EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Vermögen (Teil 2/2)

Wie im letzten Artikel aufgezeigt, entwickelt sich in der Bevölkerung ganz langsam ein Bewusstsein dafür, was die bei der letzten EL-Reform so beiläufig unter Umgehung der Vernehmlassung eingeführte Rückerstattungspflicht in der Praxis bedeutet: Nämlich, dass von den beschlossenen Verschärfungen erschreckenderweise gar nicht nur EL-Bezüger·innen betroffen sind. Auch Nicht-EL-Bezüger·innen können dann plötzlich von der kinderlosen Tante, um die sie sich jahrelang gekümmert haben, gar nicht mehr soviel erben, wie erhofft. Oder das Hüsli der eigenen Eltern kann wegen der jahrelangen Pflegebedürftigkeit des Vaters nicht geerbt werden, sondern muss verkauft werden, um damit die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückzubezahlen.

Es ist bezeichnend, dass von allen Restriktionen, die mit der EL-Reform eingeführt wurden, ausgerechnet jene Massnahme die grösste Empörung auslöst und bereits wieder rückgängig gemacht werden soll, welche EL-Beziehende zu deren Lebzeiten gar nicht direkt betrifft, sondern die vor allem die selbst meist nicht EL-beziehenden Erben zu spüren bekommen.

Mit ein bisschen mehr Weitsicht würde man natürlich erkennen, dass auch diverse andere Regelungen, welche vordergründig «nur» EL-Beziehende im Umgang mit ihrem Vermögen disziplinieren sollen (z.B. die Vermögensgrenze) schlussendlich auch Auswirkungen auf (noch) Nicht-EL-Beziehende haben. Nicht, dass die Auswirkungen auf Nicht EL-Bezüger·innen das einzig valable Argument gegen verschiedene EL-Bestimmungen wäre, aber es ist offenbar fast das einzige, das bei selbst (noch) nicht EL-beziehenden Personen verfängt. Alles, was hingegen Menschen betrifft, die bereits auf EL angewiesen sind und das auch längerfristig bleiben werden, scheint… vernachlachlässigbar.

Lebensführungskontrolle

Im Tagi-Artikel zur Rückerstattungspflicht für Erben kam die SP-Nationalrätin Gysi auch auf die (von Grünen und SP immerhin schon bei deren Einführung bekämpften) Lebensführungskontrolle zurück. Es ging ihr dabei wohl weniger um den Umgang von langjährigen IV-Beziehenden mit ihrem Vermögen, sondern in erster Linie um AHV-Beziehende, «die sich doch auch mal was gönnen dürfen sollen», ohne dass sie bei einem (potentiellen/späteren) EL-Bezug dafür sanktioniert werden:

Die Linke stört sich noch an einer weiteren Neuerung, die mit der EL-Reform eingeführt wurde. So kann ein übermässiger Vermögensverbrauch zu einer Kürzung des EL-Anspruchs führen. Als übermässig definiert das Gesetz einen Vermögensabbau von über 10 Prozent pro Jahr. Bei Vermögen bis 100’000 Franken gilt der Abbau von mehr als 10’000 Franken als übermässig. Wenn jemand während seines Erwerbslebens 100’000 Franken angespart hat und nach der Pensionierung 30’000 Franken für eine langersehnte Reise ausgibt, dann kann dies beim Antrag auf EL als unbegründeter Vermögensverbrauch gelten. Diese Neuregelung komme einer Lebensführungskontrolle gleich und sollte ebenfalls wieder abgeschafft werden, sagt Gysi. Zudem führe diese Regelung zu einem übermässigen Aufwand bei den Sozialversicherungsanstalten.

Erben sollen staatliche Hilfe für ihre Eltern nicht mehr begleichen müssen, Tages Anzeiger 4.11.2023

Die Lebensführungskontrolle gilt für AHV-Rentner·innen bereits zehn Jahre vor der Pensionierung und für alle EL-Beziehenden während der gesamten Zeit ihres EL-Bezuges. Für IV-Beziehende mit EL-Bedarf bedeutet das, dass sie viele Jahrzehnte, nämlich ihr ganzes restliches Leben lang unter amtlicher Aufsicht stehen und nur beschränkt über ihr eigenes Vermögen verfügen dürfen. Der gehässige Grundton mit der 2018 legiferiert wurde, wird im Votum von Thomas Weibel (GLP) deutlich:

Wenn ein IV-Berechtigter sein Vermögen übermässig abbaut, ohne das Geld in Pflegemassnahmen oder andere sinnvolle Tätigkeiten zu investieren, wenn er es auf Deutsch gesagt verprasst, dann habe ich kein Verständnis für diese Person. Dann ist es richtig, dass dieses Vermögen angerechnet wird.

Weibels Votum zeigt, wie er IV-Beziehende sieht: Als lästige Kostenfaktoren, die mit ihrem selbst angesparten Geld gefälligst ihre «Pflegemassnahmen» (Dafür gibt’s eigentlich Versicherungen) bezahlen oder in «sinnvolle Tätigkeiten» investieren sollen. Vielleicht meint er mit zweiterem, dass Behinderte eigentlich dafür bezahlen soll(t)en, dass sie «sinnvolle Tätigkeiten» in der geschützten Werkstätte verrichten dürfen?

Was Weibel und sehr vielen seiner Ratskolleg·innen vermutlich nicht bewusst oder halt einfach egal war: 30% der IV-Beziehenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, erzielen selbst ein Erwerbseinkommen (nach Zahlen vom BSV, Statistik nicht öffentlich). Zwar sind diese Einkommen oft eher gering (bei höheren Einkommen sind die Leute ja auch gar nicht mehr auf EL angewiesen), aber bei der EL-Berechnung wird jegliches Einkommen, das über 1000.-/Jahr liegt, zu zweit Dritteln angerechnet und die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt. Was hingegen den damaligen Parlamentarier·innen sehr wohl bewusst war: Bei EL-Beziehenden, die verheiratet sind, wird auch das Einkommen des Ehepartners bei der EL-Berechnung einbezogen. Das Parlament hat nämlich im Rahmen der EL-Reform beschlossen, dass das Einkommen von Ehepartner·innen nicht mehr wie bisher zu 2/3, sondern zu 80% angerechnet wird.

Das Bewusstsein reicht dann aber offenbar nicht so weit, um auch tatsächlich zu verstehen, dass EL-Beziehende nicht ausschliesslich von Ergänzungsleistungen leben. Zuerst einmal beziehen sie eine Versicherungsleistung, nämlich eine AHV- oder IV-Rente. Dazu können je nach persönlicher Situation unter anderem noch folgende Einkommensquellen kommen: eine weitere Rente (z.B. Pensionskasse), eigenes Erwerbseinkommen (oder das des Ehepartners) oder auch Vermögensverzehr auf dem Vermögen. Erst, wenn das alles nicht reicht, um den Lebensbedarf zu decken, werden als Ergänzung eben Ergänzungsleistungen ausgerichtet. Bei 15 % der EL-Beziehenden werden ausschliesslich die Krankenkassenprämien vergütet. Anders als IPV-Empfänger·innen, die nicht einer konstanten Lebensführungskontrolle unterliegen, reicht es bei EL-Beziehenden aus, das nur ein kleiner Anteil ihrer Lebenshaltungskosten durch die EL vergütet wird, dass sie in ihren gesamten finanziellen Belangen den Restriktionen des EL-System unterworfen werden. Unter anderem auch beim Umgang mit ihrem Vermögen.

Sparen? Eine ganz dumme Idee für EL-Beziehende

Die Möglichkeiten von EL-Beziehenden durch eigenes Einkommen ein Vermögen zu bilden, sind oberflächlich betrachtet eher gering, aber bei gleichzeitig sehr bescheidener Lebensführung (immerhin liegen die Ansätze für die Lebenshaltungskosten bei den EL deutlich höher als bei der Sozialhilfe) und über den Zeitraum von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten hinweg nicht völlig unmöglich.

Doch über das Geld, was sich IV/EL-Beziehende teils selbst erarbeiten und/oder mühsam quasi vom Mund absparen, dürfen sie nicht frei verfügen, sondern sollen es – nach Vorstellung von Herr Weibel (siehe oben) «in Pflegemassnahmen oder andere sinnvolle Tätigkeiten investieren». Und mehr noch: Das erarbeitete (oder von der EL ausbezahlte) Geld nicht kontinuierlich auszugeben, sondern es über mehrere Jahre hinweg zu sparen, wird explizit bestraft.

Wenn eine Einzelperson mehr als 30’000.- bzw. ein Ehepaar mehr als 50’000.- auf dem Konto hat, kosten jede zusätzlichen 1000 Franken die Betroffenen jedes Jahr(!) je nach persönlicher Situation 66.66 Franken (IV-Beziehende), 100.- (AHV-Beziehende) oder sogar 200.- (Heimbewohner·innen), um welche die jährlichen EL-Zahlungen gekürzt werden. Für eine (daheimlebende) IV/EL-beziehende Person, die zehn Jahre lang 40’000.- auf dem Konto hat, bedeutet das, dass sie jedes Jahr 666.66 weniger EL erhält und nach zehn Jahren 6666.- weniger EL erhalten haben wird. Allfällige Bankzinsen werden übrigens bei den Ergänzungsleistungen zusätzlich 1:1 als «Einkommen» angerechnet.

Das heisst: Geld – über den Freibetrag hinaus – zu sparen, ist für EL-Beziehende ein erhebliches Verlustgeschäft. Statt zuviel Geld auf dem Konto zu haben, ist es für EL-Beziehende deshalb sehr viel «lohnender» ihr Geld beispielsweise regelmässig in den Kauf und Konsum von bewussstseinserweiternden Substanzen zu investieren, um weiterhin in den Genuss von ungekürzten EL-Zahlungen zu kommen. «Drogenkonsum» läuft zwar vermutlich nicht unter dem, was Herr Weibel unter «sinnvolle Tätigkeiten» für IV-Beziehende versteht, aber da auch bei Suchterkrankungen (wieder) IV-Renten gesprochen werden, ist das kein völlig abwegiger Verwendungszweck, der unter 10’000.-/Jahr auch nicht sanktioniert werden kann.

Interessant dürfte es dort werden, wo IV-Beziehende erkrankungsbedingt (Drogensucht, Spielsucht, Kaufsucht, Manie, Psychose) sehr schnell mehr als 10’000.- von ihrem Vermögen ausgeben: Könnten die EL-Behörden ein krankhaftes Verhalten sanktionieren, dass der «Grund» für den IV- und damit auch den EL-Bezug ist?

Nun werden einige Leser·innen einwenden: Aber IV-Beziehende mit Ergänzungsleistungen haben doch oft eh gar kein grösseres Vermögen, das sie schnell ausgeben könnten. Zum einen erzielen sie meist nicht viel Erwerbseinkommen und zum anderen sparen sie nicht, weil es sich (siehe oben) sowieso nicht lohnt. Ein Blick in die Statistik zeigt allerdings: Es gibt durchaus EL-Beziehende, die über ein gewisses Vermögen verfügen:

BfS: Periodische EL, Vermögen, Fälle Ende Jahr

Da die Vermögensgrenze bei 100’000.- liegt, können EL-Beziehende einerseits mit einem gewissen Vermögen in den EL-Bezug «starten» und zum anderen können sie auch während des EL-Bezuges sehr plötzlich zu einigem Vermögen kommen: In der Schweiz wird viel Geld vererbt und geerbt. Auch von EL-Beziehenden. Und das kann diese – selbst wenn sie das Geld nicht «verprassen» – paradoxerweise sogar in grosse finanzielle Nöte bringen.

Exkurs – Wenn EL-Beziehende selber erben

EL-Bezüger·innen wird eine Erbschaft rückwirkend ab dem Todestag des Erblassers angerechnet. Das bedeutet, dass auch bei noch unverteilten Erbschaften die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt oder ganz eingestellt werden. Bei jahrelangen Erbschaftsstreitigkeiten erhalten EL-Beziehende dann weder ihre Erbschaft, noch Ergänzungsleistungen und sind im schlimmsten Fall sogar auf Sozialhilfe angewiesen. Die Radiosendung Espresso berichte im Sommer 2023 von einem solchen Fall:

Für Marc Müller hat diese Regelung drastische Konsequenzen: «Bis heute habe ich von meinem Erbe keinen roten Rappen gesehen», erzählt er im SRF-Konsumentenmagazin «Espresso». Grund: Die anderen beiden Erbparteien sperren sich dagegen, dass sich Marc Müller seinen Anteil auszahlen lassen kann. Sie weigern sich auch, ihn – den IV-Bezüger mit psychischen Problemen – an den Mieteinnahmen zu beteiligen. Marc Müller klagt vor Gericht auf Erbteilung. Doch dieses schiebt den für ihn so wichtigen Entscheid seit Jahren vor sich her. Gleichzeitig sitzen ihm die Steuerbehörden im Nacken: Jene des Kantons Bern und jene des Kantons, in dem das Mehrfamilienhaus steht. Zumindest die Berner Behörden hätten lange Verständnis gezeigt für seine schwierige Lage, aber nun würden auch sie ihren Anteil am – theoretisch vorhandenen – Vermögen einfordern. Absurd: Auf dem Papier und für die Behörden gilt der Mann seit nunmehr acht Jahren als vermögend. In Tat und Wahrheit haben sich über die Jahre Schulden angehäuft. Damit er noch halbwegs über die Runden kommt, ist er jetzt von der Sozialhilfe abhängig.

Trotz Erbschaft seit Jahren in der Schuldenfalle, Espresso, 16.6.2023

Um nicht in eine solche Situation zu kommen, könnten EL-Beziehende ihr Erbe ja einfach ausschlagen? Nun, nein, das dürfen sie leider nicht:

Grundsätzlich kann jeder Erbe und jede Erbin innert dreier Monate nach dem Tod des Erblassers eine Erbschaft auch ausschlagen. Das Problem sei aber, dass die für die Ergänzungsleistungen zuständige Sozialversicherung eine ausgeschlagene Erbschaft als Vermögensverzicht anrechnen dürfe, sagt Sozialrechtsexperte Michael Meier.

«Catch 22» Wie man so schön sagt. Bei Espresso meldeten sich nach der Ausstrahlung noch andere Betroffene und in der Sendung vom 8. September 2023 wurde das Thema nochmal aufgegriffen und gefragt, ob man da nicht die Regeln ändern könne?

Das BSV liess jedoch auf Nachfrage hin verlauten, es sähe «keinen Handlungsbedarf», es könne da auch sowieso nichts machen und dass es für eine Gesetzesänderung einen Vorstoss vom Parlament bräuchte. Daraufhin reichte die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter am 22.12.2023 die Interpellation «Auf dem Papier vermögend, in der Realität arm: Verlust des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen trotz blockierter Erbschaft» ein. Sie fragt darin unter anderem:

Wäre es denkbar eine Regelung einzuführen, dass Ergänzungsleistungen im Fall einer blockierten Erbschaft in der Übergangsphase weiter bezogen werden könnten und später zurückbezahlt werden müssten?

Dieses Prinzip kommt grundsätzlich immer zu Geltung, wenn eine EL-beziehende Person erbt. Denn eine Erbschaft steht den Erben nie bereits am Todestag des Erblassers zu Verfügung. Oft dauert es Monate, um nur schon festzustellen, wie hoch ein Erbe überhaupt ausfallen wird. Zwischen dem Todestag und dem Zeitpunkt, an dem Klarheit über die Höhe des Erbes herrscht, werden die Ergänzungsleistungen weiterhin ausbezahlt. Steht die Höhe des Erbes fest, wird eine Neuberechnung der Ergänzungsleistungen vorgenommen und seit dem Todestag des Erblassers zuviel bezogene Leistungen werden zurückgefordert und gegebenfalls die Leistungen eingestellt. Soweit so klar.

Doch die Tücke liegt bereits bei soweit unproblematischen, also relativ zügig ausbezahlten Erbschafen im Detail: Weil das durch das Erbe erhöhte Vermögen ab dem Todestag angerechnet wird, aber das durch die Rückzahlung verminderte Vermögen erst am 1. Januar des auf die Rückzahlung folgenden Jahres für die künftige Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigt wird, werden erbende EL-Beziehende grundsätzlich immer etwas «betrogen». Meist sind das keine hohen Beträge, aber je nachdem, wie weit die Zeitpunkte von Todesfall, Meldung, Rückzahlung und Jahresende auseinander bzw. zueinander liegen und ob es sich um eine hohe Erbschaft und einen hohen EL-Bedarf (z.B. im Heim) handelt, können sich für die betroffenen EL-Beziehenden durchaus schmerzhaft spürbare Beträge ergeben, die ihnen vorenthalten werden.

Die Ausgleichskasse Solothurn hat sich dieses System besonders schlaumeierisch zu Nutze gemacht: Weil sie die Meldung über eine Erbschaft erst neun Monate nach deren Eingang bearbeitet hat, konnte der EL-Bezüger zuviel bezogene EL nicht früher zurückzahlen und deshalb wurde ihm für die Neuberechnung der Ergänzungsleistungen rückwirkend ein Vermögen angerechnet, dass er gar nicht mehr gehabt hätte, wenn die EL das Erbe früher berücksichtigt hätte (Kurze Anmerkung meinerseits: da die Meldung kurz vor Jahresende erfolgte, wäre dasselbe auch passiert, wenn die EL-Stelle nur zwei Monate zur Bearbeitung gebraucht hätte). Da der betroffene EL-Bezüger in einen Heim wohnt und ihm somit jährlich 20% seines (über dem Freibetrag liegenden) Vermögens als Vermögensverzehr angerechnet wird, bedeutet das, dass er ein Jahr lang 100.-/Monat weniger EL bekam, als ihm eigentlich zustehen würde. Die Beiständin des Mannes wehrte sich vor dem Verwaltungsgericht gegen diesen Entscheid, doch das Gericht gab der Ausgleichskasse recht. Es argumentierte, dass die (rückwirkend berechnete!) Rückforderung zum für die Berechnung massgeblichen Zeitpunkt noch gar nicht bestanden hätte (wie denn auch?) und folglich vom zum massgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Vermögen nicht in Abzug gebracht werden kann und zudem ist dieser Betrug der EL rechtens, weil:

Mit Blick auf die gerichtsnotorisch hohe Arbeitsbelastung der Ausgleichskasse sei es nachvollziehbar, dass die Neuberechnung der Ergänzungsleistungen nicht vor Ende 2021 habe gemacht werden können.

Weniger Geld für einen IV-Rentner: Was passieren kann, wenn Dossiers für Ergänzungsleistungen nicht schnell genug bearbeitet werden, Solothurner Zeitung, 13.9.2023

Wie das Gericht (nach neuem EL-Recht) wohl entschieden hätte, wenn der Mann statt 60’000 Franken 105’00 Franken geerbt hätte? Mit dieser abenteuerlichen Logik läge sein Vermögen «auf dem Papier» dann so lange über der Vermögensgrenze, bis die EL ihre Rückforderung stellt und er hätte deshalb rückwirkend während der ganzen Zeit gar keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen gehabt, weshalb die EL sämtliche seit dem Todestag des Erblassers bezogenen Leistungen (in diesen Fall wären das über 40’000.- gewesen) zurückfordern könnte. Dies, obwohl die Vermögensgrenze bei sofortiger Einstellung/Rückzahlung der Ergänzungsleistungen schon nach kürzester Zeit unterschritten worden wäre und somit wieder ein EL-Anspruch bestanden hätte. Welche abenteuerlichen Berechnungsmedthoden die Ausgleichskasse Solothurn dann erst bei der Rückzahlung von jahrelang von blockierten Erbschaften anwenden würde, will man lieber nicht so genau wissen.

Der Vorstoss von Suter wäre aber auf jeden Fall ein guter Anlass, um auch solche Schlaumeiereien der Durchführungsstellen künftig zu verhindern. Das Ganze würde gerechter, wenn bei der unterjährigen Neuberechnung der Ergänzungsleistungen aufgrund einer Erbschaft für die Berechnung der EL ab Meldedatum die Erbschaft nicht mehr voll, sondern abzüglich der gleichzeitig berechneten Rückforderung angerechnet würde. Denn es liegt schon eine gewisse bösartige Ironie darin, dass EL-Bezüger·innen bei einer Erbschaft rückwirkend ab dem Todestag des Erblassers ein Vermögensverzehr angerechnet wird, den sie zurückzahlen müssen, aber bei der Berechnung der künftigen Ergänzungsleistungen eben dieser bereits angerechnete Vermögensverzehr auf wundersame Weise durch die Rückzahlung gar nicht «verzehrt» wurde. Das Problem des (rückwirkenden) Unterschreitens der Vermögensgrenze zwischen Todestag des Erblassers und Meldedatum wäre damit allerdings noch nicht behoben und muss anders gelöst werden.

