Das BSV hält trotz 9 laufenden Strafverfahren an der PMEDA fest und PMEDA-Chef Mast diskreditiert in der Weltwoche Long-Covid-Betroffene

In der aktuellen Ausgabe der «Weltwoche» schreibt der Medical CEO der PMEDA AG, Henning Mast, unter dem Titel «Schweizer Woke-Medizin: Zeitgeistige Krankheitsdefinitionen belasten das Versicherungssystem. Das neuste Beispiel heisst «Long Covid» unter anderem Folgendes:

Der Dosis-Antwort-Effekt fordert eine zunehmende Häufigkeit von Beschwerden mit zunehmendem Schweregrad der Krankheit. Long-Covid-Syndrome hingegen scheinen von der Stärke der initialen Infektion weitgehend entkoppelt, kommen in vergleichbarer Häufigkeit bei banalen als auch bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen der initialen Erkrankung vor. Allein dies begründet in der Epidemiologie bereits Zweifel an einer plausiblen Kausalität.

In seinem Artikel zu Long Covid» beruft sich Mast auf keinerlei aktuelle Studien zu postviralen Erkrankungen, sondern äusserst einzig seine ganz persönlichen Ansichten. Aber mit den fachlichen Qualifikationen sieht es Mast generell nicht so eng: Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte Mast bereits 2019 die Bewilligung entzogen, neuropsychologische Gutachten zu erstellen. Grund war – wie der Blick berichtete – ein deutliches Urteil des St. Galler Versicherungsgerichtes:

Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologische Aus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundä­res Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primär aufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Mast darf allerdings fröhlich weiterhin «normale» neurologische Gutachten erstellen und obwohl gegen seine PMEDA mittlerweile neun Strafverfahren laufen, sieht das Bundesamt für Sozialversicherungen keinen Grund, die Vergabe von Gutachteraufträgen an die PMEDA einzustellen. Erst im Februar hat das BSV den Vertrag mit der PMEDA erneut verlängert. Denn es gälte, so Bundesrat Berset auf die kürzliche Anfrage von Nationalrat Christian Lohr, «die Unschuldsvermutung». Falls es in einem Strafverfahren im Zusammenhang mit Begutachtungen zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommt, würde das BSV die Zusammenarbeit allerdings sofort beenden.

Auf die weitere Frage von Lohr, ob IV-Verfahren von Amtes wegen wieder aufgerollt werden, wenn rechtskräftig verurteilte Gutachtende daran beteiligt waren, antwortete Berset:

In Fällen, in denen Gutachten von strafrechtlich verurteilten Sachverständigen als Grundlage für einen Entscheid der IV dienen, wäre noch nicht erwiesen, dass diese Gutachten nicht ordnungsgemäss zustande gekommen und damit nicht beweiskräftig wären. Solche Fälle würden nicht von Amtes wegen aufgerollt, sondern es obläge den Versicherten, bei der zuständigen IV-Stelle ein Gesuch um Revision zu stellen, damit die IV-Stelle auf den rechtskräftigen Entscheid zurückkommen und allenfalls ein neues Gutachten einholen würde.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte übrigens schon einmal jahrelang an einer obskuren Gutachterstelle festgehalten:

Erwähnt wird verschiedentlich der Genfer Corela-Fall.* Dieser habe gezeigt, dass es selbst bei gefälschten Gutachten extrem lange gedauert habe, bis das BSV aktiv geworden sei. Diese Kritik wird auch versicherungsintern geäussert. Obwohl eine IV-Stelle selbst diese Gutachterstelle (Corela) bereits Jahre zuvor von ihrer Liste für mono- und bidisziplinäre Gutachten gestrichen habe, sei sie aufgrund der Zufallszuweisung im Rahmen der polydisziplinären Gutachten gezwungen gewesen, diese wieder zu «akzeptieren».
*Im Fall der Genfer Klinik Corela sah es das Bundesgericht als erwiesen an, dass der Leiter des Instituts eigenmächtig Gutachten angepasst und Diagnosen geändert hat – zuungunsten der Versicherten (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember 2017 (2C_32/2017)).

Quelle: Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)

Der Nationalrat Christian Dandrès stellte im März dieses Jahres dem Bundesrat in diesem Zusammenhang einige Fragen:

Das Bundesgericht hat 2017 den Entzug der Betriebsbewilligung für die Corela-Klinik bestätigt. Die Entscheide, die auf einer Stellungnahme dieser Klinik beruhten, wurden aber nicht automatisch überprüft. Jede versicherte Person musste selbst ein Revisionsgesuch stellen.

