ÄrztIn werden trotz psychischer Beeinträchtigung? Die SVP meint: Das geht gar nicht! – Populistisch-diskriminierende «Argumente» gegen den Nachteilsausgleich

Am 23. Juni 2016 hat die SVP ihre Vernehmlassungsanwort zur abschliessenden Inkraftsetzung der Änderungen des Medizinalberufegesetzes (MedBG) veröffentlicht. Die wählerstärkste Partei der Schweiz hat offensichtlich ein Problem mit dem neuen Artikel 12 in der Prüfungsverordnung:

Art. 12a Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen

1 Menschen mit Behinderungen können bei der MEBEKO, Ressort Ausbildung, ein Gesuch um Nachteilsausgleich stellen. Die MEBEKO legt in ihren Richtlinien nach Artikel 5a Buchstabe b die Details des Gesuchsverfahrens fest.

2 Die MEBEKO, Ressort Ausbildung, bestimmt auf Vorschlag der Prüfungskommission diejenigen Anpassungsmassnahmen, die zum Ausgleich des behinderungsbedingten Nachteils geeignet sind. Die Anpassungsmassnahmen dürfen keine Herabsetzung der Prüfungsanforderungen darstellen und müssen sich mit verhältnismässigem Aufwand realisieren lassen.

Und zwar ein ziemlich grosses Problem (Hervorhebungen durch die Bloggerin):

Erstens ist aus unserer Sicht in Art. 12a der Begriff der Behinderung zu weit gefasst. Der Artikel sollte dahingehend präzisiert werden, dass nur Menschen mit körperlichen Behinderungen ein Gesuch um Nachteilsausgleich stellen können. Menschen mit geistigen oder psychisch/seelischen Beeinträchtigungen, wie etwa einer Konzentrationsstörung oder einer Lese-Rechtschreibschwäche, sollten von solchen Ausgleichsmassnahmen ausgenommen werden. Dies deshalb, weil sich hier sehr viel schwieriger feststellen lässt, ob es sich um eine Behinderung oder einfach um verminderte geistige Leistungsfähigkeit handelt. Würde die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs von der Art der Behinderung entkoppelt, bestünde die Gefahr, dass vermehrt Personen davon profitieren, die für den angestrebten Medizinalberuf schlicht nicht geeignet sind. Es gilt hier nämlich zu beachten, dass die Ausübung der im MedBG geregelten Berufe allesamt hohe Anforderungen an die intellektuellen Kapazitäten der ausübenden Personen stellen. Dabei ist es in der Praxis dann bei weitem nicht immer möglich, wie in einer Prüfungssituation Kompensationsmassnahmen zu treffen. Ein Chirurg, der eine mehrstündige Operation durchführen muss, kann sich nicht auf ein Aufmerksamkeitsdefizit berufen und deshalb die Operation einfach verlängern. Ebenso wenig kann eine Leseschwäche als Vorwand gelten, wieso ein Arzt keine Fachartikel lesen muss, obwohl das zur beruflichen Weiterbildung unabdingbar wäre.

Ich zitiere einfach nochmal aus dem Art 12a:

Die Anpassungsmassnahmen dürfen keine Herabsetzung der Prüfungsanforderungen darstellen.

Also alles klar – oder? Dann vielleicht noch Folgendes aus dem seit 2004 gültigen BehiG, Art 2:

1 In diesem Gesetz bedeutet Mensch mit Behinderungen (Behinderte, Behinderter) eine Person, der es eine voraussichtlich dauernde körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

2 Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders als nicht Behinderte behandelt und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden als diese, oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter notwendig ist.

(…)

5 Eine Benachteiligung bei der Inanspruchnahme von Aus- und Weiterbildung liegt insbesondere vor, wenn:

a. die Verwendung behindertenspezifischer Hilfsmittel oder der Beizug notwendiger persönlicher Assistenz erschwert werden;
b. die Dauer und Ausgestaltung des Bildungsangebots sowie Prüfungen den spezifischen Bedürfnissen Behinderter nicht angepasst sind.

Angesichts der klaren Gesetzeslage könnte man nun süffisant anmerken, dass die Autoren der Vernehmlassungsanwort der SVP offensichtlich selbst unter einer ähm… «Leseschwäche» leiden. Aber man weiss bei der SVP natürlich ganz genau, worum es beim Nachteilsausgleich geht. Was man aber noch viel besser weiss, ist, dass sich das Thema hervorragend eignet, um – einmmalmehr – bei denjenigen Wählern zu punkten, deren «verminderte geistige Leistungsfähigkeit» ihnen tatsächlich eine akademische Karriere verwehrt. Und dem Wählerklientel der SVP mit akademischem Hintergrund kann man weismachen, dass ihre mühsam errungenen Titel weniger wert seien, wenn sie bald jeder «Behindi» mittels «Nachteilsausgleich» erringen könnte. Das gute alte rechtspopulistische «DIE nehmen euch was weg/bekommen Vorteile, obwohl es DENEN nicht zusteht» funktioniert halt auf allen Ebenen.