Auch beim Erben widerspiegeln sich die geringen Selbstbestimmungsmöglichkeiten von EL-Beziehenden

Insgesamt ist festzuhalten, dass eine Erbschaft für eine EL-beziehenden Person nur dann grösstenteils unproblematisch ist, wenn ihr gesamtes Vermögen dadurch nicht über 30’000.- steigt oder die Erbschaft so hoch ist, dass die Erbin oder der Erbe langfristig (am besten lebenslang) keine Ergänzungsleistungen mehr benötigt. Erbschaften, durch welche das Vermögen auf zwischen 30’000.- und 100’000.- steigt, ermöglichen den begünstigten EL-Beziehenden zwar eine gewisse Bewegungsfreiheit, doch diese ist wird begrenzt durch die Lebensführungskontrolle, die den Verbrauch auf 10’000.-/Jahr beschränkt. Da das Erbe nur «dosiert» verbraucht werden darf, wird auf dem verbleibenden Vermögen jedes Jahr ein zusätzlicher Vermögensverzehr angerechnet, der das Erbe weiter schmelzen lässt. Die Erbanteile, welche das Vermögen über die Vermögensgrenze von 100’000.- ansteigen lassen, aber keine längerfristige Ablösung von der EL ermöglichen, sind für EL-Beziehende meist nutzlos (ausser es handelt sich um Immobilien/anteile mit Wohnrecht).

Eltern oder andere Angehörige sollten deshalb gemeinsam mit der EL-beziehenden und voraussichtlich erbenden Person und ggf. einer Juristin sehr gut überlegen, wie ein Testament so gestaltet werden kann, dass die EL-beziehende Person dann auch tatsächlich «etwas vom Erbe hat». Eltern von behinderten (erwachsenen) Kindern neigen dazu, ihre behinderte Tochter oder ihren behinderten Sohn im Testament bevorzugen zu wollen, damit es ihr oder ihm nach deren Tod «gut geht». Doch aufgrund der Gesetzgebung empfehlen Jurist·innen genau das Gegenteil:

Die Lösung, welche die Juristin Janine Camenzind vorschlägt, heisst: Zuwendung an Dritte mit Auflage. Das geht so: Das Kind wird auf den Pflichtteil gesetzt, über den verbleibenden Erbanteil können die Eltern frei verfügen. «Sie können diesen als Zuwendung einer anderen Person zukommen lassen, mit der Auflage, dem behinderten Kind gewisse Leistungen zu gewähren.» Laut Camenzind könnte die beauftragte Person dem Kind etwa die Ferien oder den Coiffeur bezahlen, einen neuen Laptop kaufen oder die Kosten einer Therapie übernehmen, die von der Grundversicherung und damit auch von den EL nicht bezahlt werden. Die Zuwendungen seien zwingend als freiwillige Leistung zu gestalten. Die beauftragte Person solle diese nach eigenem Ermessen und nach Bedarf des Kindes ausrichten können, betont Camenzind. Das Kind darf keinen Anspruch auf die Leistungen haben, weil sie sonst bei den EL angerechnet werden. Voraussetzung ist schliesslich auch, dass die Eltern eine Person mit der Aufgabe betrauen, der sie voll vertrauen können.

Die Möglichkeiten, um die Lebensqualität von behinderten Kindern mit EL zu verbessern, seien letztlich aber sehr beschränkt, so Camenzind. Die Juristin, die im Rahmen eines Nationalfondsprojekts zur Nachlassplanung bei Nachkommen mit Behinderung forscht, sieht den Grund darin, dass die EL-Regeln für Einkommen und Vermögen keinen Unterschied machen zwischen bedürftigen Altersrentnern und Bezügerinnen einer IV-Rente. Dabei seien vor allem IV-Rentner auf EL angewiesen, darunter sehr viele, die seit Geburt behindert seien. Diese stünden mitten im Leben und brauchten mehr Mittel als Menschen im hohen Alter, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sagt Camenzind. «Wenn die Eltern aber keine Möglichkeit haben, mit einer Erbschaft den Lebensstandard ihrer Kinder über das Existenzminimum der EL anzuheben, dann ist dies problematisch.» Die betroffenen Kinder selbst seien nicht in der Lage, ihre Situation zu verbessern – ausser sie erbten so viel, dass es sie langfristig von den EL befreit.

«Erben mit Behinderung: Damit das Kind etwas vom Erbe hat» Tages Anzeiger, 23.11.2020

Im Fall von Menschen mit einer Behinderung , die unter Vormundschaft stehen und aus behinderungsbedingten Gründen nicht die Fähigkeiten haben, ihr Geld selbst zu verwalten, mag die vorgeschlagene Lösung mit den freiwilligen Zuwendungen vielleicht noch knapp akzeptabel sein. Für alle anderen IV/EL-Beziehenden widerspiegelt diese mehr schlechte als rechte «Lösung» einmal mehr das enge Korsett des EL-Systems, welches ihre finanzielle Selbstbestimmung massiv einschränkt und dem sie oft lebenslang schlicht nicht entkommen können.

EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Vermögen (Teil 1/2)

Im Zuge der EL-Reform wurden die kleinen Möglichkeiten der EL-Beziehenden zur finanziellen Selbstbestimmung und Optimierung nicht nur wie in den letzten beiden Beiträgen gezeigt bei den Krankenkassenprämien und den Mietzinsmaxima unterbunden. Auch im Umgang mit Vermögenswerten wurden mehrere Änderungen eingeführt, welche zum einem die finanzielle Selbstbestimmung der Betroffenen zusätzlich einschränken und zum anderen den Charakter der Ergänzungsleistungen fundamental ändern.

Für den Bezug von Ergänzungsleistungen wurde neu eine Vermögensgrenze eingeführt, die Freibeträge gesenkt und eine Art finanzielle Lebensführungskontrolle etabliert. Mit der Rückzahlungspflicht nach dem Tod der EL-beziehenden Person durch deren Erben wurden die Ergänzungsleistungen zudem in ein Fürsorgesystem umgewandelt. Sowohl die Vermögensgrenze als auch die Rückzahlungspflicht waren nicht in der Vernehmlassung, sondern wurden erst während der parlamentarischen Debatten still und leise durchs Hintertürchen eingebracht und – in Anbetracht der damit einhergehenden grundlegenden Systemänderung – ziemlich (fahr)lässig durchgewunken.

Vordergründig ging es bei den Änderungen im Bezug auf den Umgang mit Vermögen um «Missbrauchsbekämpfung» und um finanzielle Einsparungen, allerdings wurde auch hier in der sehr kurzsichtigen Gesetzgebung nicht bedacht, dass Gesetzesänderungen diverse Effekte nach sich ziehen können, die so nicht beabsichtigt waren (z.B. Verhaltensänderungen aller Beteiligten, ausufernden Bürokratie usw.) und die ursprünglichen Absichten pervertieren und auch das Sparpotenzial deutlich mindern können.

Die Neuerungen

Der Freibetrag für alleinstehende Personen wurde von 37’500.– auf 30’000.– und für Ehepaare von 60’000.- auf 50’000.– gesenkt. Das bedeutet, dass bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen auf die diese Beträge übersteigenden Vermögenswerte ein Vermögensverzehr von jährlich 1/15 (IV-Beziehende) bzw. 1/10 (AHV-Beziehende bzw. (je nach Kanton unterschiedlich) bei Heimbewohner·innen bis zu 1/5 pro Jahr angerechnet und die Ergänzungsleistungen entsprechend gekürzt werden.

Vor der Reform wurde natürlich auch schon ein jährlicher Vermögenverzehr angerechnet, aber es gab keine explizite Vermögensgrenze nach oben. Das heisst, je höher das Vermögen war, desto weniger EL bekam jemand, bis dann halt – je nach individueller Berechnung – gar kein Anspruch mehr bestand. Es war ein fliessender Übergang mit wenig Schwelleneffekten.

Mit der Einführung einer Vermögensgrenze ist der Übergang nun nicht mehr fliessend, sondern sehr abrupt gestaltet worden. Alleinstehende erhalten keine Ergänzungsleistungen, solange ihr Vermögen über 100’000.- beträgt. Bei Ehepaaren liegt die Grenze bei 200’000.-. Da die Lobby der Eigenheimbesitzer·innen im Parlament sehr stark ist, wurde allerdings die bereits vorher bestehende Privilegierung von Wohneigentum noch weiter verstärkt: Für selbstbewohntes Wohneigentum gilt zum einen keine Vermögensgrenze und zum anderen liegt der Freibetrag für Wohneigentum bei 112’500.- bzw. bis zu 300’000.- wenn ein Ehegatte Hilflosenentschädigung bezieht oder im Heim lebt.

Konkret bedeutet das: Wer 112’500.- auf dem Konto hat, bekommt keinen Rappen Ergänzungsleistungen, aber wer Wohneigentum bewohnt, das einen deutlich höheren Wert hat, kann durchaus Anrecht auf Ergänzungsleistungen haben. Oder anders gesagt: Wer (Wohneigentum) hat, dem wird gegeben.

Neu eingeführt wurde auch eine Lebensführungskontrolle. EL-Bezüger·innen dürfen pro Jahr noch höchstens 10’000.- ihres Vermögens verbrauchen, bei höheren Ausgaben müssen sie belegen, dass diese aus «wichtigen» Gründen erfolgten. Können sie dies nicht, werden ihnen die EL so berechnet, wie wenn sie das «übermässig» ausgegebene Vermögen noch hätten. Begründet wurde die Gesetzgebung über den «übermässigen Vermögensverbrauch» damit, dass – angeblich – verhindert werden sollte, dass Personen vor oder am Anfang der Pensionierung «ihr ganzes Geld verjubeln» und danach Ergänzungsleistungen beziehen (müssen). AHV-Rentner·innen, die EL beantragen, dürfen deshalb bereits in den 10 Jahren vor dem AHV-Rentenanspruch nicht mehr als 10% ihres Vermögens pro Jahr «ohne wichtigen Grund» verbraucht haben. Da ein IV-Bezug nicht ganz so vorhersehbar ist, wie die Pensionierung, greift die Lebensführungskontrolle für IV-Beziehende gnädigerweise erst ab Rentenanspruch.

Last but not least wurde eine Rückzahlungspflicht nach dem Tod eingeführt. Erb·innen müssen aus dem Nachlass Ergänzungsleistungen zurückzahlen, welche der oder die Verstorbene zu Lebzeiten bezogen hat. Dies gilt für Erbschaften, die 40’000.- übersteigen.

Rückblick ins Jahr 2018: Wenn Wutbürgerparlamentarier·innen Gesetze machen

Ein Blick zurück zeigt, dass diverse Regelungen zu den Vermögenswerten nicht aufgrund von wohlüberlegten Abwägungen neu gestaltet wurden. Vielmehr regierte auch hier der Geist eines äusserst kurzsichtigen Wutbürgertums, das – wie bereits den Krankenkassenprämien – durch einen skandalisierenden Medienbericht über empörende Einzelfälle in Rage versetzt wurde und drastische Bestrafungen Änderungen forderte.

Die damalige SP-Nationalrätin Silvia Schenker beschrieb ihr Unbehagen mit dieser Art von Gesetzgebung in der Frühjahrssession am 14. März 2018, als die EL-Reform im Parlament behandelt wurde:

Schenker Silvia (S, BS):
Es mutet vielleicht etwas seltsam an, dass ich hier eine Minderheit vertrete, die sich gegen die Einführung einer Vermögensschwelle richtet. In erster Linie ist es die Art und Weise, wie hier legiferiert wurde, die mich stört. Wegen eines Artikels in einer Zeitung über einen zugegebenermassen extremen Einzelfall wird ein Wechsel des EL-Systems vorgenommen.
(…)

Neu müssen alle ihr Vermögen bis auf 100 000 Franken verbrauchen, bevor sie überhaupt in das System der Ergänzungsleistungen hineinkommen können. Das ist gegenüber heute ein kompletter Systemwechsel.
 Dieser Antrag der Mehrheit war natürlich nicht in der Vernehmlassung. Das finde ich, gerade weil er eine starke Veränderung gegenüber dem Status quo bedeutet, einfach nicht richtig. Ausserdem wurde überhaupt nicht darüber gesprochen, ob die Grenze von 100 000 Franken sinnvoll gewählt ist. Es gab keine Diskussion über die Höhe dieser Schwelle, sie wurde willkürlich festgelegt. Dass ich Ihnen also jetzt beantrage, diese neueingeführte Vermögensschwelle abzulehnen, ist in erster Linie wegen des Vorgehens und wegen des willkürlich festgelegten Betrags der Fall.

Schenker bezieht sich auf eine öffentliche/mediale Diskussion, die durch einen im Mai 2017 ausgestrahlten Rundschaubeitrag ausgelöst wurde. In der betreffenden Sendung des Schweizer Fernsehens wurde offengelegt, dass zum damaligen Zeitpunkt 10 Millionär·innen gab, die Ergänzungsleistungen bezogen. Es handelt sich dabei allerdings um eine ganz spezielle Konstellation, die keine Einzelperson betrifft, sondern bei der es sich jeweils um ein Ehepaar handelt (welches bei der EL als «ein Fall» gilt), das eine Liegenschaft besitzt, die der eine Ehepartner bewohnt, während der andere Ehepartner im Pflegeheim ist. Doch solche Details waren natürlich unwichtig. Die Schlagzeilen lauteten unter anderem: «Sozialsystem auf Abwegen? – Wenn Millionäre Sozialgeld beziehen» (SRF) oder «Millionäre beziehen in der Schweiz Sozialleistungen – Reiche Rentner kassieren ab» (Tages Anzeiger).

Die damalige CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, als langjährige Versicherungs-Lobbyistin äusserst geübt in geschickter PR gegen Versicherte aller Art, ritt elegant auf der öffentlichen Empörungswelle und forderte sogleich eine Vermögensschwelle für den Bezug von Ergänzungsleistungen. Dieser Antrag wurde (wie von Silvia Schenker oben erwähnt) unter Umgehung der Vernehmlassung in den laufenden Gesetzgebungsprozess eingebracht und gegen den Widerstand von SP und Grünen vom Parlament ohne grosse Diskussion angenommen. Allerdings hat das vermutlich eine recht hohe Hausbesitzer·innendichte aufweisende Parlament für Hausbesitzende Sonderregelungen getroffen, damit diese trotz Wohneigentum Ergänzungsleistungen beziehen können. Also genau jene Fälle, die zur öffentlichen Empörungsbewirtschaftung benutzt wurden, würden damit weiterhin möglich sein.

Um diese offensichtliche Privilegierung der Hausbesitzer·innen etwas abzuschwächen, wurde dann noch flugs mit einem – ebenfalls von Humbel unter Umgehung der Vernehmlassung eingebrachten – Antrag eine Rückzahlungspflicht für Ergänzungsleistungen eingeführt. Zwar sollten Hausbesitzer·innen zu Lebzeiten nicht gezwungen sein, ihr Haus verkaufen zu müssen, aber deren Erb·innen sollten das Haus dann so schnell wie möglich verkaufen, um aus dem Erlös die bezogenen Ergänzungsleistungen zurückzuzahlen. Mit der Rückzahlungspflicht bei Erbschaften, die 40’000.- übersteigen, wurde mal eben nebenher ein grundlegender Systemwechsel vollzogen, den alle Parteien ausser die GLP mittrugen. Der Zürcher GLP-Nationalrat Thomas Weibel hielt in der parlamentarischen Debatte fest:

Den Antrag der Minderheit Humbel betreffend die Rückerstattung der Ergänzungsleistungen werden wir nicht unterstützen. Das wäre ein Systemwechsel, und diesen wollen wir nicht mittragen.

Eine einzige Nationalrätin enthielt sich zudem in dieser Abstimmung im März 2018 der Stimme: Es war die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi.

2023: Erb·innen müssen nun tatsächlich… das Elternhaus verkaufen und… EL zurückzahlen?!

Nicht einmal drei Jahre nach der Inkraftsetzung der EL-Reform reichte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates am 27. Oktober 2023 die Motion «Rückerstattungspflicht der Erben gemäss Artikel 16a ELG korrigieren» ein, in dem sie den Bundesrat beauftragt, «die Rückerstattungspflicht der Erben bei den Ergänzungsleistungen rückgängig zu machen» und der Bundesrat beantragte am 29. November 2023 die Annahme des Antrages.

Woher kam dieser plötzliche Stimmungswandel? Der Tages Anzeiger lüftete am 4. November das Geheimnis: Man hatte bei der Gesetzgebung nicht an die allerallerwichtigste Bevölkerungsgruppe der Schweiz gedacht:

Eine der treibenden Kräfte ist Thomas de Courten. Nach den bisherigen Erfahrungen seien häufig Bauernbetriebe betroffen, sagt der SVP-Politiker. Wenn die Eltern EL bezogen hätten, müssten sich die Nachkommen zur Rückerstattung hoch verschulden, wenn sie den Hof behalten und selber weiterführen wollten. Bei den Betroffenen handle es sich meist um Familien mit kleinen Einkommen und wenig Vermögen. Die Hofübergabe von den Eltern an die Kinder und damit die Weiterführung des Landwirtschaftsbetriebes werde wegen der Rückerstattungspflicht erschwert oder gar verunmöglicht. Ziel der Rückerstattungspflicht sei es nicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen, sagt de Courten: «Ziel muss es sein, dass Vermögende keine EL beziehen können.»

Erben sollen staatliche Hilfe für ihre Eltern nicht mehr begleichen müssen, Tages Anzeiger 4.11.2023

2018 hatte De Courten der von Humbel in einem Minderheitenantrag eingebrachten Rückzahlungspflicht noch zugestimmt und nun behauptet er, «es sei nicht Ziel der Rückerstattungspflicht gewesen, von der Elterngeneration hart erarbeitetes Wohneigentum oder Vermögen dazu zu verwenden, rechtmässig bezogene EL zurückzuzahlen». Für wen, dachte der SVP-Nationalrat denn genau, dass die Rückzahlungspflicht gedacht sei? Für alle, ausser die Bauern? Vielleicht hätte man mal einen Moment darüber nachdenken sollen, wer mit «denen» eigentlich gemeint ist, wenn man es «denen» mal so richtig zeigen will beim Gesetze machen.

Auch die SP-Nationalrätin Barbara Gysi zeigt deutliche Erinnerungslücken im Bezug auf die damalige Abstimmung im Parlament. Im Tagi heisst es:

Die SP habe die Rückerstattung immer abgelehnt, sagt Nationalrätin Barbara Gysi. Der Motion habe die SP [in der SGK-N] nun zugestimmt, weil verhindert werden müsse, dass künftig noch weitere Sozialleistungen rückerstattungspflichtig würden.

Wie oben erwähnt, hat Gysi sich 2018 als einzige der Stimme enthalten. Die restlichen SP-Nationalrät·innen hatten die Rückerstattungspflicht damals alle gutgeheissen.

Kein Erbenschutz, nämmli.

Rückerstattungspflicht klang halt einfach super, und war doch bloss «gerecht.». Mit der «Gerechtigkeit» war auch anno 2015 im reisserischen NZZ-Artikel «Prämiengeschenke vom Staat» argumentiert worden:

«EL-Bezüger werden heute bei den Prämienverbilligungen gleich doppelt bevorteilt», sagt Andreas Dummermuth, der Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen. Erstens bezahle der Staat den meisten EL-Bezügern die ganze Prämie – während andere bedürftige Personen oft nur einen Anteil erhalten. Zweitens bekämen die EL-Bezüger auch noch die Überschüsse ausbezahlt.

Als direkte politische Folge dieses NZZ-Artikels wird EL-Bezüger·innen seit der EL-Reform keine Pauschale mehr, sondern nur noch die effektive Krankenkassenprämie vergütet. Doch die angebliche «Gleichbehandlung» von «normalen» Empfänger·innen von Prämienverbilligungen und den EL-Beziehenden war dann plötzlich gar nicht mehr relevant. «Warum nicht», dachte sich man sich wohl in der Verwaltung «einfach EL-Beziehende schlechter stellen, als «normale IPV-Empfänger·innen?» und schrieb hurtig in die EL-Wegleitung:

4710.02 Die Rückerstattungspflicht der Erben umfasst sowohl die jährlichen EL einschliesslich des Betrages für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wie auch die vergüteten Krankheits- und Behinderungskosten.

