparungen, allerdings wurde auch hier in der sehr kurzsichtigen Gesetzgebung nicht bedacht, dass Gesetzesänderungen diverse Effekte nach sich ziehen können, die so nicht beabsichtigt waren (z.B. Verhaltensänderungen aller Beteiligten, ausufernden Bürokratie usw.) und die ursprünglichen Absichten pervertieren und auch das Sparpotenzial deutlich mindern können.

Die Neuerungen

Der Freibetrag für alleinstehende Personen wurde von 37’500.– auf 30’000.– und für Ehepaare von 60’000.- auf 50’000.– gesenkt. Das bedeutet, dass bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen auf die diese Beträge übersteigenden Vermögenswerte ein Vermögensverzehr von jährlich 1/15 (IV-Beziehende) bzw. 1/10 (AHV-Beziehende bzw. (je nach Kanton unterschiedlich) bei Heimbewohner·innen bis zu 1/5 pro Jahr angerechnet und die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt werden.

Vor der Reform wurde natürlich auch schon ein jährlicher Vermögenverzehr angerechnet, aber es gab keine explizite Vermögensgrenze nach oben. Das heisst, je höher das Vermögen war, desto weniger EL bekam jemand, bis dann halt – je nach individueller Berechnung – gar kein Anspruch mehr bestand. Es war ein fliessender Übergang mit wenig Schwelleneffekten.

Mit der Einführung einer Vermögensgrenze ist der Übergang nun nicht mehr fliessend, sondern sehr abrupt gestaltet worden. Alleinstehende erhalten keine Ergänzungsleistungen, solange ihr Vermögen über 100’000.- beträgt. Bei Ehepaaren liegt die Grenze bei 200’000.-. Da die Lobby der Eigenheimbesitzer·innen im Parlament sehr stark ist, wurde allerdings die bereits vorher bestehende Privilegierung von Wohneigentum noch weiter verstärkt: Für selbstbewohntes Wohneigentum gilt zum einen keine Vermögensgrenze und zum anderen liegt der Freibetrag für Wohneigentum bei 112’500.- bzw. bis zu 300’000.- wenn ein Ehegatte Hilflosenentschädigung bezieht oder im Heim lebt.

Konkret bedeutet das: Wer 112’500.- auf dem Konto hat, bekommt keinen Rappen Ergänzungsleistungen, aber wer Wohneigentum bewohnt, das einen deutlich höheren Wert hat, kann durchaus Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben. Oder anders gesagt: Wer (Wohneigentum) hat, dem wird gegeben.

Neu eingeführt wurde auch eine Lebensführungskontrolle. EL-Bezüger·innen dürfen pro Jahr noch höchstens 10’000.- ihres Vermögens verbrauchen, bei höheren Ausgaben müssen sie belegen, dass diese aus «wichtigen» Gründen erfolgten. Können sie dies nicht, werden ihnen die EL so berechnet, wie wenn sie das «übermässig» ausgegebene Vermögen noch hätten. Begründet wurde die Gesetzgebung über den «übermässigen Vermögensverbrauch» damit, dass – angeblich – verhindert werden sollte, dass Personen vor oder am Anfang der Pensionierung «ihr ganzes Geld verjubeln» und danach Ergänzungsleistungen beziehen (müssen). AHV-Rentner·innen, die EL beantragen, dürfen deshalb bereits in den 10 Jahren vor dem AHV-Rentenanspruch nicht mehr als 10% ihres Vermögens pro Jahr «ohne wichtigen Grund» verbraucht haben. Da ein IV-Bezug nicht ganz so vorhersehbar ist, wie die Pensionierung, greift die Lebensführungskontrolle für IV-Beziehende gnädigerweise erst ab Rentenanspruch.

Last but not least wurde eine Rückzahlungspflicht nach dem Tod eingeführt. Erb·innen müssen aus dem Nachlass Ergänzungsleistungen zurückzahlen, welche der oder die Verstorbene zu Lebzeiten bezogen hat. Dies gilt für Erbschaften, die 40’000.- übersteigen.

Rückblick ins Jahr 2018: Wenn Wutbürgerparlamentarier·innen Gesetze machen

Ein Blick zurück zeigt, dass diverse Regelungen zu den Vermögenswerten nicht aufgrund von wohlüberlegten Abwägungen neu gestaltet wurden. Vielmehr regierte auch hier der Geist eines äusserst kurzsichtigen Wutbürgertums, das – wie bereits den Krankenkassenprämien – durch einen skandalisierenden Medienbericht über empörende Einzelfälle in Rage versetzt wurde und drastische Bestrafungen Änderungen forderte.