Und das Thema greift die SVP natürlich nicht einfach aus der Luft. Bereits vor einem Jahr titelte die Aargauer Zeitung reisserisch: Leichtere Prüfungen bei Behinderung: Wer hat Anspruch, wer nicht? und das, obwohl die befragte Expertin im Interview deutlich sagt:

Der Nachteilsausgleich ist für die Betroffenen nie eine Erleichterung. Er ist der Ausgleich einer Benachteiligung.

Und:

Zudem gilt es zu beachten: Der NTA schraubt die Lernziele nicht hinunter. Er bringt nur Anpassungen bei den formellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel mit einen Zeitzuschlag. Nur dank eines NTA wird niemand die Lehrabschlussprüfung bestehen. Da muss man schon auch noch tüchtig lernen – das gilt für Behinderte und für Nichtbehinderte.

Der selbe Journalist, der das Interview durchgeführt hat, fragt dann in seinem zugehörigen Kommentar trotzdem dummdämlich:

Ist es richtig, ein Kind mit Hilfsmitteln durch eine Prüfung und in eine Schule zu boxen, wo es vielleicht einfach nicht hingehört? Schliesslich gibt es im (Berufs-)Leben draussen auch keinen NTA.

Auch die NZZ titelt am 7.4.2016: Nachteilsausgleiche an Zürcher Kantonsschulen: Benachteiligt oder zu wenig intelligent?

«Es handelt sich nach wie vor um Einzelfälle», sagt Daniel Kunz, der an der Kantonsschule Zürich Nord seit Jahren für das Thema zuständig ist. Von den rund 2000 Schülerinnen und Schülern haben derzeit 43 eine sogenannte «Vereinbarung über Massnahmen zum Nachteilsausgleich». Über die Hälfte, 27 Personen, leiden an einer Dyslexie (Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Schwäche). Weiter gibt es 4 Personen mit einer Autismusspektrum-Störung, ebenfalls 4 mit einer Hörbehinderung, 2 mit einer Sehbehinderung und jeweils eine Person mit ADHS, Dyskalkulie, Muskelschwäche, sozialer Phobie, einer starken körperlichen Behinderung (im Rollstuhl) und einen Stotterer. «Diese Jugendlichen sind alles andere als dumm», sagt Kunz.

Die betroffenen Jugendlichen sind «alles andere als dumm» aber trotzdem titelt die NZZ: «Benachteiligt oder zu wenig intelligent?»

Gewissen Kreisen wäre es aus kleinkarierten egoistischen Motiven offensichtlich lieber, man liesse die Jugendlichen (egal auf welcher Ausbildungsstufe) aufgrund ihrer Behinderung überhaupt keinen Abschluss machen und stecke sie dann in die «Behindertenversicherung». Da gehören die ja schliesslich hin. Ach nein, ich vergass, Arbeitgeberverband und Gewerbeverband forderten in ihren Vernehmlassungsantworten zur 7. IV-Revision, dass «an Personen unter 30 Jahren keine Renten mehr gesprochen werden sollten».

Was ist denn da die Message an die betroffenen Jugendlichen?

Keine IV-Rente! Integriert euch! Und dann: Nachteilsausgleich? Geht’s noch? Mit so einer Behinderung habt ihr im Berufsleben eh keine Chance!

Vielleicht könnte man sich mal entscheiden, was man eigentlich will?

Endlos auf Jugendlichen mit Beeinträchtigungen herumhacken können, um daraus politisches Kapital zu schlagen?

Ja, das dachte ich mir.

Weiterführend:
FAQ Nachteilsausgleich
hindernisfreie-hochschule.ch

IV-Revisionitis

Ende März 2009 wurde auf Initiative des Basler Kultursenders ‚Radio X’ unter dem Titel «Die Charta – Berufschancen für Menschen mit einer Behinderung» ein Projekt lanciert, das innerhalb von 3 Jahren  in der Region Basel 100 zusätzliche Stellen für Menschen mit einer Behinderung schaffen soll. Bisher haben 108 Arbeitgebende die Charta unterschrieben und innerhalb des ersten Jahres wurden gerade mal sechs neue Stellen für Menschen mit Behin-derungen geschaffen.

Rechnet man das ganze auf 26 Kantone hoch, ergäbe das für die ganze Schweiz 156 neue Stellen innerhalb eines Jahres – und auf 6 Jahre hinausgerechnet: 936 neue Stellen.

Mit der 6. IV-Revision sollen allerdings innerhalb von 6 Jahren 16’000 Menschen mit gesundheitlichen Beinträchtigungen in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Wie das gehen soll? Das weiss niemand und vor allem;  man will bei den verantwortlichen Politikern auch lieber nicht so genau wissen, dass vor der 5. Revsion vollmundig angekündigt wurde, es würden mittels Otto Ineichens Projekt «Passerelle» 3000 neue Stellen für Menschen mit Behinderungen geschaffen – das Projekt ging bachab, effektiv geschaffen wurden gerade mal 30 neue Stellen. Da will man auch nichts mehr davon wissen, dass man vor der 5. IV-Revision die Früherkennung mittels «Studienergebnissen» anpries, die «belegten» dass eine Eingliederung ins Arbeitsleben unbedingt innerhalb der ersten 12 Monate nach dem Beginn der Erkrankung erfolgen müsste, da die Erfolgsaussichten ansonsten äusserst gering wären (nun aber will man auf einmal Menschen eingliedern, die schon jahrelang aus dem Arbeitsleben herausgefallen sind).