In der breiten Bevölkerung kommen die Auswirkungen der neuen EL-Gesetzgebung erst langsam an und stossen auf wenig Begeisterung: Eine Nidwaldner Erbengemeinschaft (der sehr offensichtlich ein Jurist angehört), sah beispielsweise überhaupt nicht ein, warum sie aus dem Nachlass die dem Erblasser vergüteten Krankenkassenprämien zurückzahlen sollte:

Die Beschwerdeführer argumentieren überdies, dass bei der Auslegung des Begriffs Leistungen zu berücksichtigen sei, dass eine zu Lebzeiten ausgerichtete Prämienverbilligung nicht zurückzuerstatten sei. Weshalb dies bei einem EL-Bezüger anders sein soll, sei nicht einsehbar. (…)

Doch das Verwaltungsgericht Nidwalden hatte kein Musikgehör für die Argumentation der Erbengemeinschaft:

Der Wortlaut von Art. 16a Abs. 1 ELG ist klar. Rückerstattungspflichtig sind im Sinne dieser Bestimmung rechtmässig bezogene Leistungen nach Artikel 3 Absatz 1 ELG, namentlich sowohl die jährlichen EL wie auch vergütete Krankheits- und Behinderungskosten (vgl. auch Rz. 4710.02 WEL). Zu den jährlichen EL gehört wie gesagt entgegen der Meinung der Beschwerdeführer auch der Beitrag für die Prämie der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Art. 10 Abs. 3 lit. d ELG. (…)

Ausserdem:

Den Erben verbleibt mithin trotz Rückerstattung ein Teil des Nachlasses und ihr eigenes Vermögen bleibt unangetastet. Es vermindert sich einzig ihr Erbanteil (ERWIN CARIGIET/UWE KOCH, a.a.O., Rz. 384). Es kann schliesslich nicht darum gehen, die Erbmasse von EL-Bezügern zu schützen. Der Gesetzgeber wollte klar kein Erbenschutz bei den Ergänzungsleistungen.

SV 22 21, Entscheid vom 5. Dezember 2022 Sozialversicherungsabteilung, Verwaltungsgericht Kanton Nidwalden

Oder anders gesagt: Seid froh, dürft ihr überhaupt was erben, ihr gierigen Geier.

Die Erbengemeinschaft versuchte zudem, zumindest die Todesfallkosten geltend zu machen:

Die Ausgleichskasse habe im Nachlassinventar die Todes- und Beerdigungskosten unberücksichtigt gelassen. (…) Was unter «Nachlass» nach Art. 16a Abs. 1 ELG zu verstehen sei, ergebe sich mithin aus Art. 474 ff. ZGB. Danach berechne sich der verfügbare Teil nach dem Stande des Vermögens zur Zeit des Todes des Erblassers. Bei der Berechnung seien die Schulden des Erblassers, die Auslagen für das Begräbnis, für die Siegelung und Inventaraufnahme sowie die Ansprüche der Hausgenossen auf Unterhalt während eines Monats von der Erbschaft abzuziehen (Art. 474 Abs. 1 und 2 ZGB). Es gäbe keinerlei Hinweise, dass der Gesetzgeber die durch den Tod verursachten Kosten beim Abzug habe unberücksichtigt lassen wollen.

Doch das Nidwaldner Gericht zeigte sich auch hier völlig unbeeindruckt:

Gemäss Art. 27a Abs. 1 Satz 2 ELV ist für die Berechnung der Rückforderung das Vermögen am Todestag massgebend. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen, insbesondere die Todesfallkosten, bleiben unberücksichtigt (Rz.4720.03 WEL) und sind von den Erben zu begleichen. (…)

Interessant ist hierzu, dass dem oben zitierten Rz 4720.03 WEL:

Massgebend für die Höhe der Rückerstattung ist der Netto-Nachlass (Brutto-Nachlass abzüglich Schulden) zum Todeszeitpunkt der EL-beziehenden Person und bei Ehepaaren des zweitverstorbenen Ehegatten. Kosten, die erst nach dem Tod der EL-beziehenden Person entstehen (z. B. Todesfallkosten), bleiben unberücksichtigt.

in der ab 1.1.2024 gültigen EL-Wegleitung am Schluss zur Klärung noch folgender Satz angefügt wurde:

Entscheidend ist der Zeitpunkt der Entstehung der Forderung und nicht der Zeitpunkt der Rechnungsstellung.

An diesem kleinen Detail ist schon ersichtlich, dass die Rückzahlungspflicht in der Praxis mitnichten so einfach abzuwickeln ist, wie sich das die Parlametarierer·innen bei ihrer «quick & dirty»-Gesetzgebung gedacht haben. Ausserdem mag die Bevölkerung die Rückzahlungspflicht in der Theorie vielleicht gut heissen («Genau, zurückzahlen sollen sie, die Schmarotzer!»), aber sobald man dann als Erb·in selbst betroffen ist, wird um jeden Franken gekämpft. Eine Erbengemeinschaft aus dem Kanton Bern argumentierte ähnlich wie jene aus Nidwalden bezüglich Krankenkassenprämien und Todefallskosten, doch auch das Berner Verwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab.

«Quick & dirty» ist dann manchmal halt sehr… dirty

Zusätzlich zur offensichtlich eher durchwachsenen Akzeptanz in der Bevölkerung ist fraglich, ob sich der ganze bürokratische Aufwand unterm Strich auch wirklich lohnt:

Die Zahlen aus Bern und Zürich zeigen, dass von den Erben der verstorbenen EL-Bezügerinnen und -Bezüger durchschnittlich rund 15’000 Franken zurückverlangt werden. Da der Staat bei der Rückforderung nur Zugriff auf jenen Teil des Nachlasses nimmt, der den Betrag von 40’000 Franken übersteigt, wurden in den erwähnten Fällen durchschnittlich rund 55’000 Franken vererbt, also relativ kleine Beträge.

Tages Anzeiger, 4.11.2023

Eine so grundlegende Änderung des Systems mal eben schnell nebenher unter Umgehung des Vernehmlassungsverfahres und mit einem durchgehend gehässigen Grundton zusammenzubasteln, war möglicherweise nicht die allerbeste Idee. Dabei wurden auch diverse Dinge beschlossen, die man bei etwas sorgfältigerer Gesetzesarbeit eventuell nochmal überdacht hätte. Unter anderem wäre dann vielleicht auch mal irgendwem eingefallen, dass es sich bei Erben von EL-Beziehenden nicht immer um wohlsitutierte Jurist·innen in fortgeschrittendem Alter handelt, die wegen ein paar tausend Franken EL-Rückforderungen just for fun vor Gericht gehen können, sondern dass die (jüngeren) IV-Beziehenden auch minderjährige Kinder hinterlassen können. Anders als Ehepartner wurden minderjährige Kinder jedoch nicht von der Rückerstattungspflicht ausgenommen. War die verstorbene EL-Beziehende Person ledig, geschieden oder verwitwet, müssen auch deren minderjährige (oder sich noch in Ausbildung befindliche) Kinder aus ihrem Erbe gegebenenfalls EL-Leistungen ihres verstorbenen Elternteils zurückzahlen und aus dem restlichen Erbe auch noch die Todesfallkosten begleichen.

Wenn man bei der Gesetzgebung mit minimalem Augenmass und Einfühlungsvermögen vorgegangen wäre, hätte man Kinder, die minderjährig sind oder sich noch in der Ausbildung befinden, ebenfalls von der Rückzahlungspflicht befreien können. Aber weil die Gesetzgebenden EL-Bezüger·innen mit einer IV-Rente ausschliesslich als Kostenfaktoren sehen, für die es sich «nicht lohnen sollte (zu) viele Kinder zu haben» und nicht als schwerbehinderte oder -kranke Menschen, die möglicherweise verfrüht sterben und auch minderjährige Kinder hinterlassen können, hat man schlicht nicht daran gedacht.

Wenn man ganz besonders zynisch ist, kann man dazu noch bemerken: Das ist doch nur gut gemeint. Denn wenn Waisen möglicherweise höhere Beträge erben könnten, verlören sie dadurch den (eventuellen) Anspruch auf Ergänzungsleistungen, weil dann womöglich die – neu eingeführte – Vermögensgrenze überschritten würde:

Rz 3124.01 Bezügerinnen und Bezüger von Waisenrenten, deren Reinvermögen mehr als 50 000 Franken beträgt, haben keinen EL-Anspruch (vgl. Rz 2511.01).

Die Gehässigkeit bei der EL-Gesetzgebung hat viele Gesichter. Dieses hier ist ein ganz besonders hässliches.

EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem, Teil 3/4: Neue Mietzinsmaxima: Mitleidslobby gewinnt, Selbstbestimmung verliert

Am 1.1.2024 wird die neue EL-Gesetzgebung nach einer dreijährigen Übergangsfrist auch für jene bisherigen EL-Beziehenden in Kraft treten, für die sich durch die EL-Reform finanzielle Verschlechterungen ergeben. Neben den offensichtlichen Sparmassnahmen (u.a. bei den Krankenkassenprämien) haben auch die von Verwaltung, Politik und sogar von den Behindertenorganisationen als «Erhöhung der Mietzinsmaxima» geframten Veränderungen bei der Berechnung der Mietansätze für bestimmte Anspruchsgruppen effektiv keine höheren, sondern tiefere Mietzinsmaxima zur Folge. Die meisten Betroffenen werden durch die Veränderung ihrer Wohnsituation schon (für die EL teils kostensteigernde) Konsequenzen gezogen haben, andere werden den Fehlbetrag (erstmal) aus eigener Tasche berappen (müssen).

Das neue System bei der Berechnung der Mietzinsmaxima orientiert sich viel stärker als vorher am (vermeintlichen) «Bedarf». Weil allerdings der Bedarf gewisser Anspruchsgruppen bei der Gesetzgebung komplett vergessen ging, mussten diese nachträglich noch möglichst mitleiderregend um entsprechende Anpassungen betteln.

Die ursprüngliche Idee der Ergänzungsleistungen, welche den Bezüger·innen einst möglichst viel Eigenverantwortung und finanzielle Selbstbestimmung zugestand, wurde durch diese «bedarfsorientierte» Neugestaltung der Mietzinsmaxima zudem stark beschnitten.

Die Ausgangslage

Vor der EL-Reform galten schweizweit folgende Mietzinsmaxima für EL-Beziehende (vergütet wurde/wird nur der effektive Mietzins, keine Pauschale):

  • Alleinstehende Personen erhielten höchstens 1’100.-/Monat und Person (als «alleinstehend» galten nicht nur Alleinwohnende, sondern auch Personen in Konkubinaten, WG’s und anderen gemeinschaftlichen Wohnformen, da in ihre EL-Berechnung keine weiteren Personen wie Ehepartner oder Kinder einbezogen werden.
  • Ehepaare und Familien erhielten höchstens 1’250.-/Monat – pro Wohnung, nicht pro Person.
  • Der Zuschlag für eine rollstuhlgängige Wohnung betrug 300.-/Monat und Person.

Diese Ansätze galten seit 2001 und wurden ab ca. 2008 von Senioren- und Behindertenverbänden immer wieder lautstark als zu niedrig kritisiert. Von allen Seiten wurden im Parlament über die Jahre unzählige Vorstösse eingereicht, die eine Anpassung der Mietzinsmaxima verlangten. Sogar SVP-Ständerat Alex Kuprecht forderte 2009:

Diese realen Mietzinse sind in der heutigen Zeit kaum mehr marktkonform, sie liegen sehr oft 50 Prozent bis 80 Prozent höher. Eine Anpassung drängt sich deshalb auf.

09.4328 Motion Anpassung der anerkannten Ausgaben im Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung

Doch der Bundesrat hatte keine Eile – und ausserdem: Was das kosten würde!

Ein komplett neues System mit Gewinnerinnen… und Verlierern

2014 wurde schliesslich eine Vorlage zur Änderung der Mietzinsmaxima in die Vernehmlassung geschickt. Die Beratung des Geschäftes wurde dann aber weiter verschoben, weil es in die anstehende EL-Reform integriert werden sollte. Die Behinderten- und anderen sogenannt «sozialen» Organisationen waren höchst empört über diese weitere Verzögerung. Wenn man allerdings die Vernehmlassungsunterlagen nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte, war schon 2014 klar, dass einige EL-Beziehende sehr froh darüber sein dürften, wenn die alte Regelung noch möglichst lange bestehen würde. Denn vorgesehen waren nicht etwa gleichmässige Anpassungen, sondern eine komplette Neugestaltung des Systems mit drei verschiedenen regionalen Ansätzen. Für Alleinwohnende, Familien und Rollstuhlfahrer·innen waren zwar Erhöhungen vorgesehen, aber gleichzeitig (irgendwo muss man ja schliesslich sparen) enthielt die Vorlage für Erwachsene in Mehrpersonenhaushalten (WG’s, Konkubinate, Clusterwohnungen ect.) massive Verschlechterungen.

Ich schrieb 2014 nach der Veröffentlichung der Vernehmlassungsunterlagen:

Liebe ErgänzungsleistungsbezügerInnen, die in einer WG oder mit dem Konkubinatspartner zusammen wohnen
Was seitens des BSV in formvollendetem Neusprech unter dem Titel «Höhere anrechenbare Mietzinse in den Ergänzungsleistungen» Mitte Februar in die Vernehmlassung geschickt wurde, klingt zwar sehr grosszügig («Neben der Erhöhung der Mietzinsmaxima sieht der Bundesrat vor, die unterschiedliche Mietzinsbelastung zwischen Grosszentren, Stadt und Land zu berücksichtigen und dem erhöhten Raumbedarf von Familien Rechnung zu tragen») geht aber voll auf eure Kosten.

Doch die Behindertenorganisationen hatten die Situation von Wohngemeinschaften nicht auf dem Schirm. Man war so fixiert auf die bemitleidenswerten Familien und noch viel bemitleidenswerteren Rollstuhlfahrer·innen, dass alles andere komplett egal war. Nach der Verabschiedung der EL-Reform im März 2019 feierten sich die Verbände öffentlich dafür, dass sie sich so heldenhaft für «höhere» Mietzinsmaxima eingesetzt hatten:

Beim dringendsten Problem konnte sich das Parlament endlich zu substanziellen Verbesserungen durchringen. Die Mietzinsmaxima – die maximalen EL-Beiträge an die Wohnkosten – werden erhöht. Seit 18 Jahren sind diese nicht mehr angepasst worden. Da die Mieten seither exorbitant gestiegen sind, wurden viele Betroffene in die Armut gedrängt. (…) Speziell betroffen sind Mieterinnen und Mieter im Rollstuhl, da rollstuhlgängige Wohnungen fast durchwegs teurere Neubauten sind. Deshalb ist es erfreulich, dass die Behindertenverbände Gehör fanden und das Parlament neben den Mietzinsmaxima auch den Rollstuhlzuschlag um CHF 2400.- jährlich erhöht hat (auf insgesamt maximal 6000 Franken pro Jahr).

Inclusion Handicap, März 2019

Alle Behindertenorganisationen übernahmen in der Folge auch die völlig irreführende Grafik des BSV (siehen Bild unten) die suggerierte, dass alle Mietansätze (Zahlen gelten für 2021, wurden seither der Teuerung angepasst) nun höher seien als vorher. Die grünen Ergänzungen (durch mich) zeigen, dass das eine ziemlich verfälschte Darstellung ist:

Ergänzungsleistungen (EL) 2021: Was ändert?

Der dreckige Trick bei der obigen Darstellung war, dass Mehrpersonenhaushalte auf den Papier grundsätzlich nur als «Familienwohnungen» existierten, für die schon vor der EL-Reform eine Höchstgrenze von 1250.-/ Wohnung galt. Für Mehrpersonenhaushalte, in denen aber mehrere Erwachsene wohnten, die nicht miteinander verheiratet waren, gab es vorher keine Höchstgrenze pro Wohnung, sondern nur jene von 1’110.-/Person. In den Vernehmlassungsunterlagen zu den höheren Mietzinsmaxima von 2014 war dazu als empörendes Beispiel ausgeführt worden:

Heute wird für eine alleinstehende Person in einem Mehrpersonenhaushalt ein Mietzinsanteil bis zum Mietzinsmaximum für Alleinstehende berücksichtigt. Allerdings wird bereits heute in diesen Fällen eine Aufteilung des Mietzinses auf die Anzahl Personen im Haushalt gemacht. Trotzdem wäre es möglich, dass einer EL- beziehenden Person, die mit zwei weiteren Personen zusammen lebt, ein Mietanteil von bis zu 1’100.- im Monat berücksichtig wird. Die Wohnung könnte in diesem Fall bis zu 3’300 Franken im Monat kosten. Gemäss vorliegendem Vorschlag sollen dieser Person noch höchstens 592 Franken (Grosszentren) für die Miete berücksichtigt werden.

Die 592.-/Person in einer Dreier-WG in einer Grosststadt wie Zürich (Region 1) wurden dann zwar im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses noch äusserst grosszügig um 8.- auf sagenhafte 600.- erhöht, aber ansonsten wurde das Thema WG komplett vergessen. Im Vordergrund stand für Politik und Verwaltung die Idee, dass es sich für EL-Beziehende keinesfalls lohnen darf, (zu)viele Kinder zu haben, weshalb bei den Mietzinsmaxima für Mehrpersonenhaushalte höchstens vier Personen berücksichtigt wurden. Während die Mietansätze für Familien mit (wenigen) Kindern einerseits erhöht wurden, wurden aber gleichzeitig die Ansätze für den Lebensbedarf für Kinder unter elf Jahren gekürzt. Vor der Reform hatten Familien zwar weniger Geld zu Verfügung, aber sie konnten dafür eigenverantwortlich entscheiden, wie viel Geld aus dem Lebensbedarf der Kinder in die Miete floss. Sprich: Ob sich z.B. Geschwister als Kleinkinder ein Zimmer teilen und man das Geld stattdessen für andere Dinge benutzt, weil der Familie etwas anderes wichtiger ist. Nach der EL-Reform ist diese Selbstbestimmung nicht mehr möglich.

Oh shit, shit, shit…

Bloss einige Wochen nachdem das Parlament im März 2019 EL-Reform verabschiedet hatte, dämmerte es einigen Leuten aus der Praxis, was die neue Gesetzgebung für Bewohner·innen grösserer gemeinschaftlicher Wohnformen bedeuten würde und auch die Behindertenorganisationen bemerkten endlich, was sie seit der Eröffnung der Vernehmlassung 2014 komplett verschlafen hatten. Ihre Reaktion: «Oh shit, shit, SHIT!»

Oder anders formuliert in der Interpellation «Gemeinschaftliches Wohnen und Bezug von Ergänzungsleistungen. Werden kostengünstige Lösungen durch die EL-Reform verhindert?» die BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti am 8.5.2019 einreichte:

Neu wird in der EL-Berechnung einer erwachsenen Person mit einer Behinderung, die bei ihren Eltern lebt, ein Betrag von höchstens 575 Schweizerfranken berücksichtigt (Reg. 2); in einer 4er-WG in Zürich noch maximal 490 Schweizerfranken. Bei einer 16er-Cluster-WG, in der sich Mitbewohner gegenseitig unterstützen und die der sozialen Isolation auch im Alter entgegenwirkt, stünden nur noch Fr. 122.50 im Monat zur Verfügung (Reg. 1).

Qudranti fragte unter anderem:

Entsprechen die neuen Ansätze für Erwachsene mit Behinderungen, die bei den Eltern oder in WG wohnen, den effektiven Kosten sowie dem Recht auf Achtung des Privatlebens, was auch die Wahl der Wohnform beinhaltet?

Die Antwort des Bundesrates, welche jeweils durch das BSV formuliert wird, ist etwas vom abschätzigsten, was ich jemals vom BSV vernommen habe (und das will etwas heissen):

1./2./4. Die Achtung des Privatlebens wird durch die Höhe der Mietzinsmaxima nicht beeinträchtigt. Die Höhe der Mietzinsmaxima ermöglicht es EL-beziehenden Personen, weiterhin ein eigenes Zimmer in einer Wohngemeinschaft oder bei den Eltern zu bewohnen, sodass eine Rückzugsmöglichkeit besteht und das Privatleben gewahrt bleibt. EL-beziehende Personen können mit den neuen Mietzinsmaxima allerdings keinen grossen Beitrag an Gemeinschaftsräume leisten. Die individuellen Mietzinsmaxima, welche sich beispielsweise in einer 16-Clusterwohngemeinschaft ergeben würden, sind tatsächlich sehr tief. Daher sieht das Gesetz für solche Konstellationen eine auf drei Jahre befristete Übergangsbestimmung vor.