  • Wie viele Erstgesuchen wurde infolge einer Stellungnahme der Corela-Klinik abgelehnt?
  • Wie viele Revisionsgesuche wurden eingereicht?
  • Wie viele Ablehnungen wurden vor Gericht gebracht und wie viele davon waren erfolgreich?
  • Haben die IV-Stellen gegenüber der Corela-Klinik und/oder den Verantwortlichen Wiedergutmachung geltend gemacht?

Die Antwort des Bundesrates existiert nur in französischer Sprache:

L’office fédéral des assurances sociales, dans le cadre de ses compétences, a suspendu sa collaboration avec la clinique Corela de manière préventive dès 2015. En 2018, l’OFAS a résilié formellement la convention tarifaire. L’examen des cas concrets relevaient de la compétence des offices Al, respectivement des tribunaux devant lesquels des cas étaient pendants. La collaboration avec la clinique Corela ayant cessé, l’OFAS n’a pas confié le mandat aux offices Al de collecter les données demandées. Le Conseil fédéral ne disposé donc pas de ces statistiques.

Ungefähre Übersetzung:

Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat im Rahmen seiner Kompetenzen die Zusammenarbeit mit der Corela-Klinik ab 2015 präventiv ausgesetzt. Im Jahr 2018 kündigte das BSV den Tarifvertrag formell auf. Die Prüfung der konkreten Fälle lag in der Zuständigkeit der IV-Stellen bzw. der Gerichte, bei denen Fälle hängig waren. Da die Zusammenarbeit mit der Corela-Klinik beendet wurde, erteilte das BSV den IV-Stellen keinen Auftrag zur Erhebung der verlangten Daten. Der Bundesrat verfügt daher nicht über diese Statistiken.

Statt dafür zu sorgen, dass die Versicherten von kompetenten und seriösen Gutachter·innen fair abgeklärt werden, lässt das BSV nun also zum wiederholten Mal ein obskures Gutachterinstitut weiterhin gewähren und falls es sich – wieder – herausstellen sollte, dass es tatsächlich «Unregelmässigkeiten» gab, stellt das BSV nicht einmal sicher, dass die Betroffenen automatisch ein seriöses Verfahren bekommen, geschweige denn, dass das Ausmass des an den Versicherten ausgeübten Betruges irgendwie erfasst oder untersucht würde.

Wie «fachlich fundiert» die PMDEA von Henning Mast Versicherte mit postviralen Erkrankungen begutachtet, kann man übrigens nicht nur seinem Weltwocheartikel entnehmen, sondern auch einem Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts (IV 2019/26), in dem auch folgende Einschätzung der PMEDA erwähnt ist:

Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiere ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung und ohne eine biologisch verstandene morphologische Basis. Auch habe sich bei der Versicherten keine Grunderkrankung herausarbeiten lassen, auf deren Basis es zu einer raschen körperlichen und kognitiven Erschöpfung kommen könnte.

Weiter:

Der RAD-Arzt Dr. I._ notierte am 28. Januar 2016 (IV-act. 84), der von der Versicherten beklagte Gesundheitsschaden habe im Rahmen der Begutachtung durch die PMEDA nicht erhoben werden können.

Wer also als Versicherte/r mit einem postviralen Krankheitsbild wie Long Covid von der PMEDA begutachtet wird, trifft nicht auf fachlich kompetente Ärzt·innen, sondern auf Mediziner·innen, die einem im besten Fall für eine Hypochonderin und im schlechtesten Fall für einen Betrüger halten. Und wie obiges Beispiel zeigt, ist dies auch ganz im Sinne der IV sowie der Gerichte.

In einem anderen Urteil (allerdings das ABI betreffend) hatte das St. Galler Versicherungsgericht einmal folgendes festgehalten:

Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich.

Lassen wir das – einmal mehr – so stehen. Aktuell laufen in Deutschland übrigens Ermittlungen gegen 12 bei der Schweizer PMEDA tätige Ärzt·innen. Der Vorwurf: Steuerbetrug.

Weiterführend:

Neun Strafanzeigen gegen Gutachter-Firma (Kassensturz, 30.5.2023)

Steuerbetrug: Schwere Vorwürfe gegen deutsche «Flugärzte» (Correctiv, 30.5.2023)

12 Vorstösse zur PMEDA im Schweizer Parlament

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode – Special Edition: ME/CFS und Long Covid (IV-Info, 4.11.2022)