Da will man auch keine Resultate abwarten, die die Erfolge oder Misserfolge der 5. IV-Revision aufzeigen. Und nein, liebe Politiker und Verantwortliche des BSV: Die um 40% reduzierte Neurentenquote der letzten Jahre ist kein Erfolg, wenn die Betroffenen danach in der Sozialhilfe landen. Aber weil es keine offiziellen Zahlen dazu gibt, wieviele von den bei der IV Abgewiesenen schlussendlich bei der Sozialhilfe anklopfen müssen (oder aber von Verwandten bzw. Ehepartnern unterstützt werden müssen, weil die Sozialhilfe erst bezahlt wenn alle andere Möglichkeiten ausgeschöpft sind) existiert dieses Problem hochoffiziell natürlich gar nicht.

Genausowenig wie Zahlen dazu existieren, wie erfolgreich die mit der 5. IV-Revi- sion eingeführten Instrumente zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt denn nun wirklich sind. Und selbst wenn es offizielle Zahlen gäbe: Wieviele «Erfolge» sind denn da nun wirklich auf die Intervention der IV zurückzuführen? Und wieviele Menschen wären früher auch ohne «Früherkennung» der IV so oder so im Arbeitsmarkt verblieben?

Die ganze IV-Revisioniererei ist ein einziges Desaster. Früher wurden Menschen via IV frühpensioniert und bei den heute so gescholtenen psychisch Kranken interessierte man sich bei der IV keinen Deut darum, wie man diese erfolgreich wiedereingliedern könnte. Selbst wenn die Betroffenen sich eine Eingliederung gewünscht hatten, wurde diese in den allermeisten Fällen nicht bewilligt, weil man schlicht keine funktionierende Eingliederungsprogramme für diese spezi-fische Gruppe anbieten konnte und sich da auch nicht weiter drum kümmerte.

Dann wurde in den letzten Jahren der politische Druck auf die IV immer grösser und nun gibt man diesen Druck an die Betroffenen weiter, die sich nun gefälligst wieder einzugliedern haben, auch wenn man den selben Menschen vor zehn Jahren beschied, sie hätten sowieso keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.

Und wenn das mit der Eingliederung nicht funktioniert (nicht funktionieren kann, weil irgendjemand die gesundheitlich eingeschränkten Menschen ja auch anstellen muss), erhöht man einfach von IV-Revision zu IV-Revision den Druck auf die Betroffenen und versucht mit allerlei Tricks sie trotz bestehender Behin-derung von Versicherungsleistungen der Invalidenversicherung auszuschliessen. Beispielsweise indem Gutachten zu Ungunsten der Versicherten ausgestellt werden. Oder indem per Bundesgerichtsentscheid festgelegt wird, welche Krankheiten fortan nicht mehr IV-berechtigt sind. Oder indem schlicht und einfach das Gesetz in der 6. IV-Revision dahingehend geändert wird, dass Menschen von heute auf morgen die IV-Rente entzogen werden kann, die ihnen einst rechtmässig zugesprochen wurde – obwohl sich ihr Gesundheitszustand seither nicht verändert hat.

Eingliederung ist gut, wichtig und richtig – aber eine Umstellung eines Systems, das jahrelang seine Pflicht zur Eingliederung nur sehr mangelhaft wahrge-nommen hat, kann nicht innerhalb weniger Jahre geschehen. Auch in Wirtschaft und Gesellschaft muss ein Umdenken stattfinden, was die Integration von Menschen mit Behinderungen betrifft. Und gerade wenn die SVP immer am lautestesten «sparen» schreit bei der Invalidenversicherung, so macht sie sich doch gänzlich unglaubwürdig, wenn sie sich auf der anderen Seite ebenso vehement gegen die Integration von behinderten Kindern in die Regelschule wehrt. Integration beginnt nicht erst beim Eintritt ins Arbeitsleben. Integration beginnt viel früher und muss viel früher beginnen. Wer es als Kind bereits als selbstverständlich erlebt, gemeinsam mit Kindern mit Behinderungen zur Schule zu gehen, der ist später als Arbeitgeber auch MitarbeiterInnen mit Behin-derungen gegenüber aufgeschlossener.

Eine solche gesellschaftliche Änderung lässt sich aber nicht mittels der x-ten IV-Revision und unendlichem einseitigen Druck auf Menschen mit Behin-derungen erzwingen. Dazu braucht es ein bis zwei Generationen Zeit. Die die Politiker, welche für die Revisionitis verantwortlich sind, aber nicht haben. Schliesslich wollen sie schon vor den nächsten Wahlen «ihre Erfolge» präsentieren können.