«Gemeinschaftsräume» für EL-Beziehende? Also bitte, wo kämen wir denn da hin? Sollen sich die Leute doch einen Camping-Kocher ins Zimmer stellen, aus dem Fenster pinkeln und wenn’s mal regnet, stellen sie sich einfach nackt auf die Strasse – die brauchen nun wirklich keine Küche oder gar – welch unnötiger Luxus – ein Badezimmer. Und hey, wenn ihnen das nicht passt, dann haben sie immerhin drei Jahre Zeit, um in eine eigene Wohnung mit Küche und Bad umzuziehen. Als Alleinwohnende betragen die Mietzinsmaxima in den verschiedenen Regionen nämlich ein vielfaches der Ansätze für Gross-WGs und für die EL wird es dann erst richtig richtig teuer (Was ich übrigens schon 2014 voraussagte).

Der Tages Anzeiger griff das Thema am 28.7.2019 unter dem Titel «Rentner erhalten mehr Geld, wenn sie alleine wohnen» auf:

In manchen Fällen wird das Wohngeld so stark gekürzt, dass die Betroffenen aus der WG ­werden ausziehen müssen, so wie die IV-Rentnerin M.K.* Sie lebt in einer mittelgrossen Stadt am Zürichsee in einer 8er-Wohngemeinschaft und bezahlt monatlich 740 Franken Miete. Zurzeit deckt die EL die Wohnkosten, M.K. könnte sogar maximal 1100 Franken Miete in Rechnung stellen. Mit der EL-Revision erhält sie künftig nur noch 235 Franken. Denn die neuen Wohnbeiträge sind maximal auf einen 4-Personen-Haushalt ausgerichtet, und für einen solchen gibt es in mittelgrossen Städten höchstens 1875 Franken. Um den Anspruch von M.K. zu berechnen, wird dieser Betrag durch 8 geteilt, die Anzahl der Bewohner.

Den Fehlbetrag von 500 Franken könne sie unmöglich ausgleichen, sagt M.K., die an starkem ADHS leidet. Deshalb sucht sie nun eine Einzelwohnung. Dafür werden ihr monatlich bei den EL maximal 1325 Franken zustehen, über 1000 Franken mehr als in ihrer WG. Der Umzug in eine Einzelwohnung wäre für M.K. allerdings einschneidend. Die Wohngemeinschaft biete ihr ein familiäres Umfeld und Stabilität, sagt sie. «Wir tauschen uns aus, teilen und helfen einander – ganz praktisch wie auch emotional.» Dank dieser Unterstützung habe sie die Klinikaufenthalte minimieren können und benötige im Alltag keine Begleitung.

«Rentner erhalten mehr Geld, wenn sie alleine wohnen» Tages Anzeiger, 28.7.2019

Die neue WG-Kategorie schafft falsche Anreize – für die Behörden

In einer Feuerwehrübung wurde dann kurzfristig doch noch ein WG-Tarif geschaffen: EL-beziehende Personen, die in einer WG wohnen, sollten neu gleichviel Geld für die Miete erhalten, wie wenn sie in einem 2-Personen Haushalt wohnen würden – egal, wie gross die WG ist. Aktuell (Stand 2023) betragen die Mietzinsmaxima für WG-Bewohner·innen für die Region 1: 867.50, für die Region 2: 842.50 und für die Region 3: 782.50.

Die neuen WG-Ansätze liegen damit immer noch deutlich unter den 1’100.-, welche vor der Reform maximal an Einzelpersonen ausgerichtet wurden, egal, ob sie alleine oder mit anderen zusammenwohnten. Da die Mietzinsmaxima für Alleinwohnende zusätzlich sehr grosszügig erhöht wurden (Region 1: 1465.-, Region 2: 1420.-, Region 3: 1295.-) erhalten WG-Bewohner·innen 500.- bis 600.- pro Monat weniger als Alleinwohnende. Damit wurde für die EL-Durchführungsstellen ein grosser Anreiz geschaffen, äussert kreativ auszulegen, was denn nun denn genau ein «WG-Zimmer» ist.

So befand zum Beispiel die Berner Ausgleichskasse im Fall eines 89-jährigen Rentners, der selbständig in einem an ein Pflegeheim angeschlossenen Altersstudio wohnt, dass es sich dabei – trotz eigenem Bad und Kochnische – um ein WG-Zimmer handle und kürzte kurzerhand die Beiträge auf WG-Niveau. Deshalb kann der Rentner sein 1’200.- teures Studio nun nicht mehr bezahlen und wird ausziehen müssen.

Die Begründung der Berner Ausgleichskasse ist geradezu bösartig:

Bei der Wohnung handle es sich um eine Wohngemeinschaft. Das sei in einem Video auf der Webseite und auf Flyern der Altersresidenz so angegeben. In der Tat spricht eine Seniorin in einem Video von einer WG. Für Wohngemeinschaften seien laut Gesetz tiefere EL-Beiträge vorgeschrieben, schreibt die Ausgleichskasse: «Wir haben keinen Ermessensspielraum.» Man könne nicht von den geltenden Regelungen abweichen.

Weil er in «WG» wohnt, steht ein Heimbewohner vor dem Ruin, SRF Regionaljournal Bern, Freiburg, Wallis, 27.08.2023

Angeblich «teure Luxus-WG’s» oder noch teureres Alleinwohnen?

Auch für EL-Beziehende, die effektiv in einer WG wohnen, wirken sich die neuen massiv tieferen WG-Mietzinsmaxima negativ aus. Der Tages Anzeiger berichtete im Sommer 2022 über zwei junge Männer, die mit den neuen Ansätzen ihre 2790 Franken teure Wohnung – nach der am 1.1.2024 endenden Übergangsfrist – nicht mehr bezahlen könnten.

Auf den ersten Blick wirken 2790.- für eine Zweier-WG natürlich nicht gerade günstig. Doch Peter Buri und Thomas Bertolosi sind nicht nur auf eine völlig barrierefreie Wohnung (die i.d.R. nur in teuren Neubauten zu finden ist), sondern auch auf Elektrorollstühle, sowie Assistenzpersonen angewiesen. Und das benötigt Raum: die beiden Elektrorollstühle zum Manövrieren und die Assistenzperson ein Zimmer zum Übernachten. Nach altem Recht haben Buri und Bertolosi je maximal 1’100.- für die Wohnung und je 300.- Rollstuhlzuschlag erhalten und konnten so – die von der IV zusätzlich extra für ihre Bedürfnisse umgebaute Wohnung – gemeinsam gerade eben bezahlen.

Nach neuem Recht erhalten die beiden Männer nur noch den WG-Ansatz, der in der Region 2 aktuell (2023) 842.50/Person beträgt. Der Rollstuhlzuschlag, der bisher pro Person maximal 300.- betrug, wird neu nicht mehr jeder Person, sondern nur noch einmal pro Wohnung gewährt. Wir erinnern uns an dieser Stelle kurz an die Behindertenorganisationen die sich – siehe weiter oben – auch dafür feierten, wie heldenhaft sie sich für höhere Rollstuhlbeisträge eingesetzt hatten. Effektiv beträgt der Rollstuhlzuschlag pro Wohnung aktuell 535.- in einer Zweier-WG pro Person also nur noch 267.50.
Pro WG-Bewohner ergibt sich dadurch ein Höchstbetrag von 1110.- statt wie nach altem Recht von 1400.- Mit den 2220.- könnten Buri und Bertolosi aber ihre 2790.- teure Wohnung nicht mehr bezahlen.

Zögen hingegen beide in eine eigene Wohnung, erhielte jeder von ihnen bis zu 1420.- plus 535.- Rollstuhlzuschlag, also maximal 1955 Franken. Mal zwei würde das die EL dann 3910.- kosten. Der Tagi schrieb:

Ziehen Buri und Bertolosi in eigene Wohnungen, entstehen der EL höhere Wohnkosten als in der WG. Aber auch die IV fährt schlechter, weil dann jeder für sich eine Assistenzperson braucht und eine angepasste Wohnung, statt sie wie bisher teilen zu können. Buri, der politisch in der SP aktiv ist, bezeichnet die EL-Reform als eine «bürgerliche Idiotie». Geradezu grotesk sei es, dass der IV bei einem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung horrende Rückbaukosten entstünden und zusätzlich noch Umbaukosten in den neuen Wohnungen.

Ausserdem:

Da sei dem Parlament tatsächlich ein Fehler unterlaufen, sagt Erich Ettlin, Präsident der ständerätlichen Sozialkommission. Die EL-Reform sei sehr komplex gewesen, und bei den WGs mit Assistenzzimmer handle es sich um einen Spezialfall. Nun müsse geprüft werden, wie der Fehler korrigiert werden könne, sagt der Mitte-Politiker. Dass eine Korrektur nötig sei, sei offensichtlich, denn die Auflösung solcher Wohngemeinschaften sei nicht sinnvoll, nur schon weil dies Mehrkosten verursache.

WG-Bewohner mit Behinderung: Seine Freiheit ist gefährdet – wegen eines Fehlers des Parlaments, Tages Anzeiger 3.6.2022,

Spezialgesetze für die Allerärmsten und Bemitleidenswertesten

Die angeblich unbeabsichtigten «Fehler» welche Politik und Verwaltung mit ihrer gehässigen denen «Denen zeigen wir’s jetzt aber! – Attitüde bei den neuen Mietzinsmaxima verursacht haben, sollen nun im Rahmen der aktuell im Gesetzgebungsprozess befindlichen Vorlage über die «Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung Anerkennung des betreuten Wohnens für Bezügerinnen und Bezüger von EL zur AHV» behoben werden.

Unter anderem sind Speziallösungen für altergerechtes Wohnen vorgesehen, EL-Beziehende die eine Nachtassistenz benötigen, sollen einen Zuschlag für die Miete eines zusätzlichen Zimmers erhalten und der Rolllstuhlzuschlag soll nur bei der Berechnung der Person berücksichtigt werden, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist (wenn mehrere Personen auf einen Rollstuhl angewiesen sind und zusammenleben, soll jedoch pro Wohnung nur ein Zuschlag gewährt werden).

Oder anderes gesagt: Für die Anspruchsgruppen, welche in der Öffentlichkeit am meisten Mitleid erregen (Gebrechliche Senior·innen, Rollifahrer·innen und schwerbehinderte Menschen mit Assistenzbedarf) konnte durch erfolgreiches Lobbying im Nachhinein eine Extra-Spezial-Gesetzgebung erwirkt werden, während für diejenigen EL-Beziehenden, die nicht ganz so bemitleidenswerte Merkmale aufweisen können, nach wie vor gilt: «Denen zeigen wir jetzt aber, die müssen dann nicht meinen!»

Beispielhaft dafür, wie zum Beispiel Procap in seinem Magazin im März 2023 gross titelte:

«EL-Kürzungen für Wohngemeinschaften per Ende 2023: Eine Lösung ist in Sicht!»

Natürlich sind hier nicht Wohngemeinschaften von Fussgänger·innen gemeint, denn der Procap-Jurist Daniel Schilliger befand Ende 2020 in einem Artikel im Tages Anzeiger, dass die tieferen Ansätze für Konkubinate und WG-Bewohnder·innen vertretbar seien:

Auch EL-Bezüger in Wohngemeinschaften (WG) profitierten bis anhin davon, dass sie als Einzelpersonen betrachtet wurden. In einem ersten Anlauf hat das Parlament die WGs den Familienhaushalten gleichgestellt. Damit wären die Bewohner von Behinderten-WG deutlich schlechter weggekommen als heute. Nach Kritik von Behindertenorganisationen korrigierten die Räte ihren Entscheid. Die neuen Maximalbeträge für WG-Bewohner seien zwar tiefer als bisher, «sie entsprechen aber dem neuen Ansatz für Konkubinate und sind damit vertretbar», sagt Daniel Schilliger.

Mehr Geld für die Miete, strengere Regeln beim Vermögen, Tages Anzeiger, 12.10.2020

«Vertretbar», aber doch nicht für die Rollifahrer·innen…!

Schillinger tätigte obige Aussage im Tages Anzeiger, bevor man bei den Behindertenorganisationen begriffen hatte, dass nicht nur die profanen Fussgänger·innen in Konkubinaten/WG’s trotz der neu geschaffenen WG-Kategorie von «vertretbaren» Kürzungen» (sprich bis rund 300.- weniger pro Monat) betroffen waren, sondern tatsächlich auch manche Rollifahrer·innen in gemeinschaftlichen Wohnformen trotz angeblich «erhöhtem» Rollstuhlzuschlag plötzlich zum Umzug gezwungen sein würden.

Und das geht natürlich nicht! Also drängte man auf eine neue Extra-Spezial-Gesetzgebung (siehe oben) die aber auch nur wieder ganz bestimmten – nämlich ganz besonders bedürftigen – Gruppen zu Gute kommen wird (Spoiler: Auch manche Rollifahrer·innen müssen – trotzdem – umziehen, da das Problem nicht (nur) beim Rollizuschlag, sondern auch bei den deutlich tieferen WG-Ansätzen liegt).

Da der Gesetzgebungsprozess für diese Extra-Spezial-Gesetzgebung nicht bis Ende Jahr abgeschlossen sein wird und für bisherige EL-Beziehende die Übergangsfrist am 31.12.2023 abläuft, rät die Procap in ihrem Magazin:

Wenden Sie sich an den Fonds des Bundes «Finanzielle Leistungen für Menschen mit Behinderung» (FLB), der von Pro Infirmis verwaltet wird (www.proinfirmis.ch). Wenden Sie sich möglichst früh an Pro Infirmis, damit eine allfällige finanzielle Unterstützung durch den FLB geprüft werden kann. (…)

Die Zwischenlösung, dass Wohngemeinschaften den FLB zur Überbrückung von finanziellen Notlagen verwenden, die aufgrund der EL-Kürzungen entstehen können, wurde vom Bundesrat vorgeschlagen. Bis eine langfristige Lösung gefunden ist, soll so verhindert werden, dass Wohngemeinschaften aufgelöst werden oder Menschen unnötigerweise umziehen oder in ein Heim eintreten müssen.

Procap Magazin, März 2023

Nur, die «Finanziellen Leistungen für Menschen mit Behinderung (FLB)» sind an diverse Bedingungen geknüpft, unter anderem wird geprüft, ob die Antragstellenden auch wirklich genügend «bedürftig» sind. Als nicht bedürftig gelten laut FLB Leitsätzen alleinstehende Personen, deren «bewegliches Vermögen» 10’000.- überschreitet. Und das wird sehr genau geprüft:

Zum verwertbaren Vermögen wird das bewegliche Vermögen (Bargeld, Bank- und Postguthaben, Obligationen, Aktien und andere Vermögenstitel, Rückkaufswerte von Lebensversicherungen, Vermögen aus unverteilten Erbschaften, verfügbares Vermögen aus dem Kapitalbezug der 2. Säule, Edelmetalle, wertvolles Mobiliar, usw.) zugerechnet.

Finanzielle Leistungen an Menschen mit Behinderung (FLB) Leitsätze 2013 (neuer gibt’s wohl nicht).

Jene Betroffenen, die also mehr als 10’000.- Vermögen haben (Bei den EL gilt ein Vermögensfreibetrag von 30’000.-) sind also nicht «richtig» bedürftig und müssen nun für die Unfähigkeit der Gesetzgebenden buchstäblich bezahlen.

Fazit: Besser bereits am Anfang an Selbstbestimmung denken, statt im Nachhinein irgendwas wurschteln

Zwar wurden die Mietzinsmaxima für verschiedene Anspruchsgruppen erhöht, für manche allerdings bei genauerem Hinsehen nur vorgeblich und für dritte gar deutlich gesenkt. Der öffentlichkeitsheischende Einsatz von Behinderten- und anderen sogenannt sozialen Organisationen für «höhere anrechenbare Mietzinsmaxima» wurde aber – nicht zuletzt dank der äusserst willigen Mithilfe, Ignoranz und Inkompetenz ebendieser Organisationen – von Politik und Verwaltung auch pervertiert, um bei einem weiteren Aspekt der Ergänzungsleistungen den Fürsorgecharakter zu stärken und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Betroffenen praktisch auszuschliessen.

Die Mietzinsmaxima für Ehepaare und Familien waren vor der EL-Reform tatsächlich sehr tief, aber das hätte man völlig umkompliziert (u.a. über höhere Ansätze beim Lebensbedarf für Kinder) regeln zu können. Durch den kompletten Umbau des Systems mit je nach Wohnort und -situation unterschiedlichen Ansätzen wurde ein zuvor einfaches System massiv verkompliziert und zudem viele neue Ungerechtigkeiten geschaffen.

Es mutet zudem anachronistisch an, dass in Zeiten, in denen im Behindertenbereich das Schlagwort vom angeblich «Selbstbestimmten Wohnen» in aller Munde ist, der Gesetzgeber bei den Ergänzungsleistungen den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat.

Die Prämisse war hier nämlich nicht: «Wie können Menschen mit einer Behinderung mit den ihnen zur Verfügungen stehenden finanziellen Mitteln die für sie selbst beste Wohnsituation wählen?» sondern die Herangehensweise war genau umgekehrt: Die Gesetzgeber gingen davon aus, dass EL-Beziehende ihre Situation keineswegs eigenständig «optimieren» dürften. Wer zum Beispiel aufs Land zog und dafür eine schlechtere Infrastruktur und Verkehrsanbindung in Kauf nahm, konnte sich mit der alten Gesetzgebung eine grössere Wohnung als in der Stadt oder vielleicht auch ein WG-Zimmer in einem gemeinschaftlich bewohnten Haus leisten. Mit der neuen Gesetzgebung wurden solche Wahlmöglichkeiten bewusst unterbunden, weil solcherlei Optimierungsmöglichkeiten als Unverschämtheit, ja geradezu als Sozialschmarotzerei dargestellt wurden.

Der Treppenwitz an der ganzen Geschichte ist, dass es offenbar nicht als Sozialschmarotzerei empfunden wird, wenn EL-Bezüger·innen nun bewusst vom Land in die Stadt (mit höheren Mietansätzen) ziehen oder (teils gewungenermassen) aus einer billigeren WG in eine teure Einzelwohnung umziehen. Die Vorstellung dahinter ist, dass EL-Beziehende ja nichts dafür können, dass Wohnungen in der Stadt bzw. Einzelwohnungen teurer sind. Sie sind diesen Marktmechanismen schliesslich «hilflos» ausgeliefert und die EL sollte den «Hilflosen» dann schon «fürsorgerisch» beistehen, auch wenn sie in einer absurd teuren Stadt wie zum Beispiel Zürich wohnen. (Nicht-EL-Beziehende müssen ihre Situation auch «optimieren», wenn sie sich keine Wohnung in Zürich leisten können, sie bekommen allerdings nicht weniger Lohn von ihrem Arbeitgeber, wenn sie in eine Gemeinde mit tieferen Mieten ziehen, weil: Eigenverantwortung!)

Ganz besonders «hilflos» im Wohnungsmarkt gelten Rollstuhlfahrer·innen, weil die meisten Wohnungen schlicht nicht barrierefrei gebaut sind und die, die es sind, sind meistens neu und entsprechend teuer. In der neuen Gesetzgebung schlägt sich das dann so nieder, dass sich eine Rollstuhlfahrerin in der Region 2 aktuell eine Wohnung leisten kann, die bis zu 1955.- pro Monat kosten darf. Wohnen jedoch zwei Fussgänger in einer Wohnung, darf diese in der Region 2 höchstens 1685.- kosten. Die Wohnung, welche von zwei Personen bewohnt wird, muss also mindestens 270.- weniger kosten als die von der Rollstuhlfahrerin allein bewohnte Wohnung. Auch ein Ehepaar mit einem Kind (alles Fussgänger·innen) bekommt für seinen 3-Personenhaushalt immer noch 110.- weniger als die alleinlebene Rollstuhlfahrerin. Erst ein Ehepaar mit zwei oder mehr Kindern erhält ganze 55.- mehr als die alleinlebene Rollstuhlfahrerin. Das sind doch etwas merkwürdig anmutende Relationen, welche an die Idee von «würdigen» und «unwürdigen» Armen Behinderten gemahnen.

Vollends ad absurdum geführt werden die neuen Regelungen zudem, wenn es sich beim Paar mit Kindern nicht um eine Ehe- sondern ein Konkubinatspaar handelt, das patchworkmässig je ein eigenes Kind in die familiäre Wohngemeinschaft einbringt. Die Bewohner·innen gelten dann nicht als Familie, sondern jeweils einzeln als «Alleinstehend mit Kind». Entsprechend erhält jeder Elternteil zusammen mit seinem Kind in der Region 2 1685.- und die gemeinsame Wohnung kann deshalb bis zu 3370.- kosten. Das sind 1360.- mehr als die Familie in der die Eltern miteinander verheiratet sind. Hat man beim BSV gedacht, dass eheliche Kinder irgendwie kleiner sind als nichteheliche und sich deshalb platz- und kostensparender im Wandschrank verstauen lassen?

