Die Unsichtbaren

Die sich selbst zugeschriebene «Fachkompetenz» der Kommentarschreiber in Onlineforen zum Thema Invalidenversicherung bezieht sich in geschätzten 95% der Fälle darauf, dass der Kommentarschreiber angeblich mindestens einen, oder besser zwei bis zehn Nachbarn hat, die

  1. aus dem Balkan/der Türkei/«irgendeinem einem südlichen Land» stammen
  2. aus (für den Kommentarschreiber) nicht nachvollziehbaren Gründen (wahrscheinlich) eine Invalidenrente beziehen (Schmerzen, psychische Probleme oder sonst irgendwas Obskures)
  3. einen (oder zwei bis zehn) Mercedes/BMW/Porsche besitzen
  4. In Schwarzarbeit eine/n eigene/n Dönerladen/Gemüsehandel/Import-Exportfirma betreiben
  5. Regelmässig beim Rasenmähen/Möbelschleppen/Polieren ihres Mercedes/BMWs/Porsches gesehen werden

Selten bis nie scheint der gemeine Kommentarschreiber Nachbarn, Kollegen oder gar Familienangehörige zu besitzen, die aus seiner Sicht (was anderes ist schliesslich nicht massgebend) gerechtfertigterweise eine Invalidenrente beziehen oder aber die trotz schwerer Erkrankung/Behinderung von der Invalidenversicherung keine Leistungen erhalten und deshalb gezwungen sind, von der Sozialhilfe zu leben.

Warum das so ist, zeigen zwei Beispiele aus der Medienberichterstattung (eines eher unfreiwillig, das zweite ganz bewusst) über die gestern im Ständerat verabschiedete IV-Revision 6a exemplarisch.

Die 10vor10-Redaktion musste sich nach längerer Suche von ihrer ursprünglichen Absicht verabschieden, in ihrem Beitrag den Menschen hinter den grauen Zahlen der geplanten Revision «ein Gesicht zu geben». Von den Betroffenen, auf welche die Revision vor allem abzielt, nämlich jene mit den unsichtbaren Erkrankungen/Behinderungen ist schlicht niemand bereit, sich öffentlich im Fernsehen zu zeigen und sich damit freiwillig zur Zielscheibe zu machen. Zum Beispiel zur Zielschreibe von Nachbarn, die genau wissen, wem eine IV-Rente gebührt und wem nicht – siehe oben…

Erst, wenn der IV-Bezüger wieder eine Arbeit hat – und er somit der Gesellschaft «nicht mehr auf der Tasche liegt» ist es für einen Betroffenen möglich, sich öffentlich zu seiner Erkrankung zu bekennen. Wer arbeitet (auch wenn die IV nach wie vor einen Teil seines Lohns bezahlt) ist gleich eine ganz andere Kategorie Mensch – und wenn der Betroffene dann noch treuherzig in die Kamera sagt, dass er eben «kein Typ zum zu Hause herumsitzen» sei, dann ist die Welt in Allschwil, Münsingen und Wallisellen vor den Fernsehgeräten doch gleich wieder in Ordnung. Denn «Die chöi ja alli schaffe, we si numä wellä…»

Auch die Journalistin Karen Schäfer von der Aargauer Zeitung (Artikel leider nicht online) hat keine IV-Bezüger gefunden, die bereit gewesen wären, mit vollem Namen in der Zeitung zu erscheinen. In erfrischend unkonventioneller Weise hat sie jedoch diese Problematik gleich zum Thema ihres Hintergrundartikels gemacht («IV-Bezüger halten IV-Rente geheim» – Untertitel: Aus Furcht vor Ächtung und Diffamierung imformieren IV-Rentner nur nächste Angehörige) und ermöglicht dem Leser einen Blick in die Welt und das Empfinden der Betroffen bei denen die Scheininvalidenkampagne der SVP und die immer rigoroseren Sparmassnahmen der Invalidenversicherung tiefe Spuren hinterlassen haben.

Es ist viel von Angst die Rede in den Aussagen der Betroffenen. Angst, angefeindet zu werden, Angst, die Rente wieder zu verlieren, Angst vor der Überwachung durch IV-Detektive. Und von Verzicht ist ebenfalls die Rede: um ja nicht aufzufallen, wird beim Museumseintritt der volle Beitrag bezahlt, obwohl es für IV-Bezüger reduzierte Eintrittspreise gäbe, es wird auf Gartenarbeit oder das Verlassen der Wohnung tagsüber gleich ganz verzichtet, denn es könnte ja ein Nachbar oder IV-Detektiv zuschauen.

Und weil diese Menschen unsichtbar sind, sozusagen nicht existieren, ist es ein leichtes, sie mittels Revisionen aus der Invalidenversicherung auszuschliessen – sie wehren sich nicht, sie erheben keinen öffentlichen Einspruch, sie wenden sich nicht an Politiker. Dazu ist die Angst zu gross. Denn wer genug gesund sei, sich zu wehren – so könnte es heissen  – der sei schliesslich auch genug gesund, um zu arbeiten. Deshalb schweigen sie und bleiben unsichtbar.

Klar objektivierbare psychische Erkrankungen

Im Juni 2009 wurde eine vom BSV in Auftrag gegebene Studie von Niklas Baer und Tanja Fasel veröffentlicht, welche Licht ins Dunkel der «Invalidisierungen aus psychischen Gründen» bringt. Die Autoren analysieren in der aufwändigen und umfassenden Studie rund 1000 Dossiers mit dem IV-Gebrechenscode 646 und wiederlegen die von gewissen politischen Akteuren immer wieder verbreitete Aussage, es handle sich dabei hauptsächlich um «schwer objektivierbare Störungen».

Baer und Fasel zeigen auf, dass die Kategorie 646 – ursprünglich für einfache psychische Entwicklungsstörungen gedacht – heute als eine Art «Restkategorie» funktioniert, in der ein buntes Spektrum von Störungen abgelegt werden, von denen viele sehr wohl klar diagnostizierbar sind und andere zusätzlich in dieser Kategorie nichts zu suchen haben (Beispielsweise somatische Krankheiten, POS (IV-Code für ADHS) oder Intelligenzminderung).

Die Autoren üben Kritik an der gängigen Praxis der Invalidenversicherung, nach wie vor mit diesem veralteten und ungenauen Codierungssystem zu arbeiten und empfehlen die Codierung nach ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten – definiert von der WHO).

Denn viele der mit 646 Code klassifizierten Fälle lassen sich objektiv ganz klar mit dem ICD-10 diagnostizieren. So wurde festgestellt, dass in der Kategorie 646 «Persönlichkeitsstörungen die dominierende Kategorie bilden, gefolgt von Affektiven Störungen, Konversions- und somatoformen Störungen sowie Angst-, Zwangs- und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Und weiter:

Die effektiven Diagnosen widersprechen dem Bild von unspezifischen, unklaren oder „nicht wirklichen“ Störungen: Persönlichkeitsstörungen sind unflexible und andauernde unangepasste Verhaltensmuster, die mit einer sehr hohen funktionellen Belastung und diversen Beeinträchtigungen verbunden sind. Dass sie von Laien oft nicht als Störungen erkannt werden, bedeutet nicht, dass sie schwer objektivierbar oder in Bezug auf die Arbeitsbeeinträchtigungen vernachlässigbar wären.

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