Die damalige SP-Nationalrätin Silvia Schenker beschrieb ihr Unbehagen mit dieser Art von Gesetzgebung in der Frühjahrssession am 14. März 2018, als die EL-Reform im Parlament behandelt wurde:

Schenker Silvia (S, BS):
Es mutet vielleicht etwas seltsam an, dass ich hier eine Minderheit vertrete, die sich gegen die Einführung einer Vermögensschwelle richtet. In erster Linie ist es die Art und Weise, wie hier legiferiert wurde, die mich stört. Wegen eines Artikels in einer Zeitung über einen zugegebenermassen extremen Einzelfall wird ein Wechsel des EL-Systems vorgenommen.
(…)

Neu müssen alle ihr Vermögen bis auf 100 000 Franken verbrauchen, bevor sie überhaupt in das System der Ergänzungsleistungen hineinkommen können. Das ist gegenüber heute ein kompletter Systemwechsel.
 Dieser Antrag der Mehrheit war natürlich nicht in der Vernehmlassung. Das finde ich, gerade weil er eine starke Veränderung gegenüber dem Status quo bedeutet, einfach nicht richtig. Ausserdem wurde überhaupt nicht darüber gesprochen, ob die Grenze von 100 000 Franken sinnvoll gewählt ist. Es gab keine Diskussion über die Höhe dieser Schwelle, sie wurde willkürlich festgelegt. Dass ich Ihnen also jetzt beantrage, diese neueingeführte Vermögensschwelle abzulehnen, ist in erster Linie wegen des Vorgehens und wegen des willkürlich festgelegten Betrags der Fall.

Schenker bezieht sich auf eine öffentliche/mediale Diskussion, die durch einen im Mai 2017 ausgestrahlten Rundschaubeitrag ausgelöst wurde. In der betreffenden Sendung des Schweizer Fernsehens wurde offengelegt, dass zum damaligen Zeitpunkt 10 Millionär·innen gab, die Ergänzungsleistungen bezogen. Es handelt sich dabei allerdings um eine ganz spezielle Konstellation, die keine Einzelperson betrifft, sondern bei der es sich jeweils um ein Ehepaar handelt (welches bei der EL als «ein Fall» gilt), das eine Liegenschaft besitzt, die der eine Ehepartner bewohnt, während der andere Ehepartner im Pflegeheim ist. Doch solche Details waren natürlich unwichtig. Die Schlagzeilen lauteten unter anderem: «Sozialsystem auf Abwegen? – Wenn Millionäre Sozialgeld beziehen» (SRF) oder «Millionäre beziehen in der Schweiz Sozialleistungen – Reiche Rentner kassieren ab» (Tages Anzeiger).

Die damalige CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, als langjährige Versicherungs-Lobbyistin äusserst geübt in geschickter PR gegen Versicherte aller Art, ritt elegant auf der öffentlichen Empörungswelle und forderte sogleich eine Vermögensschwelle für den Bezug von Ergänzungsleistungen. Dieser Antrag wurde (wie von Silvia Schenker oben erwähnt) unter Umgehung der Vernehmlassung in den laufenden Gesetzgebungsprozess eingebracht und gegen den Widerstand von SP und Grünen vom Parlament ohne grosse Diskussion angenommen. Allerdings hat das vermutlich eine recht hohe Hausbesitzer·innendichte aufweisende Parlament für Hausbesitzende Sonderregelungen getroffen, damit diese trotz Wohneigentum Ergänzungsleistungen beziehen können. Also genau jene Fälle, die zur öffentlichen Empörungsbewirtschaftung benutzt wurden, würden damit weiterhin möglich sein.

Um diese offensichtliche Privilegierung der Hausbesitzer·innen etwas abzuschwächen, wurde dann noch flugs mit einem – ebenfalls von Humbel unter Umgehung der Vernehmlassung eingebrachten – Antrag eine Rückzahlungspflicht für Ergänzungsleistungen eingeführt. Zwar sollten Hausbesitzer·innen zu Lebzeiten nicht gezwungen sein, ihr Haus verkaufen zu müssen, aber deren Erb·innen sollten das Haus dann so schnell wie möglich verkaufen, um aus dem Erlös die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückzuzahlen. Mit der Rückzahlungspflicht bei Erbschaften, die 40’000.- übersteigen, wurde mal eben nebenher ein grundlegender Systemwechsel vollzogen, den alle Parteien ausser die GLP mittrugen. Der Zürcher GLP-Nationalrat Thomas Weibel hielt in der parlamentarischen Debatte fest:

Den Antrag der Minderheit Humbel betreffend die Rückerstattung der Ergänzungsleistungen werden wir nicht unterstützen. Das wäre ein Systemwechsel, und diesen wollen wir nicht mittragen.