Eigentlich bestand ja eine Idee der Reform darin, dass Konkubinatspaare finanziell beim Mietzinsmaxima nicht mehr «besser» als Ehepaare gestellt sind, aber durch die nachträglich noch schnell hineingewurschtelte WG-Regelung wurden nun wieder neue Ungleichheiten geschaffen. Gescheiter als nach Wohnort und -Situation hätte man ausschliesslich nach Minderjährigen und Erwachsenen unterschieden und bei Minderjährigen – wie bereits erwähnt – eine Wohnpauschale in die Lebenshaltungskosten eingeschlossen.

Bei gemeinschaftlichen Wohnformen von Erwachsenen ist ausserdem zu erwähnen, dass es es sich hier nicht um Studenten-WG’s handelt, wo es darum geht, während weniger Jahre im Rahmen einer üblicherweise ganztägigen Ausbildung quasi «einen Platz zum Schlafen» zum haben. Die Situation von erwachsenen Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen, die nicht selten viel Zeit zu Hause verbringen – und dies über Jahrzehnte hinweg – ist eine grundsätzlich andere. Spätestens seit der Coronapandemie dürften viele Menschen aus eigener Erfahrung wissen, dass bei einem länger dauerndem ganztägigen Zusammensein in einer Wohnung mit anderen Personen begrenzte Platzverhältnisse einen grossen Stressfaktor darstellen.

Dass sich zudem nun wie oben im Falle des 89-jährigen Rentners gezeigt, Ausgleichskassen als WG-Detektive betätigen, um Wohn-Studios als angebliche WG-Zimmer zu «enttarnen», zeigt, dass durch die geradezu fanatische Besessenheit, jegliche vermeintlich falschen «Anreize» auf Seiten der Bezüger·innen zu eliminieren, an unerwarteten Orten ganz neue merkwürdige Anreize geschaffen werden können.

Kurz: Dass Politik und Verwaltung sich bei der Gesetzgebung einerseits dermassen stark von Missgunst und Missbrauchsfantasien einerseits leiten liessen und bei den nachträglich eingefügten Basteleien einzelnen Anspruchsgruppen dann aus Mitleid einige Extra-Spezialregelungen für Dinge (Beispiel Assistenzzimmer) gewährten, die die Betroffenen vor der Reform völlig unkompliziert eigenständig ohne extra Bittibätti machen zu müssen realisieren konnten, ist absolut unwürdig und ein Rückfall in die längst vergangen geglaubten Zeiten der maximalen Bevormundung von Menschen mit Behinderung.

Behindertenorganisationen, die den paternalistischen Geist dieser Reform unterstützten, können ihre euphemistischen Konzepte vom angeblich «Selbstbestimmten Wohnen» nun endgültig in einem schönen grossen Feuer verbrennen.

EL-Reform: Vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem – Teil 2/4: Prämiengeschenke für die Krankenversicherer

Die Ergänzungsleistungen stellen eine Art Mittellösung zwischen Sozialhilfe und Versicherung dar. Je nach politischer Einstellung oder dem Zeitgeist werden sie mehr in die eine oder die andere Richtung verortet. Vor der Anfang 2021 in Kraft getretenen EL-Reform waren die Ergänzungsleistungen zwar auch als Bedarfsleistungen konzipiert, aber der «Bedarf» wurde eher grosszügig und unkompliziert mit schweizweit (fast) gleichen Pauschal-Ansätzen berechnet. Einzig bei der Anrechnung der Beiträge für die obligatorische Krankenpflegeversicherung wurden lokale Unterschiede einbezogen, aber bei den anerkannten Ausgaben nicht die effektiven Kosten, sondern die kantonale bzw. regionale Durchschnittsprämie berücksichtigt.

Die Krankenkassenprämien waren dann auch das Einfallstor, über das schon Jahre vor der EL-Reform von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt am EL-System gesägt wurde. Das Ganze vollzog sich ganz langsam in mehreren Etappen:

Systemwechsel «ohne nachteilige finanzielle Folgen für die Betroffenen» hat dann doch… nachteilige finanzielle Folgen für die Betroffenen

Zuerst einmal wurde – durch entsprechendes Lobbying der Krankenversicherer – das Problem von unbezahlten Krankenkassenprämien in den politischen Fokus gerückt. Damit zumindest die Empfänger·innen von staatlichen Prämienverbilligungen diese nicht für Alkohol, Drogen oder einen BMW ausgegeben können (man kennt es ja, arme Menschen sind einfach nicht vertrauenswürdig), beschloss das Parlament 2010, dass Prämienverbilligungen ab 2012 nicht mehr an die Versicherten, sondern direkt an die Versicherer selbst ausbezahlt werden. Da auch die KK-Prämien der EL-Beziehenden aus dem dem Topf der Prämienverbilligungen finanziert werden, galt die neue Regelung nach einer Übergangsfrist ab 2014 auch für sie.

Laut einem Kassensturzbeitrag von 2016 informierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) vor der Umstellung in einer (heute nicht mehr ergoogle-baren) Broschüre und schrieb:

Insgesamt hat diese Änderung für die Bezügerinnen und Bezüger von EL aber keine nachteiligen finanziellen Folgen.

Der Kassensturzbericht zeigte am Beispiel von zwei AHV-Rentner·innen auf, dass diese (von den Portraitierten zudem als Bevormundung empfundene) Änderung für EL-Beziehende sehr wohl finanzielle Folgen hatte: Sie konnten die Kosten für die Versicherungsprämien – da sie diese nicht mehr wie bisher selbst an die Krankenkasse zahlten – nicht mehr von den Steuern abziehen und sahen sich deshalb plötzlich mit einer deutlich höheren Steuerrechnung konfrontiert. Auf Anfrage des Kassensturzes wies das BSV den Vorwurf zurück, falsch informiert zu haben. Es hätte keine Absicht bestanden, Rentner·innen zu benachteiligen. Das Bundesamt schrieb:

Tatsache ist, dass die Nicht-EL-Beziehenden mit Anspruch auf Prämienverbilligung diesen Abzug auch nicht machen können. Vor der Einführung der Direktauszahlung der Prämien bei EL-Beziehenden hat dies aber niemand bemerkt.

Notleidende Rentner: Behörden treiben Betagte in die Steuerfalle, Kassensturz, 10.05.2016

Man kann natürlich aus Verwaltungssicht rückblickend argumentieren, dass die EL-Beziehenden vorher eben unbemerkt ungerechtfertige Abzüge machen konnten (diese frechen Sozialschmarotzer!), die finanzielle Situation der EL-Beziehenden hatte sich (entgegen dem ursprünglichen Zusicherung des BSV) durch die Änderung dennoch ganz real verschlechtert.

Geldverlagerungen

Die Direktauszahlung der Krankenkassenprämien an die Krankenkassen war also weit mehr als nur eine «rein formale» Änderung und schuf zudem die Grundlagen für weitere Verschlechterungen sowohl in direkt finanzieller Hinsicht, als auch im Bezug auf die finanzielle Selbstbestimmung der EL-Beziehenden.

Genauso wie für den allgemeinen Lebensbedarf eine Pauschale eingesetzt wird, welche die EL-Beziehenden nach freiem Gutdünken verwenden können (also auch durch Einschränkungen bei der Lebensführung etwas Ersparnisse bilden), konnten sie bis 2014 durch die Wahl des Versicherungsmodells (z.B. Hausarztmodell) einen Teil des für die KK-Prämie vorgesehenen Betrages eigenvernatwortlich einsparen und für etwas anderes einsetzen (Beispielsweise für eine für chronisch kranke Menschen oft wichtige Zusatzversicherung).

Zwar konnten EL-Bezüger·innen auch noch nach 2014 ein günstigeres Versicherungsmodell wählen, da die EL-Durchführungsstellen aber jeweils Ende November(!) des Vorjahres den gesamten in der EL-Berechnung festgesetzten jährlichen Pauschalbetrag an die Krankenversicherer überwiesen, mussten EL-Beziehende anfangs des neuen Jahres nun die ihnen gesetzlich zustehende Restsumme vom Krankenversicherer aktiv zurückfordern, andernfalls wurde diese (so zumindest die Praxis bei diversen Krankenkassen) bis Ende Jahr erstmal einbehalten und erst dann an die Versicherten ausbezahlt.

Die Krankenkassen haben also durch den Systemwechsel seit 2014 also nicht nur die gesamten jährlichen Krankenkassenbeiträge aller EL-Beziehenden bereits Ende des Vorjahres auf ihrem Konto liegen (2014 waren das laut EL-Statistik über 1,5 Milliarden, im Jahr 2021 bereits über 2,0 Milliarden Franken), sondern behielten ohne aktive Rückforderung auch noch die Überschüsse, die eigentlich den EL-Bezüger·innen zustanden, möglichst lange ein. Damit lag nun plötzlich ziemlich viel Kapital ziemlich lange in den Kassen der Krankenkassen, das da vorher nicht lag. Und kann von den Krankenkassen natürlich gewinnbringend angelegt werden. Doch diese neuen Kapitalbildungsmethoden der Krankenkassen interessierten niemanden. Vielmehr nutzen die Krankenkassen die durch die neue EL-Praxis 2014 sichtbar werdenden Beträge, die sie den EL-Bezüger·innen zurückzahlen mussten, um diese Überschüsse zu skandalisieren und sich diese schlussendlich selbst zuzuführen. Wie sie das machten? Mit der äusserst willigen Hilfe von Medien und Politik:

«Prämiengeschenke vom Staat»

Der am 11. April 2015 in der NZZ veröffentlichte Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat» schlug ein wie eine Bombe und sorgte für schweizweite Empörung. Bereits der Lead liess die bei vielen von der Materie unbedarften Leser·innen den Blutdruck in schwindelerregende Höhen steigen:

Zehntausende Personen erhalten Prämienverbilligungen, die höher sind als ihre Krankenkassenprämie. Einzelne kassieren über 5000 Franken extra, den Staat kostet das Dutzende Millionen Franken.

Im Fokus standen nicht die Empfängerinnen von «normalen» Prämienverbilligungen, denen i.d.R. nur ein Teil ihrer Prämien vergütet wird, sondern die EL-Beziehenden, die für die Krankenkassenprämien einen Pauschalbetrag erhielten. Wer nur etwas Ahnung von den für die EL-Berechung massgebenden Durchschnitttsprämien 2014 hatte, wusste schon nach dem Lesen der ersten Zeilen des Artikels: Das kann so nicht stimmen. Die ausbezahlten Durchschnittsprämie lagen zum einen 2014 in den meisten Kantonen unter 5000.- und zum anderen war höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet im Kanton mit der höchsten Durchschnittsprämie (BS, 6’156.– .-) jemand ein Versicherungsmodell gefunden hatte, das nur 1156.-/Jahr bzw. 96.30 im Monaten kostete und somit 5000-. «herausbekommen» konnte.

Doch egal, wenn kümmern schon die Details, wenn es um Sozialschmarotzer geht. Die NZZ rechnete vor:

Die CSS musste im letzten Jahr 9 Millionen Franken überschüssige Subventionen an 30’000 Versicherte auszahlen. Die Helsana zahlte 9 bis 10 Millionen an rund 25’000 Versicherte, die KPT 3,7 Millionen an 6’520 Versicherte, die Swica knapp 3 Millionen an 10’000 Prämienzahler, bei der Groupe Mutuel waren es rund 2 Millionen. Auf die ganze Schweiz hochgerechnet, dürften sich die Subventionsüberschüsse auf mindestens 50 Millionen summieren.

Kleine Zwischenbemerkung: Im Jahr 2014 hat die EL knapp 310’000 Personen die Krankenversicherungsprämie vergütet. Teilt man den – geschätzten – Subventionsüberschuss von 50 Millionen durch diese Zahl, macht das im Schnitt pro EL-Bezüger·in einen kleinen «Gewinn» von 161.- pro Jahr – nicht pro Monat.

Die 161 Franken pro Jahr bzw. 13.40 pro Monat, die sich jede/r EL-Beziehende im Schnitt ungerechtfertigerweise unter den Nagel riss, konnten natürlich nicht geduldet werden. Deshalb reichte der heutige Bundes- und damalige FDP-Nationalrat Ignazio Cassis mit Bezug auf den NZZ-Artikel die Motion «Krankenversicherung. Keine Prämiengeschenke vom Staat» ein, in der er forderte, dass im Rahmen der kommenden EL-Reform Bezüger·innen von Ergänzungsleistungen nicht eine höhere Prämienverbilligung ausbezahlt wird, als die effektiven Kosten der Krankenkassenprämien betragen. Zudem sollte die zulässige Prämienhöhe möglichst weit nach unten nivelliert werden.

Dazu meinte der Bundesrat:

Eine Ausrichtung nach der tiefsten möglichen Krankenkassenprämie würde zudem zu einer Konzentration der EL-Beziehenden bei einer einzigen Krankenkasse in jedem Kanton führen. Diese müsste in der Folge ihre Prämie anpassen. Damit wäre diese Krankenkasse nicht mehr die günstigste, was die EL-Beziehenden wiederum zum Wechsel der Krankenkasse zwingen würde. Die Folgen wären entsprechende administrative Mehrkosten für die Krankenkassen.

15.3465 Motion. Krankenversicherung. Keine Prämiengeschenke vom Staat

Also Billigkassen für für EL-Bezüger·innen wären an sich völlig ok – aber die «administrativen Mehrkosten» durch das ständige Wechseln könnte man den armen, armen Krankenkassen nun wirklich nicht zumuten.

Im Bezug auf den NZZ-Artikel hielt der Bundesrat ausserdem noch fest:

Ein gewisses Einsparpotenzial könnten die EL-beziehenden Personen erzielen, indem sie eine höhere Franchise wählen. Allerdings gehen sie damit das Risiko ein, dass sie einen höheren Anteil an Krankheitskosten leisten müssen. Selbst so sind die im „NZZ“-Artikel vom 11. April 2015 aufgeführten Zahlenbeispiele aufgrund der jährlichen kantonalen Durchschnittsprämien nicht nachvollziehbar.

Die NZZ erwähnte in ihrem reisserischen Artikel natürlich mit keinem Wort, dass sich wirklich hohe Einsparungen bei den Prämien nur mit einer sehr hohen Franchise erzielen lassen und dass diese «Gewinne» – wie bei allen anderen Personen mit hohen Franchisen auch – im Fall von wider Erwarten eintretenden Krankheitskosten für deren Bezahlung eingesetzt werden müssen. Zudem ruderte die NZZ im Bezug auf die Höhe der angeblichen «Prämiengeschenke» deutlich zurück. Folgende Korrektur am Ende des Artikel wurde allerdings erst mehrere Monate(!) nach dessen Veröffentlichung angebracht:

In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Prämienüberschuss von 5000 Franken in einem extremen Einzelfall genannt. Laut der zuständigen Krankenkasse wurde dieser Subventionsüberschuss 2014 tatsächlich an einen EL-Bezüger ausbezahlt. Aufgrund kritischer Reaktionen auf den NZZ-Artikel hat die Kasse den Fall nun noch einmal eingehend überprüft. Diese Überprüfung hat laut der Kasse ergeben, dass der zuständige Kanton ihr eine deutlich zu hohe Durchschnittsprämie gemeldet hatte. Deshalb zahlte die Kasse einen zu hohen Prämienüberschuss an den betroffenen EL-Bezüger aus. Auch ohne diesen Fehler hätte die Person laut Angaben der Kasse immer noch Anrecht auf einen Subventionsüberschuss in vierstelliger Höhe gehabt.

Später hinzugefügte Ergänzung zum am 11. April 2015 in der NZZ erschienenen Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat»

Doch das interessierte dann natürlich niemanden mehr.

Weniger Geld für EL-Bezüger·innen….

Die im September 2016 veröffentlichte Botschaft zur EL-Reform hielt fest:

Das Rückerstattungsverfahren zwischen dem Krankenversicherer und den EL-beziehenden Personen ist aufwändig und für letztere nicht immer nachvollziehbar. Die Übervergütung, welche durch die EL bei Personen mit einer tiefen Krankenversicherungsprämie vorgenommen wird, entspricht zudem nicht dem Charakter einer echten Bedarfsleistung. Dem soll künftig entgegengewirkt werden, indem den Kantonen die Berechtigung eingeräumt wird, in der EL-Berechnung nur noch die effektive Prämie zu berücksichtigen, falls diese unter der Durchschnittsprämie liegt. Dadurch können Übervergütungen und aufwändige Rückerstattungsverfahren verhindert und die Finanzflüsse transparenter gestaltet werden.

Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (EL-Reform) vom 16. September 2016

Ja mei, diese armen verwirrten EL-Beziehenden, die nicht verstehen, warum sie von den Krankenkasse Geld zurückerstattet bekommen – das muss man ganz dringend was dagegen machen! EL-Bezüger·innen, die schon vor der Gesetzesänderung EL bezogen, verstanden natürlich sehr wohl, warum sie Geld herausbekamen und konnten sich auch noch erinnern, wie man aufwändige Rückerstattungsverfahren vermeidet: Indem man den ganzen Pauschalbetrag einfach (wieder) – zusammen mit den restlichen EL-Leistungen – an die EL-Beziehenden auszahlt. Doch das war nach dem reisserischen NZZ-Artikel über die unerhörten «Prämiengeschenke vom Staat» keine Option mehr. Sowohl in der Botschaft als auch in den Vernehmlassungsantworten wurden verschiedene Varianten präsentiert, die meist ein Ziel hatten: Die EL-Beziehenden sollten weniger Geld bekommen.

Der einzig halbwegs intelligente Überlegung zur Variante «Berücksichtigung der effektiven Prämie» hatte der schweizerische Gewerbeverband in der Vernehmlassung formuliert:

Als eher zwiespältig beurteilt der SGV diese Lösung. Der Anreiz ginge verloren, eine günstige Krankenkasse zu wählen. Das könnt sogar kontraproduktiv sein. Ideal wäre ein System, bei welchem sich die öffentliche Hand und die EL-Bezüger die Differenz zwischen dem Pauschalbetrag und der tatsächlichen Prämien (sofern diese tiefer ist) aufteilen. Die Anreize seitens der EL-Bezüger könnten damit gewahrt werden und die öffentliche Hand könnte zumindest teilweise an den realisierbaren Differenzen partizipieren.

Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (EL-Reform), Zusammenfassung der Vernehmlassungsergebnisse (Ergebnisbericht), Bern, September 2016, Seite 44

Doch getreu dem inoffziellen Motto aller sozialpolitischen Gesetzgebungsprozesse der letzten Jahre («Denen zeigen wir’s jetzt aber, die müssen dann nicht meinen!») war eine Lösung, die den Betroffenen auch nur einen minimalen finanziellen Gestaltungsspielraum liess, für das Parlament schlicht unvorstellbar. Es wurde deshalb entschieden, dass EL-Beziehenden künftig nur noch die effektive Prämie vergütet werde, höchstens jedoch (wie vorher) die kantonale beziehungsweise regionale Durchschnittsprämie. Man hatte zwar auch mit möglichst tiefen «Höchstprämien» geliebäugelt, doch wie der Bundesrat bereits in seiner oben zitierten Antwort auf die Motion Cassis ausführte, würde das zur Klumpenbildung der EL-Bezüger·innen bei den günstigsten Kassen führen, die dann wegen der bei alten und kranken Menschen naturgemäss hohen Krankheitskosten ihre Prämien erhöhen müssten, was dann ein aufwendiges jährliches Ringelreihen zur jeweils neuen günstigsten Krankenkasse zur Folge hätte.

…. mehr Geld für den Staat die Krankenkassen

Kurz bevor die EL-Reform auf Anfang 2021 in Kraft trat, berichtet der Tagesanzeiger im Oktober 2020 über die bevorstehenden Änderungen, unter anderem auch über jene bei den Krankenkassenprämien:

Nach heutigem Recht haben EL-Bezüger Anspruch auf eine Pauschale für die Krankenkassenprämie. Sie entspricht dem Betrag der kantonalen oder regionalen Durchschnittsprämie. Ist die eigene Prämie tiefer, bekommt man die Differenz ausbezahlt. Damit ist nun Schluss. Neu wird nur noch die effektive Prämie angerechnet, höchstens bis zum Betrag der Durchschnittsprämie. Für EL-Bezüger·innen lohnt es sich somit nicht mehr, eine besonders günstige Kasse oder ein Sparmodell zu wählen, bestätigt BSV-Juristin Nadine Schüpbach.

Mehr Geld für die Miete, strengere Regeln beim Vermögen, Tages Anzeiger 12.10.2020

Man musste wirklich keine Quantenphysikerin sein, um schon Jahre im Voraus zu wissen, dass der Anreiz, ein Versicherungsmodell zu wählen, welches nur Einschränkungen (z.B. keine freie Arztwahl) aber keinen finanziellen Vorteil verspricht, gleich null ist. Zudem wird niemand freiwillig eine höhere Franchise wählen, um seine Prämienkosten zu senken, wenn er oder sie wider Erwarten eintretenden Krankheitskosten selbst berappen muss, da die dafür im Notfall eingesparten Prämienrabatte ja von der EL einbehalten werden.

Der Anreiz hingegen, ein «so teuer wie mögliches» Prämienmodell mit Mindestfranchise und ohne Einschränkungen wählen, ist hoch. Und so landen die unerhörten 161.-/Jahr, welche jede/r EL-Bezüger·in 2014 im Durchschnitt durch geschickte Wahl des Krankenkassenmodells heraus erhielten, durch die gesetzlichen Änderungen nun nicht beim Staat, sondern eben dieser Staat überweist dieses Geld in Form von höheren Prämien jeweils pünktlich Ende November des Vorjahres vollumfänglich auf die Konten der Krankenversicherer.

Statt den geldgierigen EL-Beziehenden, denen man keinesfalls eine minimale finanzielle Selbstbestimmung und eigenständige Optimierungsmöglichkeiten zugestehen wollte, kassieren die wirklich bedürftigen Krankenversicherer nun also jährlich die 2014 von der NZZ berechneten 50 Mio. (und mittlerweile wohl noch deutlich höheren) «Prämiengeschenke vom Staat». Der NZZ Journalist Markus Häfliger schrieb damals:

Im heutigen System würden die EL-Bezüger «faktisch vorab bedient», hiess es im Papier. Ihre Subventionsüberschüsse fehlten dann für andere, vor allem für Familien.

«Vorab bedingt» werden nun also stattdessen die Krankenkassen, denn die haben das Geld offenbar noch viel nötiger als die von der NZZ pro forma in Feld geführten «bedürftigen Familien».

Aus völlig unerfindlichen Gründen fällt mir dazu ein Zitat aus einem Tagi-Artikel von 2018 ein. Es geht im Artikel um die Behandlung des Sozialversicherungsdektive-Gesetzes im Parlament, dürfte aber wohl weit darüber hinaus Allgemeingültigkeit haben:

Kuprecht sagt, ironiefrei: «Hätten alle Politiker in den Ausstand treten müssen, die bei einer Krankenkasse, einer Versicherung oder einer Pensionskasse ein Mandat haben, hätten wir das Gesetz gar nicht beraten können.»

Als wäre der Teufel hinter ihnen her, Tagesanzeiger 15.03.2018

EL-Reform: Der stille Wandel vom Versicherungs- zum Fürsorgesystem [1/4]

Während bei der Sozialhilfe und der Invalidenversicherung seit zwanzig Jahren durch skandalisierende Medienberichte befeuerte exzessive Missbrauchsfantasien die Grundlage für gesetzliche Verschärfungen bieten, liefen die Ergänzungsleistungen lange weitgehend unbemerkt unter dem öffentlichen und politischen Radar. Die Medien berichteten höchstens gelegentlich über eine bemitleidenswerte EL-Bezügerin im AHV-Alter, die sich kaum ein Getränk in einem Café leisten könnte. Warum dem so ist, blieb dem Publikum meist verbogen, denn die Medienschaffenden legten die zugrundeliegenden und oft sehr komplexen EL-Berechnungen kaum je nachvollziehbar offen (oder verstanden sie selbst nicht). Nur bei ganz, ganz genauem Nachrechnen (oder Nachfragen bei den Journalist·innen) offenbarte sich dann beispielsweise, dass die EL-Bezügerin in einer (zu) teuren Wohnung wohnte oder sich aufgrund einer schweren Erkrankung – verständlicherweise – eine Zusatzversicherung leistete.

Entgegen dem von den Medien vermittelten Bild sind die Ergänzungsleistungen (noch) etwas grosszügiger bemessen als die Ansätze in der Sozialhilfe und lassen den EL-Bezüger·innen auch mehr finanziellen Spielraum, indem ihnen unter anderem ein deutlich höherer Vermögensfreibetrag zugestanden wird als Sozialhilfebeziehenden. Allerdings wurde dieser Spielraum mit der letzten EL-Reform von der breiten Öffentlichkeit grösstenteils unbemerkt deutlich beschnitten. Die Missbrauchsdebatte wurde zwar nicht in der epischen Breite öffentlich geführt wie bei der IV oder der Sozialhilfe, doch in den 2015 veröffentlichen Vernehmlassungsunterlagen und in den folgenden Jahren im Parlament geführten Debatten zog sich ein latenter Missbrauchsverdacht auch bei den Ergänzungsleistungen wie ein roter Faden durch die Ausgestaltung der am 1.1. 2021 in Kraft getretenen EL-Reform. Im Vordergrund standen bei dieser Reform deshalb (einmal mehr) nicht die Bedürfnisse der betroffenen Personen, sondern vielmehr das Bedürfnis von Verwaltung und Politik, es «denen» zu zeigen («Die müssen dann nicht meinen!») bzw. zu demonstrieren, dass man «etwas tut» gegen möglicherweise möglichen Missbrauch und steigende Kosten.

Dazu beigetragen haben dürfte nicht unwesentlich, dass mittlerweile 50% der IV-Beziehenden auf EL angewiesen sind, während dies nur auf 12% der AHV-Beziehenden zutrifft. Zwar liegt die absolute Zahl der AHV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf mit 220’000 deutlich höher jene der IV-Bezüger·innen mit EL-Bedarf (122’000 Personen), aber wo «IV-Beziehende» (mit)draufsteht, muss ja «Missbrauch» drin sein. Aber auch der immer wieder gemunkelte Mythos, wonach manche Senior·innen angeblich in kürzester Zeit ihr Erspartes verjubeln würden, um danach Ergänzungsleistungen zu beziehen, hat die Gesetzgebung beeinflusst.

Obwohl EL-Beziehende, die in Institutionen wohnen (müssen), pro Person im Schnitt drei mal höhere Kosten verursachen, als EL-Beziehende, die zu Hause wohnen, fokussierte die EL-Reform zudem hauptsächlich auf die EL-beziehenden Personen selbst. Denen lässt sich nämlich viel einfacher «Missbrauch» unterstellen als den Institutionen. Und das heisse Eisen einer Pflegeversicherung musste auch nicht angefasst werden. Oder wie am 14.7.2023 im Tagesanzeiger zu lesen war:

Von 2000 bis 2021 haben sich die Ausgaben für Ergänzungsleistungen von 2,3 auf 5,4 Milliarden Franken mehr als verdoppelt. Der grösste Teil davon entfällt laut Michael E. Meier, Oberassistent und Experte für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Zürich und Luzern, auf die Alterspflege im Heim. Somit kostet dies die Schweiz ungefähr gleich viel wie die gesamte Subventionierung der Landwirtschaft.
Ein Ende der Kostensteigerung ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, ist mit einem grösseren Kostenschub zu rechnen. Meier geht davon aus, dass es ab 2039 so weit ist. Er vergleicht dies mit der Titanic, die hinten am Horizont auftaucht, während die Politik ihren Fokus auf die Boje am Strand richte und einzelne Missbräuche bekämpfe.

«Die Rente reicht fast nie, um das Altersheim zu finanzieren», Tages Anzeiger 14.07.2023

Der Tagi-Artikel fokussierte (wie ungefähr gefühlt 95% der Medienberichte zu den Ergänzungsleistungen) ausschliesslich auf die AHV-Rentner·innen. Nur ganz selten – nämlich zum Beispiel dann, wenn plakativerweise junge schwerbehinderte Rollstuhlfahrer involviert sind, die mit den neuen Mietansätzen ihre WG-Zimmer nicht mehr bezahlen können (well, I told you so und zwar schon 2014) – wird ein kurzes öffentliches Blitzlicht darauf gerichtet, dass nicht nur AHV-, sondern auch IV-Beziehende (negativ) von der neuen EL-Gesetzgebung betroffen sind. Auch in der politischen/parlamentarischen Diskussion wurde grösstenteils schlicht vergessen, dass sich die jüngeren IV-Bezüger·innen in einer anderen Lebenssituation befinden, als betagte AHV-Beziehende. Ausser natürlich dort, wo um «Arbeitsanreize» ging und von rechtsbürgerlicher Seit wie eh und je argumentiert wurde, dass es sich für behinderte/chronisch kranke EL-Bezüger·innen keinesfalls «lohnen» dürfe, EL zu beziehen (statt zu arbeiten) und sie durch falsche finanzielle Anreize auch keinesfalls dazu animiert werden dürften, (zu viele) Kinder zu haben.

Merkwürdigerweise wurde auch von Behindertenorganisationen in der ganzen Diskussion um die Ergänzungsleistungen nie thematisiert, dass sich die Perspektiven von IV-Beziehenden oft auf Jahrzehnte erstrecken, während es bei AHV-Beziehenden um das Lebensende geht. Als einzige machte die damals noch an der HSG tätige Wirtschaftsprofessorin Professorin Monika Bütler 2018 während der laufenden politischen Diskussionen auf diesen Umstand aufmerksam:

Der Nationalrat möchte nun die Vermögensgrenze auf 100’000 Franken absenken und „übermässigen“ Verwendung des Kapitalbezugs aus der zweiten Säule mit einer 10% Strafkürzung auf den EL belegen. (In Klammern, aber wichtig: Es wäre besser gewesen, die Vermögensanrechnung bei EL zur IV anders zu behandeln als die EL zur AHV. Für die IV wäre eine höhere Vermögensgrenze angemessen, da es hier nicht um den Schutz der Nachkommen geht, sondern um die eigene künftige Lebensgrundlage der Versicherten.)

«Ergänzungsleistungen (EL) und Vermögen» Batz.ch, 11. September 2018

Bütlers Randbemerkung blieb allerdings ungehört und unbeachtet. Selbst Behindertenorganisationen stimmten vielen vordergründig «kleinen» Änderungen bei der EL-Reform ziemlich bedenkenlos zu, weil deren selbst nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesene Mitarbeiter·innen die Auswirkungen, die diese vermeintlich kleinen Änderungen auf die langfristigen Lebensperspektiven von IV-Beziehenden schlicht nicht erfassen konnten (oder für irrelevant hielten).

Seitdem die EL-Reform Anfang 2021 in Kraft trat, zeigt sich in der Praxis allerdings in immer mehr Bereichen, dass die gehässige Grundhaltung bei der Ausgestaltung («Denen zeigen wir’s jetzt aber») zu einer undurchdachten Gesetzgebung mit diversen unerwünschten Effekten führte, die man nun zum Teil behelfsmässig zu «flicken» versucht.

Da es zu ausufernd wäre, die EL-Reform in all ihren Details zu besprechen, möchte ich in den in der nächsten Zeit folgenden drei Artikeln auf einzelne Themenbereiche fokussieren, die den tiefgreifenden Systemwechsel bei den Ergänzungsleistungen besonders deutlich illustrieren:

1. Krankenkassenprämien

2. Mietzinsmaxima

3. Umgang mit dem Vermögen (Lebensführungskontrolle/Rückzahlungspflicht ect.)

Bei jedem dieser Themenbreiche wurden war von aussen gesehen nur kleine «kosmetische» Korrekturen vorgenommen, im Kern wurde aber durch all diese «kleinen Korrekturen» das System der Ergänzungsleistungen an jenes der Sozialhilfe angeglichen und die finanzielle Selbstbestimmung der EL-Beziehenden deutlich eingeschränkt. Das ist auch deshalb besonders stossend, weil Ergänzungsleistungen ursprünglich als Übergangslösung gedacht waren, bis AHV- und IV-Renten existenzsichernd wären. Die «Idee» war eigentlich, dass AHV- und IV-Beziehende gar nie auf Bedarfsleistungen angewiesen sein sollten, sondern Versicherungsleistungen erhalten sollten, über die sie frei verfügen können. Für jüngere Menschen mit einer IV-Rente, die jahrzehntelang auf EL-Leistungen angewiesen sind (und möglicherweise auch noch selbst ein kleines Erwerbseinkommen generieren, über das sie dann nur beschränkt selbst verfügen dürfen), sind die mit der EL-Reform beschlossenen Einschränkungen bei der finanziellen Selbstbestimmung zudem deutlich gravierender, als für Senior·innen, die erst beim Eintritt in ein Pflegeheim auf EL angewiesen sind, um die letzten Lebensmonate finanzieren zu können. Aber die ganz realen (und nicht nur theoretischen) Lebensbedingungen von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung waren im Gesetzgebungsprozess grösstenteils schlicht irrelevant.

Das BSV hält trotz 9 laufenden Strafverfahren an der PMEDA fest und PMEDA-Chef Mast diskreditiert in der Weltwoche Long-Covid-Betroffene

In der aktuellen Ausgabe der «Weltwoche» schreibt der Medical CEO der PMEDA AG, Henning Mast, unter dem Titel «Schweizer Woke-Medizin: Zeitgeistige Krankheitsdefinitionen belasten das Versicherungssystem. Das neuste Beispiel heisst «Long Covid» unter anderem Folgendes:

Der Dosis-Antwort-Effekt fordert eine zunehmende Häufigkeit von Beschwerden mit zunehmendem Schweregrad der Krankheit. Long-Covid-Syndrome hingegen scheinen von der Stärke der initialen Infektion weitgehend entkoppelt, kommen in vergleichbarer Häufigkeit bei banalen als auch bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen der initialen Erkrankung vor. Allein dies begründet in der Epidemiologie bereits Zweifel an einer plausiblen Kausalität.

In seinem Artikel zu Long Covid» beruft sich Mast auf keinerlei aktuelle Studien zu postviralen Erkrankungen, sondern äusserst einzig seine ganz persönlichen Ansichten. Aber mit den fachlichen Qualifikationen sieht es Mast generell nicht so eng: Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte Mast bereits 2019 die Bewilligung entzogen, neuropsychologische Gutachten zu erstellen. Grund war – wie der Blick berichtete – ein deutliches Urteil des St. Galler Versicherungsgerichtes:

Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologische Aus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundä­res Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primär aufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Mast darf allerdings fröhlich weiterhin «normale» neurologische Gutachten erstellen und obwohl gegen seine PMEDA mittlerweile neun Strafverfahren laufen, sieht das Bundesamt für Sozialversicherungen keinen Grund, die Vergabe von Gutachteraufträgen an die PMEDA einzustellen. Erst im Februar hat das BSV den Vertrag mit der PMEDA erneut verlängert. Denn es gälte, so Bundesrat Berset auf die kürzliche Anfrage von Nationalrat Christian Lohr, «die Unschuldsvermutung». Falls es in einem Strafverfahren im Zusammenhang mit Begutachtungen zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommt, würde das BSV die Zusammenarbeit allerdings sofort beenden.

Auf die weitere Frage von Lohr, ob IV-Verfahren von Amtes wegen wieder aufgerollt werden, wenn rechtskräftig verurteilte Gutachtende daran beteiligt waren, antwortete Berset:

In Fällen, in denen Gutachten von strafrechtlich verurteilten Sachverständigen als Grundlage für einen Entscheid der IV dienen, wäre noch nicht erwiesen, dass diese Gutachten nicht ordnungsgemäss zustande gekommen und damit nicht beweiskräftig wären. Solche Fälle würden nicht von Amtes wegen aufgerollt, sondern es obläge den Versicherten, bei der zuständigen IV-Stelle ein Gesuch um Revision zu stellen, damit die IV-Stelle auf den rechtskräftigen Entscheid zurückkommen und allenfalls ein neues Gutachten einholen würde.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte übrigens schon einmal jahrelang an einer obskuren Gutachterstelle festgehalten:

Erwähnt wird verschiedentlich der Genfer Corela-Fall.* Dieser habe gezeigt, dass es selbst bei gefälschten Gutachten extrem lange gedauert habe, bis das BSV aktiv geworden sei. Diese Kritik wird auch versicherungsintern geäussert. Obwohl eine IV-Stelle selbst diese Gutachterstelle (Corela) bereits Jahre zuvor von ihrer Liste für mono- und bidisziplinäre Gutachten gestrichen habe, sei sie aufgrund der Zufallszuweisung im Rahmen der polydisziplinären Gutachten gezwungen gewesen, diese wieder zu «akzeptieren».
*Im Fall der Genfer Klinik Corela sah es das Bundesgericht als erwiesen an, dass der Leiter des Instituts eigenmächtig Gutachten angepasst und Diagnosen geändert hat – zuungunsten der Versicherten (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember 2017 (2C_32/2017)).

Quelle: Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung (2020)

Der Nationalrat Christian Dandrès stellte im März dieses Jahres dem Bundesrat in diesem Zusammenhang einige Fragen:

Das Bundesgericht hat 2017 den Entzug der Betriebsbewilligung für die Corela-Klinik bestätigt. Die Entscheide, die auf einer Stellungnahme dieser Klinik beruhten, wurden aber nicht automatisch überprüft. Jede versicherte Person musste selbst ein Revisionsgesuch stellen.

  • Wie viele Erstgesuchen wurde infolge einer Stellungnahme der Corela-Klinik abgelehnt?
  • Wie viele Revisionsgesuche wurden eingereicht?
  • Wie viele Ablehnungen wurden vor Gericht gebracht und wie viele davon waren erfolgreich?
  • Haben die IV-Stellen gegenüber der Corela-Klinik und/oder den Verantwortlichen Wiedergutmachung geltend gemacht?

Die Antwort des Bundesrates existiert nur in französischer Sprache:

L’office fédéral des assurances sociales, dans le cadre de ses compétences, a suspendu sa collaboration avec la clinique Corela de manière préventive dès 2015. En 2018, l’OFAS a résilié formellement la convention tarifaire. L’examen des cas concrets relevaient de la compétence des offices Al, respectivement des tribunaux devant lesquels des cas étaient pendants. La collaboration avec la clinique Corela ayant cessé, l’OFAS n’a pas confié le mandat aux offices Al de collecter les données demandées. Le Conseil fédéral ne disposé donc pas de ces statistiques.

Ungefähre Übersetzung:

Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat im Rahmen seiner Kompetenzen die Zusammenarbeit mit der Corela-Klinik ab 2015 präventiv ausgesetzt. Im Jahr 2018 kündigte das BSV den Tarifvertrag formell auf. Die Prüfung der konkreten Fälle lag in der Zuständigkeit der IV-Stellen bzw. der Gerichte, bei denen Fälle hängig waren. Da die Zusammenarbeit mit der Corela-Klinik beendet wurde, erteilte das BSV den IV-Stellen keinen Auftrag zur Erhebung der verlangten Daten. Der Bundesrat verfügt daher nicht über diese Statistiken.

Statt dafür zu sorgen, dass die Versicherten von kompetenten und seriösen Gutachter·innen fair abgeklärt werden, lässt das BSV nun also zum wiederholten Mal ein obskures Gutachterinstitut weiterhin gewähren und falls es sich – wieder – herausstellen sollte, dass es tatsächlich «Unregelmässigkeiten» gab, stellt das BSV nicht einmal sicher, dass die Betroffenen automatisch ein seriöses Verfahren bekommen, geschweige denn, dass das Ausmass des an den Versicherten ausgeübten Betruges irgendwie erfasst oder untersucht würde.

Wie «fachlich fundiert» die PMDEA von Henning Mast Versicherte mit postviralen Erkrankungen begutachtet, kann man übrigens nicht nur seinem Weltwocheartikel entnehmen, sondern auch einem Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts (IV 2019/26), in dem auch folgende Einschätzung der PMEDA erwähnt ist:

Das „Chronic Fatigue Syndrom“ repräsentiere ein paramedizinisches Konstrukt ohne eine schulmedizinische Anerkennung und ohne eine biologisch verstandene morphologische Basis. Auch habe sich bei der Versicherten keine Grunderkrankung herausarbeiten lassen, auf deren Basis es zu einer raschen körperlichen und kognitiven Erschöpfung kommen könnte.

Weiter:

Der RAD-Arzt Dr. I._ notierte am 28. Januar 2016 (IV-act. 84), der von der Versicherten beklagte Gesundheitsschaden habe im Rahmen der Begutachtung durch die PMEDA nicht erhoben werden können.