Eine einzige Nationalrätin enthielt sich zudem in dieser Abstimmung im März 2018 der Stimme: Es war die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi.

2023: Erb·innen müssen nun tatsächlich… das Elternhaus verkaufen und… EL zurückzahlen?!

Nicht einmal drei Jahre nach der Inkraftsetzung der EL-Reform reichte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates am 27. Oktober 2023 die Motion «Rückerstattungspflicht der Erben gemäss Artikel 16a ELG korrigieren» ein, in dem sie den Bundesrat beauftragt, «die Rückerstattungspflicht der Erben bei den Ergänzungsleistungen rückgängig zu machen» und der Bundesrat beantragte am 29. November 2023 die Annahme des Antrages.

Woher kam dieser plötzliche Stimmungswandel? Der Tages Anzeiger lüftete am 4. November das Geheimnis: Man hatte bei der Gesetzgebung nicht an die allerallerwichtigste Bevölkerungsgruppe der Schweiz gedacht:

Eine der treibenden Kräfte ist Thomas de Courten. Nach den bisherigen Erfahrungen seien häufig Bauernbetriebe betroffen, sagt der SVP-Politiker. Wenn die Eltern EL bezogen hätten, müssten sich die Nachkommen zur Rückerstattung hoch verschulden, wenn sie den Hof behalten und selber weiterführen wollten. Bei den Betroffenen handle es sich meist um Familien mit kleinen Einkommen und wenig Vermögen. Die Hofübergabe von den Eltern an die Kinder und damit die Weiterführung des Landwirtschaftsbetriebes werde wegen der Rückerstattungspflicht erschwert oder gar verunmöglicht. Ziel der Rückerstattungspflicht sei es nicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen, sagt de Courten: «Ziel muss es sein, dass Vermögende keine EL beziehen können.»

Erben sollen staatliche Hilfe für ihre Eltern nicht mehr begleichen müssen, Tages Anzeiger 4.11.2023

2018 hatte De Courten der von Humbel in einem Minderheitenantrag eingebrachten Rückzahlungspflicht noch zugestimmt und nun behauptet er, «es sei nicht Ziel der Rückerstattungspflicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen». Für wen, dachte der SVP-Nationalrat denn genau, dass die Rückzahlungspflicht gedacht sei? Für alle, ausser die Bauern? Vielleicht hätte man mal einen Moment darüber nachdenken sollen, wer mit «denen» eigentlich gemeint ist, wenn man es «denen» mal so richtig zeigen will beim Gesetze machen.

Auch die SP-Nationalrätin Barbara Gysi zeigt deutliche Erinnerungslücken im Bezug auf die damalige Abstimmung im Parlament. Im Tagi heisst es:

Die SP habe die Rückerstattung immer abgelehnt, sagt Nationalrätin Barbara Gysi. Der Motion habe die SP [in der SGK-N] nun zugestimmt, weil verhindert werden müsse, dass künftig noch weitere Sozialleistungen rückerstattungspflichtig würden.

Wie oben erwähnt, hat Gysi sich 2018 als einzige der Stimme enthalten. Die restlichen SP-Nationalrät·innen hatten die Rückerstattungspflicht damals alle gutgeheissen.

Kein Erbenschutz, nämmli.

Rückerstattungspflicht klang halt einfach super, und war doch bloss «gerecht.». Mit der «Gerechtigkeit» war auch anno 2015 im reisserischen NZZ-Artikel «Prämiengeschenke vom Staat» argumentiert worden:

«EL-Bezüger werden heute bei den Prämienverbilligungen gleich doppelt bevorteilt», sagt Andreas Dummermuth, der Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen. Erstens bezahle der Staat den meisten EL-Bezügern die ganze Prämie – während andere bedürftige Personen oft nur einen Anteil erhalten. Zweitens bekämen die EL-Bezüger auch noch die Überschüsse ausbezahlt.