Wer also als Versicherte/r mit einem postviralen Krankheitsbild wie Long Covid von der PMEDA begutachtet wird, trifft nicht auf fachlich kompetente Ärzt·innen, sondern auf Mediziner·innen, die einem im besten Fall für eine Hypochonderin und im schlechtesten Fall für einen Betrüger halten. Und wie obiges Beispiel zeigt, ist dies auch ganz im Sinne der IV sowie der Gerichte.

In einem anderen Urteil (allerdings das ABI betreffend) hatte das St. Galler Versicherungsgericht einmal folgendes festgehalten:

Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich.

Lassen wir das – einmal mehr – so stehen. Aktuell laufen in Deutschland übrigens Ermittlungen gegen 12 bei der Schweizer PMEDA tätige Ärzt·innen. Der Vorwurf: Steuerbetrug.

Weiterführend:

Neun Strafanzeigen gegen Gutachter-Firma (Kassensturz, 30.5.2023)

Steuerbetrug: Schwere Vorwürfe gegen deutsche «Flugärzte» (Correctiv, 30.5.2023)

12 Vorstösse zur PMEDA im Schweizer Parlament

Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode – Special Edition: ME/CFS und Long Covid (IV-Info, 4.11.2022)

Leitfaden «Arbeiten mit Psychischer Erkrankung» neu auch als schweizweite Version in deutsch, französisch und italienisch

Vor eineinhalb Jahren habe ich den Leitfaden «Arbeiten mit Psychischer Erkrankung» publiziert. Der Leitfaden, der sich an Betroffene richtet, wurde fachlich von den Stiftungen Rheinleben (BL) und Dreischiibe (SG), dem Zentrum für Arbeit und psychische Gesundheit WorkMed (BL) und der Psychiatrie St. Gallen, sowie finanziell von der Pro Mente Sana und den Kantonen St. Gallen und Basel-Stadt unterstützt. Entsprechend wurden zwei Versionen mit den lokalen Eingliederungsangeboten im jeweiligen Kanton erstellt.

In Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) wurde nun auch eine – leicht überarbeitete – gesamtschweizerische Version herausgegeben. Es gibt sie als gedruckte Version in Deutsch (bestellbar beim EBGB), sowie als barrierefreie PDF-Versionen in deutsch, französisch und italienisch.

Eine besondere Freude ist, dass die IV-Stellenkonferenz den IV-Stellen den Leitfaden offiziell zur Anwendung empfiehlt.

Die gedruckten Kantonsversionen können übrigens ebenfalls weiterhin gratis bei der Stiftung Rheinleben (Version «Basel») bzw. Dreischiibe (Version «St. Gallen») bestellt werden.

Links: Broschüre Basel-Stadt/St. Gallen. Rechts: Broschüre ganze Schweiz

Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern · Update 2023: Das BSV mag offenbar Märchen [3/3]

Es folgt nun der zweite Teil der Fragestellungen an das Bundesamt für Sozialversicherungen im Bezug auf den «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020». Aus Gründen der besseren Verständlichkeit habe ich die Fragen hier im Blog für die Leser·innen teils noch etwas erklärend ergänzt (beispielsweise mit den kommentierten Abbildungen in der Frage 6.):

6. Kürzlich wurden vom Bundesamt für Statistik die Statistiken zur stationären Behandlung von psychischen Störungen bei jungen Menschen veröffentlicht. Die Medien haben in ihrer Berichterstattung dazu auch verschiedentlich die steigende Zahl der jungen IV-Beziehenden mit psychischen Störungen thematisiert. So beispielsweise der Tagesanzeiger am 16.12.2022 unter dem Titel «Psychische Belastung treibt Junge zunehmend in die IV-Rente», wo folgende Grafik abgebildet war:

Aus dieser BSV-Statistik ist für die Öffentlichkeit weder ersichtlich, aufgrund welcher Erkrankungen die jungen Rentenbeziehenden mit psychischen Störungen eine IV-Rente beziehen, noch auf welche Krankheitsbilder die Zunahme zurückzuführen ist. Den Spitälern und damit dem BfS ist es im Gegensatz dazu offenbar problemlos möglich, differenzierte Diagnosen zu den Hospitalisationen zu erheben und zu publizieren:

In Forschungsbericht «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» (BSV, 2016) wurde anhand von Dossieranalysen festgestellt, dass bei jungen IV-Rentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten «Intelligenzminderung» die häufigste behinderungsrelevante Diagnose darstellt. Bei den 19-21-Jährigen beträgt dieser Anteil gar ein Drittel. Dies, obwohl das KSGLS für «Intelligenzminderung» eigentlich den Code 502 vorsieht, der natürlich nicht unter den «psychischen» Störungen gelistet ist. Die Gruppe der «jungen IV-Beziehenden mit psychischen Krankheiten» wird durch diese legere Zuteilungspraxis erheblich grösser gemacht, als sie tatsächlich ist:

Meine Fragen dazu:
6a) Sind bei einer solch erheblichen Vermischung von IV-Beziehenden mit einer psychischen Erkrankung mit solchen mit einer geistigen Behinderung die im Artikel 77 ATSG geforderten «aussagekräftigen» Statistiken noch gewährleistet?

BSV: Wir verweisen auf die obigen Antworten und den Stellenwert von Diagnosen im Rahmen des IV-Verfahrens. Bei der in Art. 77 ATSG erwähnten Berichterstattung geht es im Kern um die Berichterstattung der Durchführungsstellen an die Aufsichtsbehörden. Aufgrund der Fokussierung auf das Eingliederungspotenzial haben wir im Postulatsbericht auf den unserer Ansicht nach fehlenden Mehrwert einer verfeinerten Codierung der Gebrechen hingewiesen.

6b) Wäre es nicht angebracht, diese relevante Unschärfe bei einer häufig in der Öffentlichkeit diskutierten Gruppe (nämlich der der jungen IV-Beziehenden mit psychischen Krankheiten) in den von den Medien genutzten statistischen Daten deutlich auszuweisen?

BSV: Die Liste zur Codierung medizinischer Diagnosen infolge Krankheit oder Unfall wurde in den letzten Jahren nicht wesentlich angepasst. Das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die medizinische Diagnose auf einer allgemeinen Aggregationsstufe erfasst wird, für die keine kontinuierliche Anpassung notwendig ist. Die Codierungsliste für Diagnosen infolge Krankheit oder Unfall unterliegt kaum Veränderungen und hat somit den Vorteil der Stabilität. Sie ist für die Steuerung und Aufsicht der Versicherung ausreichend und geeignet, auch wenn sie keine Analyse und Auswertung von detaillierten Daten zu den medizinischen Diagnosen erlaubt. Sie kann hingegen jederzeit angepasst werden, wenn ein besonderer Bedarf besteht oder eine höhere Granularität erforderlich ist. Eine vordergründige Detaillierung bringt für die IV allerdings keinen Mehrwert mit sich. Selbst wenn Forschende in einer internationalen Klassifikation einen Vorteil sehen mögen, sind dann die eigentlichen Forschungsfragen massgebend.

Kommentar: Mich würde wirklich mal interessieren, wie dieser «besondere Bedarf» definiert ist, wenn für das BSV selbst eine mehrjährige Pandemie keinen ausreichenden Grund darstellt, um die Codierungsliste mit einen spezifischen Code für postvirale Erkrankungen bzw. «Long Covid» zu ergänzen.


7. Im erläuternden Bericht «Invalidenversicherung – 6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket» vom 17. Juni 2009 ist unter dem Titel «Gründe für die Renten- und Kostenzunahme zwischen 1993 – 2003» folgendes festgehalten:

Neue Formen psychischer Erkrankungen: Die Versicherung und ihre Akteure waren – und sind z.T. heute noch – nicht in der Lage, angemessen auf die starke Zunahme der psychischen Krankheiten zu reagieren, da es sich um neue Formen psychischer Erkrankungen handelt*, welche schwierig zu diagnostizieren sind und sich kaum objektivieren lassen.

*Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, generalisierte Angststörungen, Schleudertrauma, depressive Episode mit ihren verschiedenen Unterformen, Fibromyalgie, diffuses weichteilrheumatisches Schmerzsyndrom.

Wie war es dem BSV möglich, die Diagnosen so genau zu benennen, welche angeblich zur starken Zunahme bei den psychischen Erkrankungen und infolgedessen zum Kostenwachstum in der Invalidenversicherung führten, obwohl die erwähnten psychiatrischen Diagnosen über die Gebrechenscodes gar nicht detailliert erfasst werden?

BSV: Wie in der Botschaft ausgeführt, handelt es sich bei diesen Diagnosen um Krankheitsbilder, welche im Rahmen der Praxis aufgetaucht sind, und bei denen das Bundesgericht im Rahmen seiner Rechtsprechung entscheiden musste, inwieweit diese Erkrankungsformen eine Invalidität zu bewirken vermögen.

Kommentar: Die in der 6.-IV-Revision beschlossenen massiven Sparmassnahmen, welche vor allem Versicherte mit angeblich «unklaren» Krankheitbildern betrafen, basierten also nicht auf stabilen statistischen Grundlagen, sondern auf dem Bauchgefühl von Bundesrichtern? Gut ja, damit wäre dann auch erklärt, warum die vorgesehenen Eingliederungen von 17’000 IV-Beziehenden mit «unklaren» Beschwerdebildern aufgrund ihrer tatsächlichen Krankheitslast nicht mal ansatzweise klappte, wie der Tagi 2016 konstatierte:

Eine grosse Mehrheit der IV-Stellen beklagt in dem vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bestellten Bericht, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe». «Politik und Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wieder­eingliederung enorm überschätzt.»

IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit, Tages Anzeiger, 09.02.2016

Möglicherweise wären politische Entscheide, die sich auf fundierte und differenzierte Statistiken abstützen, etwas nachhaltiger und sinnvoller als solche, die «auf Bauchgefühlen» von märchenerzählenden Bundesrichtern und Politikern basieren.


8. Im Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020 wird festgehalten:

Selbst wenn Forschende in einer internationalen Klassifikation einen Vorteil sehen mögen, sind dann die eigentlichen Forschungsfragen massgebend. Für Forschungszwecke oder die Analyse von Einzelfällen ist das Studium der Versichertendossiers unerlässlich, um signifikante Ergebnisse zu erhalten.

Werden die mithilfe aufwendiger Dossieranalysen erstellten Forschungsresultate überhaupt wahrgenommen? Beispielsweise das Fazit der Forschenden, welche in der Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen (BSV 2009) festhielten:

Die nach IV-Code 646 Berenteten zeigen diagnostisch das gesamte Spektrum psychischer Störungen. Dies entspricht nicht der Kategorisierung der IV-Gebrechenscodizes, die für psychische Erkrankungen die Kategorien 641 bis 649 vorsehen, wobei unter anderem eigene Kategorien bestehen für schizophrene Erkrankungen, Alkoholerkrankungen, Polytoxikomanie, Minderintelligenz oder „Psychopathie“. Mit der Ausnahme bipolarer affektiver Störungen (manisch-depressive Erkrankungen), die in unserer Stichprobe fast nie vorkamen, sind aber alle Störungen teils in erheblicher Zahl vorhanden. (…)

Die unscharfe und fachlich überholte Kategorie zieht aber weitere Konsequenzen nach sich: Zum einen ist die Grenze zu anderen körperlich Restkategorien (IV-Code 738) unscharf, weswegen nicht bekannt ist, in wie weit der Anstieg der psychisch bedingten Berentungen auch mit veränderten Zuteilungsgewohnheiten in diese beiden Kategorien zusammenhängt. Zum anderen, und dies ist auch politisch von Bedeutung, wurde damit eine unscharf definierte Rentenkategorie erheblich grösser gemacht als sie tatsächlich ist. Ganz grob wäre bei gut 25% der 646-Berenteten eine andere Kategorisierung zumindest denkbar gewesen. Erkrankungen wie beispielsweise eine paranoide Schizophrenie oder Geburtsgebrechen wie Minderintelligenz gehören hingegen sicher nicht in diese Gruppe. Da gerade der 646-Kategorie die Meinung anhaftet, es handle sich überwiegend um nicht objektivierbare Krankheiten, verstärkt die unscharfe Abgrenzung der Kategorie und die zu häufige Zuteilung die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen als Befindlichkeiten ohne Krankheitswert. Die hier vorliegenden Resultate zeigen demgegenüber, dass es sich bei der starken Zunahme der 646-Renten um eine Zunahme meist klar beschreibbarer Krankheitsbilder handelt.

Wenige Monate nach der Veröffentlichung des obigen zitierten Forschungsberichtes antwortete der Bundesrat (also das BSV) auf die Motion Cassis («IV-Sanierung. Druck muss aufrechterhalten bleiben») nämlich folgendes:

Für ihn ist aber bereits jetzt klar, dass angesichts des Auftrages des Parlamentes Massnahmen insbesondere in denjenigen Bereichen unumgänglich sind, in denen die Kosten im Verlaufe der letzten Jahre besonders stark angestiegen sind. Dazu gehören in erster Linie die Berentungen aufgrund der schwer definierbaren psychischen Störungen (Kategorie 646).

BSV: Ausgangspunkt der Forschungsprojekte im Rahmen des Forschungsprogramms zur Invalidenversicherung sind die beiden klassischen Fragen evidenzbasierter Politik: Machen wir das Richtige? Und: machen wir es richtig?

In diesem Sinne geben die Ergebnisse und Erkenntnisse der Forschungsprojekte Hinweise darauf, inwiefern und in welche Richtung gesetzliche Grundlagen oder Weisungen angepasst werden sollen oder worauf bei der Aufsicht geachtet werden muss.Die Ergebnisse und Empfehlungen der genannten Studie «Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen» aus dem Jahr 2009 dienten unter anderem als Grundlage für die Verstärkung und Ausweitung der Massnahmen beruflicher Art und der Frühinterventions- und Integrationsmassnahmen für die Zielgruppe psychisch erkrankter Versicherter. Ebenso dienten die Resultate als Grundlage für die verstärkte Ausrichtung dieser Massnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt und die vermehrte Anwendung solcher Massnahmen in der Praxis. Generell haben die Forschungsprojekte – spezifisch diejenigen zu Profilen von Versichertengruppen und zur Wirkung von IV-Massnahmen – die Eingliederungsorientierung der IV be- und verstärkt.

Kommentar: «Nicht richtig» macht es das BSV meiner Meinung nach, wenn es in einer offiziellen Bundesratsantwort nach wie vor von «schwer definierbaren psychischen Störungen» spricht, obwohl der selbst in Auftrag gegebene Forschungsbericht diese laienhafte Vorstellung bereits klar widerlegt hat. Und wenn es damit die Grundlage für die politische Forderung nach der Aufhebung von 17’000 aufgrund angeblich «unklaren» Ursachen gesprochenen Renten legt und die Eingliederungen dann aber trotz enormem Verwaltungsaufwand nicht funktionierten (siehe mein Kommentar zu Frage 7) – macht es wohl eher nicht «das Richtige».


9. Ist sich das BSV bewusst, dass der Verzicht auf eine dem aktuellen Stand der Wissenschaft zumindest einigermassen angepasste Kategorisierung der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten als «unklar», «schwer objektivierbar», «Modekrankheiten» ect. Vorschub leistet und diese Stigmatisierung der Betroffenen deren angestrebte Eingliederung erschwert?

BSV: Ein Wechsel der Codierung vermindert unser Ansicht nicht das Risiko einer Stigmatisierung.

Kommentar: Warum wurde dann eigentlich die «Idiotie» in den letzten zwei Jahren aus dem Code 502 entfernt und mit «Intelligenzminderung» ersetzt, wenn neue Begrifflichkeiten sowieso nichts ändern?

Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern · Update 2023: Das BSV mag offenbar Märchen [2/3]

Wie im letzten Artikel ausgeführt, veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen im Dezember 2022 den «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020» und hielt in der zugehörigen Medienmitteilung fest:

Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.

Detailliertere Codierung: kein Mehrwert für Versicherte und IV, Medienmitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherungen, 09.12.2022

Die «Beweisführung» mittels derer das BSV im Bericht zum Schluss kommt, dass Versicherte mit psychischen Erkrankungen unbedingt weiterhin mittels der aus den 60er Jahren stammenden Codierung erfasst werden müssen, mäandert zwischen «abenteuerlich», «Arbeitsverweigerung» und «absurd».

Im Dezember 2022 habe ich deshalb einige Fragen ans BSV gerichtet, worauf ich im Februar 2023 die Antworten erhalten habe. Im Folgenden der erste Teil dieser Fragen, die Antwort des BSV, sowie mein jeweiliger Kommentar dazu:

1. Hält es das BSV für angemessen, im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) die Bezeichnungen «Idiotie» und «Psychopathie» zu verwenden?

BSV: Der Begriff Idiotie ist in der Tat veraltet. Im Rahmen einer kommenden Überarbeitung prüfen wir die Angemessenheit der Begriffe. Diese Arbeiten mussten angesichts der prioritären Gesetzesrevision zurückgestellt werden.

Kommentar: Zum Zeitpunkt der Einreichung des Postulates «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» im Juni 2020 wurde der Begriff «Idiotie» in den damals gültigen «Codes zur Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS-C)» an zwei Stellen verwendet:

Im Kapitel über die psychischen Störungen («XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen») als Querverweis:
649  Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen), Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI

Und am Zielort des Verweises («XXI. Angeborene Leiden ausserhalb des Anhangs GgV):
502 Oligophrenie (Idiotie, Imbezillität, Debilität, siehe auch Ziff. 403).

Was ich zur Zeit der Fragestellung an das BSV im Dezember 2022 nicht realisierte: Seit der Einreichung des Postulates zur differenzierten Codierung im Jahr 2020 ist die «Idiotie» auf wundersame Weise aus dem Code 502 verschwunden und hat der «Intelligenzminderung» Platz gemacht. Im aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS) sieht der Code 502 nämlich so aus:

502 Angeborene Intelligenzminderung

Im Kapitel über die psychischen Krankheiten ist der Verweis auf die Idiotie» aber immer noch vorhanden. Der Forderung von Inclusion Handicap für zeitgemässe Begriffe für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde also an entsprechender Stelle offenbar ohne grossen Aufhebens Folge geleistet (womit sich das «Interesse» von Inclusion Handicap am Vorstoss dann auch erledigt hatte), während das ganze Psychokapitel nicht angefasst wird und buchstabengetreu in den 60er Jahren verhaftet bleiben muss. Und dies, egal, wie absurd das im Detail ist, wie der Kommentar zur nächsten Frage zeigt:

2. Welche medizinischen Diagnosen werden unter dem Begriff bzw. Code «Psychopathie» kategorisiert?

BSV: Definitionsgemäss wird unter einer Psychopathie eine schwere Form der antisozialen (od. dissozialen) Persönlichkeitsstörung im Sinne eines weitgehenden oder völligen Fehlens von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen, verstanden. In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten.

Kommentar: Das hat der/die BSV-Mitarbeitende sehr schön aus Wikipedia abgeschrieben. Gibt ein Sternli! Aber hat es beim Abschreiben von «In den Klassifikationen DSM-5 und ICD-10 ist Psychopathie als Diagnose nicht enthalten» nicht zumindest ein bisschen geklingelt? Es ist zudem äusserst skurril, dass für eine einzelne ganz spezifische Form der Persönlichkeitsstörung die (veraltete und heute oft als Schimpfwort benutzte) Kategorie «Psychopathie» existiert, während alle anderen Persönlichkeitsstörungen irgendwo im grossen Nirvana der Sammelkategorien «646» (Psychogene oder milieureaktive Störungen) oder «649» (Übrige geistige und charakterliche Störungen) verschwinden.

3. Die psychischen Gebrechen werden mit neun der knapp 300 Gebrechenscodes erfasst. Eine detaillierte Codierung der psychischen Gebrechen böte laut Bericht keinen Mehrwert. Welchen Mehrwert bietet die detaillierte Erfassung der körperlichen Gebrechen mit den restlichen ungefähr 290 Gebrechenscodes?

BSV: Diese Codierung ist zu weiten Strecken historisch bedingt. In den letzten Jahren wurden auch die Codierungen bei körperlichen Gebrechen nicht erweitert. Seit die IV als Eingliederungsversicherung positioniert worden ist, haben die Diagnosen ihren Wert nur im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen. Wesentlich ist – wie im Postulatsbericht hervorgehoben – die Sicht auf das Potenzial der versicherten Personen.

Kommentar: Die Aufgabe einer IV-Statistik liegt nicht darin, das «Potential» der Leistungsbeziehenden abzubilden, sondern die Gründe für deren Leistungsbezug. Und diese lassen sich zwar nicht direkt, aber zumindest indirekt auf eine zugrundeliegende Erkrankung/Behinderung zurückführen.