Als direkte politische Folge dieses NZZ-Artikels wird EL-Bezüger·innen seit der EL-Reform keine Pauschale mehr, sondern nur noch die effektive Krankenkassenprämie vergütet. Doch die angebliche «Gleichbehandlung» von «normalen» Empfänger·innen von Prämienverbilligungen und den EL-Beziehenden war dann plötzlich gar nicht mehr relevant. «Warum nicht», dachte sich man sich wohl in der Verwaltung «einfach EL-Beziehende schlechter stellen, als «normale IPV-Empfänger·innen?» und schrieb hurtig in die EL-Wegleitung:

4710.02 Die Rückerstattungspflicht der Erben umfasst sowohl die jährlichen EL einschliesslich des Betrages für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wie auch die vergüteten Krankheits- und Behinderungskosten.

In der breiten Bevölkerung kommen die Auswirkungen der neuen EL-Gesetzgebung erst langsam an und stossen auf wenig Begeisterung: Eine Nidwaldner Erbengemeinschaft (der sehr offensichtlich ein Jurist angehört), sah beispielsweise überhaupt nicht ein, warum sie aus dem Nachlass die dem Erblasser vergüteten Krankenkassenprämien zurückzahlen sollte:

Die Beschwerdeführer argumentieren überdies, dass bei der Auslegung des Begriffs Leistungen zu berücksichtigen sei, dass eine zu Lebzeiten ausgerichtete Prämienverbilligung nicht zurückzuerstatten sei. Weshalb dies bei einem EL-Bezüger anders sein soll, sei nicht einsehbar. (…)

Doch das Verwaltungsgericht Nidwalden hatte kein Musikgehör für die Argumentation der Erbengemeinschaft:

Der Wortlaut von Art. 16a Abs. 1 ELG ist klar. Rückerstattungspflichtig sind im Sinne dieser Bestimmung rechtmässig bezogene Leistungen nach Artikel 3 Absatz 1 ELG, namentlich sowohl die jährlichen EL wie auch vergütete Krankheits- und Behinderungskosten (vgl. auch Rz. 4710.02 WEL). Zu den jährlichen EL gehört wie gesagt entgegen der Meinung der Beschwerdeführer auch der Beitrag für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Art. 10 Abs. 3 lit. d ELG. (…)

Ausserdem:

Den Erben verbleibt mithin trotz Rückerstattung ein Teil des Nachlasses und ihr eigenes Vermögen bleibt unangetastet. Es vermindert sich einzig ihr Erbanteil (ERWIN CARIGIET/UWE KOCH, a.a.O., Rz. 384). Es kann schliesslich nicht darum gehen, die Erbmasse von EL-Bezügern zu schützen. Der Gesetzgeber wollte klar kein Erbenschutz bei den Ergänzungsleistungen.

SV 22 21, Entscheid vom 5. Dezember 2022 Sozialversicherungsabteilung, Verwaltungsgericht Kanton Nidwalden

Oder anders gesagt: Seid froh, dürft ihr überhaupt was erben, ihr gierigen Geier.

Die Erbengemeinschaft versuchte zudem, zumindest die Todesfallkosten geltend zu machen:

Die Ausgleichskasse habe im Nachlassinventar die Todes- und Beerdigungskosten unberücksichtigt gelassen. (…) Was unter «Nachlass» nach Art. 16a Abs. 1 ELG zu verstehen sei, ergebe sich mithin aus Art. 474 ff. ZGB. Danach berechne sich der verfügbare Teil nach dem Stande des Vermögens zur Zeit des Todes des Erblassers. Bei der Berechnung seien die Schulden des Erblassers, die Auslagen für das Begräbnis, für die Siegelung und Inventaraufnahme sowie die Ansprüche der Hausgenossen auf Unterhalt während eines Monats von der Erbschaft abzuziehen (Art. 474 Abs. 1 und 2 ZGB). Es gäbe keinerlei Hinweise, dass der Gesetzgeber die durch den Tod verursachten Kosten beim Abzug habe unberücksichtigt lassen wollen.

Doch das Nidwaldner Gericht zeigte sich auch hier völlig unbeeindruckt:

Gemäss Art. 27a Abs. 1 Satz 2 ELV ist für die Berechnung der Rückforderung das Vermögen am Todestag massgebend. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen, insbesondere die Todesfallkosten, bleiben unberücksichtigt (Rz.4720.03 WEL) und sind von den Erben zu begleichen. (…)

Interessant ist hierzu, dass dem oben zitierten Rz 4720.03 WEL:

Massgebend für die Höhe der Rückerstattung ist der Netto-Nachlass (Brutto-Nachlass abzüglich Schulden) zum Todeszeitpunkt der EL-beziehenden Person und bei Ehepaaren des zweitverstorbenen Ehegatten. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen (z. B. Todesfallkosten), bleiben unberücksichtigt.

in der ab 1.1.2024 gültigen EL-Wegleitung am Schluss zur Klärung noch folgender Satz angefügt wurde:

Entscheidend ist der Zeitpunkt der Entstehung der Forderung und nicht der Zeitpunkt der Rechnungsstellung.

An diesem kleinen Detail ist schon ersichtlich, dass die Rückzahlungspflicht in der Praxis mitnichten so einfach abzuwickeln ist, wie sich das die Parlametarierer·innen bei ihrer «quick & dirty»-Gesetzgebung gedacht haben. Ausserdem mag die Bevölkerung die Rückzahlungspflicht in der Theorie vielleicht gut heissen («Genau, zurückzahlen sollen sie, die Schmarotzer!»), aber sobald man dann als Erb·in selbst betroffen ist, wird um jeden Franken gekämpft. Eine Erbengemeinschaft aus dem Kanton Bern argumentierte ähnlich wie jene aus Nidwalden bezüglich Krankenkassenprämien und Todefallskosten, doch auch das Berner Verwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab.

«Quick & dirty» ist dann manchmal halt sehr… dirty

Zusätzlich zur offensichtlich eher durchwachsenen Akzeptanz in der Bevölkerung ist fraglich, ob sich der ganze bürokratische Aufwand unterm Strich auch wirklich lohnt:

Die Zahlen aus Bern und Zürich zeigen, dass von den Erben der verstorbenen EL-Bezügerinnen und -Bezüger durchschnittlich rund 15’000 Franken zurückverlangt werden. Da der Staat bei der Rückforderung nur Zugriff auf jenen Teil des Nachlasses nimmt, der den Betrag von 40’000 Franken übersteigt, wurden in den erwähnten Fällen durchschnittlich rund 55’000 Franken vererbt, also relativ kleine Beträge.

Tages Anzeiger, 4.11.2023

Eine so grundlegende Änderung des Systems mal eben schnell nebenher unter Umgehung des Vernehmlassungsverfahres und mit einem durchgehend gehässigen Grundton zusammenzubasteln, war möglicherweise nicht die allerbeste Idee. Dabei wurden auch diverse Dinge beschlossen, die man bei etwas sorgfältigerer Gesetzesarbeit eventuell nochmal überdacht hätte. Unter anderem wäre dann vielleicht auch mal irgendwem eingefallen, dass es sich bei Erben von EL-Beziehenden nicht immer um wohlsitutierte Jurist·innen in fortgeschrittendem Alter handelt, die wegen ein paar tausend Franken EL-Rückforderungen just for fun vor Gericht gehen können, sondern dass die (jüngeren) IV-Beziehenden auch minderjährige Kinder hinterlassen können. Anders als Ehepartner wurden minderjährige Kinder jedoch nicht von der Rückerstattungspflicht ausgenommen. War die verstorbene EL-Beziehende Person ledig, geschieden oder verwitwet, müssen auch deren minderjährige (oder sich noch in Ausbildung befindliche) Kinder aus ihrem Erbe gegebenenfalls EL-Leistungen ihres verstorbenen Elternteils zurückzahlen und aus dem restlichen Erbe auch noch die Todesfallkosten begleichen.

Wenn man bei der Gesetzgebung mit minimalem Augenmass und Einfühlungsvermögen vorgegangen wäre, hätte man Kinder, die minderjährig sind oder sich noch in der Ausbildung befinden, ebenfalls von der Rückzahlungspflicht befreien können. Aber weil die Gesetzgebenden EL-Bezüger·innen mit einer IV-Rente ausschliesslich als Kostenfaktoren sehen, für die es sich «nicht lohnen sollte (zu) viele Kinder zu haben» und nicht als schwerbehinderte oder -kranke Menschen, die möglicherweise verfrüht sterben und auch minderjährige Kinder hinterlassen können, hat man schlicht nicht daran gedacht.

Wenn man ganz besonders zynisch ist, kann man dazu noch bemerken: Das ist doch nur gut gemeint. Denn wenn Waisen möglicherweise höhere Beträge erben könnten, verlören sie dadurch den (eventuellen) Anspruch auf Ergänzungsleistungen, weil dann womöglich die – neu eingeführte – Vermögensgrenze überschritten würde:

Rz 3124.01 Bezügerinnen und Bezüger von Waisenrenten, deren Reinvermögen mehr als 50 000 Franken beträgt, haben keinen EL-Anspruch (vgl. Rz 2511.01).

Die Gehässigkeit bei der EL-Gesetzgebung hat viele Gesichter. Dieses hier ist ein ganz besonders hässliches.