Aktuell will die Öffentlichkeit vom BSV auch nicht wissen, «dass Long Covid-Betroffene ganz viel Potential haben», sie will wissen, wieviele Betroffene sich bei der IV anmelden mussten und wieviele davon schliesslich Leistungen erhalten. Als ich Anfang 2021 beim BSV nachfragte, sah man noch keine Notwendigkeit für Long Covid einen spezifischen Code einzuführen. Erst aufgrund des (ebenfalls von mir angeregten) parlamentarischen Vorstosses «Monitoring IV-Beziehende mit Long Covid» im März 2021 bequemte sich die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) schliesslich dazu, die entsprechenden Anmeldungen und Leistungszusprachen zumindest mittels einer Excel-Tabelle(!) zu erfassen. Ohne eindeutige Codierung ist die Nachverfolgbarkeit der Wege, den die Versicherten durch das IV-System nehmen, aber nicht gewährleistet. Der Witz ist: Codiert werden die Versicherten im IV-System natürlich trotzdem, einfach mit irgendeinem Code. Und dieser Code dürfte im Fall von Long Covid nicht selten der «irgendwas psychisches halt» Code 646 sein. Statistische Verzerrungen sind also vorprogrammiert.

Und was das «historisch bedingt» betrifft: Diese Argumentationslinie kennen wir vom BSV bereits von anderer Stelle. Interessant daran ist einfach, dass sich dieses «historisch bedingt» rein zufällig immer zum Nachteil von Versicherten mit psychischen Erkrankungen auswirkt (die mittlerweile immerhin 50% der IV-Beziehenden ausmachen). Und diese Nachteile lassen sich zudem leider leider niemals beheben, wie auch dieser Ausschnitt aus einem WOZ-Artikel vom letzten Herbst zeigt:

Die Blindenorganisationen erhalten pro Jahr 20 Millionen Franken, das Geld wird über den Dachverband SZBlind verteilt. Nur Pro Infirmis – die Dachorganisation, die alle Menschen mit Beeinträchtigungen vertritt – erhält mehr. Pro Mente Sana, der Dachverband, der sich spezifisch um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kümmert, erhält jedoch nur 2,7 Millionen Franken. Warum das so ist, lässt sich kaum ergründen. «Diese Verteilung ist auch historisch bedingt und kann deshalb nicht angepasst werden, weil die aktuellen Rechtsgrundlagen momentan keine entsprechende (andere) Verteilung vorsehen. Wie damals die genaue Zuteilung erfolgte, kann ich Ihnen nicht sagen», teilte der Verantwortliche beim Bundesamt für Sozialversicherungen der WOZ mit. Die Gelder sind enorm wichtig, aber es fragt sich, ob der Verteilschlüssel noch zeitgemäss ist.

Man ist geneigt zu fragen: Ist das eigentlich noch ein Bundesamt oder schon ein historisches Museum?

4. Was spricht dagegen, die neun bestehenden psychischen Gebrechenscodizes mit den zehn ICD Kategorien F0 – F9 (ohne deren Unterkategorien) zu ersetzen? Das wäre keine grosse Veränderung, aber die Zuteilung aufgrund der Hauptdiagnose nach ICD wäre einfach, zweckmässig und zumindest ein bisschen präziser.

BSV: Im Rahmen der Arbeiten am Postulatsbericht ist die Frage tatsächlich bereits abgeklärt worden. Wie oben beschrieben und im Postulatsbericht hervorgehoben, fokussieren die IV-Stellen auf das Potenzial der versicherten Personen. Die Diagnosen haben ihren Wert im Rahmen der ersten Schritte und Abklärungen der versicherungstechnischen Voraussetzungen. Sobald entschieden ist, dass eine versicherte Person Anrecht auf Leistungen der IV hat, konzentrieren sich die IV-Stellen auf das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person. Vor diesem Hintergrund haben wir darauf verzichtet, die Codierung auch auf einer höheren Aggregationsstufe anzupassen, da sie in der Folge keinen echten Mehrwert für die Arbeit der IVST bieten würde.

Kommentar: Auf der Webseite der IV-Stelle Bern ist unter «Ein guter Arztbericht enthält folgende Punkte» auch folgender Punkt aufgeführt:

Diagnose nach ICD 10, nachvollziehbar darlegen, auf welchen Befunden die Diagnose gründet

Die Diagnosen werden im IV-Verfahren also sowieso erhoben, warum diese Diagnosen(n) nicht direkt im System erfasst werden, sondern nach einem 60 Jahre alten Codierungs-System «umgedeutet» und unkenntlich gemacht werden, ist nicht nachvollziehbar. Das BSV kann noch so oft wiederholen, dass die IV-Stellen «auf das Potential fokussieren», das «Eintrittsticket» für IV-Leistungen bleibt trotzdem die Diagnose. Ohne Diagnose gibt es nämlich keine Leistungen. Was übrigens auch der Leiter der IV-Stelle Graubünden Thomas Pfiffner kürzlich in der Radiosendung Fokus mit dem Titel «Ist Long Covid ein Fall für die IV?» zugeben musste.

5. Im Bericht werden die RELY-Studien erwähnt, wonach die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit von Personen mit psychischen Einschränkungen mit Unsicherheiten behaftet sei. Ist dem BSV bekannt, welche Reliabilität Gutachter bei somatischen Einschränkungen erreichen?

BSV: Es liegen keine Forschungsarbeiten zu dieser Thematik vor, so dass das BSV über keine entsprechenden Daten verfügt.

Kommentar: Die RELY-Studien des Universitätsspitals Basel zeigten auf, dass verschiedene psychiatrische Gutachter·innen die Erwerbsfähigkeit bei denselben Fällen/Personen mit psychischen Erkrankungen teils sehr unterschiedliche einschätzten. Die Studien werden gerne herangezogen, um mehr oder weniger subtil aufzuzeigen, dass bei psychischen Erkrankungen weder die Betroffenen, noch die Gutachter·innen, noch die Diagnosen verlässlich, klar oder glaubwürdig sind. Oder wie hier vom BSV immer wieder betont wird: «Psychiatrische Diagnosen sind sowieso nicht aussagekräftig.»

Oft wird auch (beispielsweise von beweisfetischistischen Juristen) ex- oder implizit der Vergleich zu körperlichen Krankheiten gezogen, bei denen sich die Erwerbsfähigkeit angeblich völlig klar und quasi «automatisch» aus den Befunden (ergo der Diagnose) ergeben würde. Diese Behauptung wird aber interessanterweise nie mit entsprechenden Studien über die Reliabiliät von Gutachten bei körperlichen Erkrankungen untermauert. Es wird einfach behauptet, dass es so ist. Und selbst wenn die RELY-Studien auch die Begutachtung von körperlichen Krankheiten einbezogen hätten und dabei eine grössere Übereinstimmung zwischen den Gutachter·innen ausmachen hätten können als bei den psychischen Erkrankungen, hätte sich die Frage gestellt, ob die von den Gutachter·innen in Übereinstimmung attestierten Erwerbsfähigkeiten den «tatsächlichen» Erwerbsfähigkeiten entsprechen, oder ob sie nicht vielmehr jenen Grad der Erwerbs(un)fähigkeit abbilden, von dem Betroffene, Gutachter·innen und die Öffentlichkeit stillschweigend übereingekommen sind, dass sie im Fall der sichtbaren und offensichtlichen körperlichen Behinderung «angemessen» ist.

Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern · Update 2023: Das BSV mag offenbar Märchen [1/3]

Vor drei Jahren publizierte ich eine dreiteilige Artikel-Serie mit dem Titel «Das Märchen von den unklaren Beschwerdebildern». Im ersten Teil zeigte ich auf, wie jahrzehntelang von verschiedenen Seiten felsenfest, aber ohne jegliche objektivierbare Beweisgrundlage behauptet wurde, früher hätte es keine psychischen Erkrankungen gegeben, die IV sei deshalb gar nie für Menschen mit psychischen Erkrankungen «gedacht» gewesen und das Defizit der IV rühre vor allem daher, dass immer mehr Menschen mit unklaren/psychischen Beschwerdebildern absolut ungerechtfertigterweise IV-Renten bezögen.

Im zweiten Teil wird anhand der Masterarbeit der Historikerin Daniela Jost nachgezeichnet, dass der Gesetzgeber entgegen anderslautenden Behauptungen bei der Einführung der IV sehr wohl anerkannte, dass auch psychische Erkrankungen die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen können. Belegt ist das unter anderem mit einer Abbildung aus dem Kreisschreiben von 1965, das die damalige Klassifizierung der psychischen Erkrankungen durch das BSV zeigt (jede Leistungszusprache wird bei der IV mit einem entsprechenden «Gebrechenscode» versehen):

Quelle: Bundesamt für Sozialversicherung 12.1965 – Kreisschreiben über die Durchführung der Gebrechensstatistik in der Invalidenversicherung, 12.1965 (Abbildung aus der Masterarbeit von Daniela Jost)

Im Vergleich mit dem aktuell gültigen Kreisschreiben über die Gebrechens- und Leistungsstatistik fällt auf, dass das BSV die Codierung der psychischen Krankheiten seit 1965 (abgesehen von einigen kosmetischen Details) kaum verändert hat:

XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
641 Schizophrenie
642 Manisch-depressives Kranksein (Zyklothymie)
643 Organische Psychosen und Leiden des Gehirns
644 Übrige Psychosen (seltenere Fälle, die nicht unter 641–643 bzw. 841–843 eingereiht werden können, wie Mischpsychosen, sog. schizoaffektive Psychosen, Pfropfschizophrenie usw.); Involutionsdepressionen
645 Psychopathie
646 Psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline cases (Grenzbereich Psychose – Neurose); einfache psychische Fehlentwicklungen z.B. depressiver, hypochondrischer oder wahnhafter Prägung; funktionelle Störungen des Nervensystems und darauf beruhende Sprachstörungen, wie Stottern; psychosomatische Störungen, soweit sie nicht als körperliche Störungen codiert werden
647 Alkoholismus
648 Übrige Süchte (Toxikomanie)
649 Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen)
Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI

Im dritten Teil der Artikelserie geht es darum, dass dieses veraltete und ungenaue Codierungssystem aus den 60er Jahren keine verlässlichen statistischen Grundlagen über die effektiven Leiden der IV-Beziehenden mit psychischen Erkrankungen liefert und deshalb ersetzt werden sollte. Speziell der Kraut- und Rübenkategorie «646», mit der rund die Hälfte die IV-Beziehenden mit einer psychischen Erkrankungen codiert ist, haftet die zwar durch eine Dossieranalyse (BSV 2009) schon lange widerlegte, aber trotzdem nicht totzukriegende Behauptung an, es handle sich dabei ausschliesslich um Versicherte mit unklaren/psychosomatischen/komischen Krankheitsbildern. Und weil auch weitere Kategorien wie «Übrige geistige und charakterliche Störungen» oder «Psychopathie» (Seriousely?) weder aussagekräftig noch zeitgemäss sind, kann über IV-Beziehende mit psychischen Erkrankungen aktuell nur soviel gesagt werden: «Uiuiui, das sind aber ganz schön viele. Woran die genau leiden? Tja, wissen wir nicht.»

Das ist natürlich eine super Grundlage für all jene, die gerne Märchen erzählen, um damit sozialpolitischen Diskussionen die gewünschte Richtung zu verleihen («Das sind doch alles Scheininvalide»).

Aber ein seriöses Bundesamt mit einer seriösen Statistikabteilung, das hat doch sicher ein Interesse daran, über die grösste Gruppe der IV-Beziehenden (50% aller IV-Bezüger·innen leiden an einer psychischen Krankheit) etwas seriösere statistische Grundlagen zu haben, als nur: «Uiuiui, ganz vielllll»?

Das von der Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter auf meine Anregung hin eingereichte Postulat «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen» in dem der Bundesrat beauftragt wird «zu prüfen, ob und wie die veralteten Codizes bei der Klassifikation von IV-Gebrechen durch ein differenzierteres und international anerkanntes System zu ersetzen sind» wurde jedenfalls 2020 vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und vom Nationalrat ohne Gegenstimme durchgewinkt. Der Bundesrat bzw. das BSV «prüft» also erstmal ausgiebig.

Soweit so gut. Das Problem an solchen Forderungen ist, dass sie von anderen Akteuren für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert werden können:

Inclusion Handicap: Nettere Begriffe für Menschen mit geistiger Behinderung

Der Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap, der eigentlich alle Menschen mit einer Behinderung vertreten sollte, in dessen Vorstand aber zum damaligen Zeitpunkt kein/e Vertreter·in der Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung sass, kommentierte den Vorstoss auf seiner Webseite äusserst eigenwillig. Inclusion Handicap schrieb:

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) benutzt heute ungenaue Codes aus den 1960er Jahren. Dabei kommen auch völlig überholte und nicht zeitgemässe «Gebrechen» wie «Idiotie» oder «Debilität» vor. Selbstredend zeigt dies auf: Die Klassifizierungen gehören dringend überarbeitet.

Obwohl der Vorstoss sich spezifisch darauf bezieht, dass die fehlenden statistischen Grundlagen vertieftes Wissen über die Versicherten mit psychischen Erkrankungen (Woran leiden sie? Welche Eingliederungsmassnahmen sind bei welchen Krankheitsbildern erfolgreich ect.) verunmöglichen, stellt Inclusion Handicap es so dar, als ob es einzig um etwas «nettere» Bezeichnungen von Versicherten mit einer geistigen Behinderung geht. Psychische Erkrankungen werden mit keinem Wort erwähnt.

Soviel zum Thema welche Formen der Beeinträchtigungen im Behindertenbereich eine Lobby haben – und welche nicht.

Avenir Suisse: Ein Kostendach für Eingliederungmassnahmen

Auch der von der Wirtschaft gesponserte Think Thank Avenir Suisse fand Gefallen am Vorstoss und schrieb dazu in seinem Papier «Eingliedern statt ausschliessen – Gute berufliche Integration bei Invalidität lohnt sich» (2021):

Damit wäre eine einheitliche Anwendung der Codierung innerhalb der IV sichergestellt, die Transparenz innerhalb und zwischen den IV-Stellen erhöht und die Suche nach erfolgreichen Eingliederungspraxen je nach Krankheitsbild vereinfacht. Damit könnte auch die Entwicklung mancher psychischen Krankheiten über die Zeit verfolgt und Eingliederungsangebote entsprechend angepasst werden.

Der Pferdefuss daran ist, dass der Vorstoss bei Avenir Suisse deshalb so gut ankommt, weil er perfekt zur Hauptforderung im entsprechenden Positionspapier passt: Der ultraliberale Think Tank fordert nämlich ein Kostendach pro IV-Stelle. Ist erst einmal im Detail ersichtlich, bei welchen Krankheitsbildern sich Eingliederungsmassnahmen nur selten «lohnen», würden kostenbewusste IV-Stellen Versicherten mit entsprechenden Diagnosen wohl kaum noch Massnahmen zusprechen.

Die Freiburger FDP-Ständerätin Johanna Gapany reichte im März 2022 dann noch das ganz offensichtlich von Avenir Suisse vorformulierte Postulat «Invalidenversicherung. Die Wiedereingliederung fördern» ein, in dem eben dieses Kostendach gefordert und ebenfalls auf den Vorstoss Suter Bezug genommen wird:

Mit dem Ziel, transparente Informationen über die Gründe für Arbeitsunfähigkeit zu erhalten und die geeigneten Wiederngliederungsmassnahmen zu ermitteln, ist landesweit eine Nomenklatur einzuführen, nach der die psychischen Krankheiten, die zu einer IV-Rente berechtigen, einheitlich bezeichnet werden (z. B. ICD-10-Nomenklatur).

Bei der Formulierung «psychischen Krankheiten, die zu einer IV-Rente berechtigen» dürften sämtliche BSV und IV-Jurist·innen mit den Augen rollen, da nicht die «Diagnosen» an sich, sondern die Auswirkungen der Krankheit auf die Erwerbsfähigkeit für eine Leistungszusprache relevant sind. Auch der Bundesrat fand insgesamt wenig Gefallen am Postulat von Gapany Avenir Suisse und empfahl es zur Ablehnung. Der Ständerat folgte dem Bundesrat jedoch nicht und nahm das Postulat im Juni 2022 an.

Sollten sich die Forderungen von Avenir Suisse tatsächlich irgendwann in der Praxis niederschlagen, ist zu hoffen, dass für die «Best Practices» zumindest die tatsächliche und nachhaltige Eingliederung mit einem mindestens existenzsicherndem Einkommen als Massstab genommen wird und nicht die eher primitive Definition von Avenir Suisse:

Die Wirkung einer beruflichen Massnahme lässt sich daran messen, ob ein Bezüger danach eine Rente erhält oder nicht.

«Eingliedern statt ausschliessen – Gute berufliche Integration bei Invalidität lohnt sich», Avenir Suisse 2021, Seite 42.

Kommen wir nun zurück zum versprochenen Bericht über die «Differenzierte Codierung von IV-Gebrechen», die der Bundesrat unterdessen «geprüft» hat:

Der Bundesrat stellt keinen Handlungsbedarf fest

Ende 2022 veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen nach mehr als zweijähriger Prüfung den 15-seitigen «Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Suter 20.3598 vom 11. Juni 2020» dessen Fazit der Bundesrat übernimmt und damit zu folgendem Schluss kommt:

Die bestehenden Gebrechenscodes durch eine differenzierte, international anerkannte Klassifikation zu ersetzen, bringt weder für die Versicherten noch für die Steuerung der Versicherung eine Verbesserung. An seiner Sitzung vom 9. Dezember 2022 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht dazu und stellt keinen Handlungsbedarf fest.

Detailliertere Codierung: kein Mehrwert für Versicherte und IV, Medienmitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherungen, 09.12.2022

Im Bericht wird in bestem Sozialarbeitersprech festgehalten:

Das zeigt klar, dass allein anhand der medizinischen Diagnose weder das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person noch die geeignetste Eingliederungsmassnahme bestimmbar sind. Jede versicherte Person verfügt über ein individuelles Potenzial und eigene Fähigkeiten.

Klingt ganz bezaubernd, aber Menschen die IV-Leistungen beziehen, sind nicht wegen ihres «Potentials», auf eben diese Leistungen angewiesen, sondern wegen erheblicher Defizite, die ihre Erwerbsfähigkeit einschränken. Die Aufgabe einer IV-Statistik (und darum dreht sich das Postulat schwerpunktmässig) liegt nicht darin, abzubilden, welche «Potentiale» die IV-Beziehenden haben.

Und was das BSV schliesslich als Hauptargument gegen eine differenzierte Codierung vorbringt, war gar nie die Absicht des Postulats Suter (aber halt von Avenir Suisse):

Ein Gebrechen (medizinische Diagnose) systematisch mit der zugesprochenen Leistung zu verknüpfen, ist widersprüchlich und gefährdet Ziel und Zweck der IV.

Im Postulat Suter wurde das nicht gefordert; dort geht es vielmehr um statistische und forscherische Belange, die für die Weiterentwicklung der IV sinnvoll wären:

Eine statistische Erfassung nach ICD würde Aufschluss über die effektiven Diagnosen, deren Anteil und deren historische Entwicklung geben. Dadurch wäre es möglich, frühzeitig auf Entwicklungen im Bereich der psychischen Erkrankungen zu reagieren oder auch auszuwerten, welche Eingliederungsmassnahmen bei welchen Diagnosen besonders wirkungsvoll sind.

Wohlwollend könnte man sagen, dass das BSV mit seiner Weigerung, die Codierung zu präzisieren, die Forderung der Avenir Suisse nach einer Verknüpfung von Diagnose/Codierung und Wiedereingliederungspotential mit dem ganz offensichtlichen Ziel der Kostenminimierung vereiteln möchte.

Allerdings ist es kein Geheimnis, dass Eingliederungsmassnahmen bei Versicherten mit psychischen Erkrankungen insgesamt nur in 25% der Fälle «erfolgreich» verlaufen (Quelle: «Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten», BSV, 2018). IV-Stellen, die sich mit Kostenbewusstsein hervortun wollen, könn(t)en dies also schon heute tun, indem sie psychisch kranken Versicherten nur sehr selten Eingliederungsmassnahmen zusprechen (und sie natürlich gleichzeitig für «gesund» erklären).

Interpretiert man die Weigerung des Bundesamtes weniger wohlwollend, könnte man allerdings auch auf die Idee kommen, dass das BSV schlicht keine Lust hat, eine zeitgemässe Codierung zu erarbeiten. Oder dass im BSV ein paar ganz ganz grosse Märchenfans sitzen.