Ein depressiver Zombie soll für Pro Infirmis die Marke stärken und die Kasse klingeln lassen

Wo und in welcher Form das folgende Sujet einst genau zum Einsatz kam, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, da man bei der Pro Infirmis – mal wieder  – nicht geneigt ist, sich mit mir zu unterhalten (mehr dazu weiter unten):

PI_scheininvalidDie Abbildung stammt aus dem Buch «Invalidenversicherung und Behinderte unter Druck» (2005) und war als Antwort auf die Scheininvalidenkampagne der SVP offenbar einige Zeit im Umlauf. Die Darstellung signalisiert deutlich, von welcher Art eine Behinderung zu sein hatte, um von der Pro Infirmis vor zehn Jahren als unterstützungsbedürftig geadelt zu werden. Man wollte schliesslich auch den Gönnern und Spenderinnen implizit vermitteln, dass bei Pro Infirmis nur Behinderte mit Echtheitszertifikat in den Genuss der edlen Gaben kämen. Und nicht etwa die mit den komischen unsichtbaren Krankheiten.

Psychische Erkrankungen kommen langsam im Mainstream an

Seither hat sich einiges getan. Eine SVP-Exponentin hat öffentlich über ihr Burnout gesprochen, die Suizide verschiedener prominenter Personen im In- und Ausland haben das Thema psychische Erkrankungen immer wieder in den Fokus öffentlicher Diskussionen gerückt und der Anfang Jahr veröffentlichte OECD-Länderbericht Schweiz zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung erfuhr so grosse mediale Aufmerksamkeit, wie noch keine andere Studie zum Thema in der Schweiz je zuvor.

Man könnte also sagen, das Thema «psychische Erkrankungen» ist dabei, im sogenannten Mainstream anzukommen. Ein aus Sicht der Pro Infirmis offenbar idealer Zeitpunkt, um ihre diesjährige Kampagne dem Thema Depression zu widmen – schliesslich setzt man sich mit einem diesbezüglichen «Engagement» nun nicht mehr in die Nesseln, sondern entspricht damit dem Zeitgeist. Wenn der Mediensprecher der Pro Infirmis dann im Interview zum Kampagnenstart zum Besten gibt: «Eine psychische Behinderung ist unsichtbar, daher werden die Leiden dieser Patienten oft nicht ernst genommen.» und «Zudem hat die ganze politisierte Diskussion um so genannte «Scheininvalide» psychisch Beeinträchtigte in ein schräges Licht gerückt.» und man sich zu diesen Aussagen nochmal das eingangs angeführte Sujet von Pro Infirmis Erinnerung ruft, macht sich allerdings eine leichte innere Dissonanz breit.

Pro Infirmis als Advokat der psychisch Kranken?

Die Dissonanz wird auch nicht gerade kleiner, wenn man in der entsprechenden Medienmitteilung über die Zeile «Pro Infirmis ist Kompetenzzentrum für Fragen rund um Behinderung» stolpert. Wo genau, fragt man sich, liegt die Kompetenz der Pro Infirmis im Bereich «psychische Erkrankungen»? Vielleicht in den gerade mal acht Links, welche auf der Webseite der Pro Infirmis unter dem Stichwort «Psychische Behinderung» gelistet sind (und wovon im übrigen drei auf Artikel von mir/meinen Blog verweisen)?
Ich kann mich auch nicht erinnern, wann mir die Pro Infirmis jemals öffentlich als engagierter Advokat der Belange von Menschen mit psychischen Erkrankungen aufgefallen wäre. Auch an der kürzlichen Päusbonog-Tagung an der das Gutachten Henningsen vorgestellt und diskutiert wurde, glänzte die Pro Infirmis vor allem mit einem: Mit Abwesenheit (Während von der Procap gleich mehrere VerterterInnen teilnahmen). «Engagement» also erst dann, wenn man sich damit unbeschadet beliebt machen kann?

Der Club als Kulisse für den Launch der PI-Kampagne

Aber nun gut, kommen wir zur eigentlichen Kampagne bzw. ersteinmal zur Clubsendung, welche als Kulisse diente, um den Clip erstmals vorzustellen (So musste nicht mal teure Werbezeit beim Fernsehen gebucht werden, sondern der Clip wurde quasi als «native ad» in die Sendung eingebettet. Was seid ihr Werber doch clever!).

Im am 2. Dezember 2014 ausgestrahlten Club «Psychisch krank, fürs Leben gestempelt» diskutierten Simon Hofer und Vivianne Vinzens (beide selbst betroffen), Constantine Bobst (Präsidentin Vereinigung der Angehörigen psychisch Kranker), Niklas Baer (Leiter psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland) und Undine Lang (Klinikdirektorin Psychiatrische Universitätsklinik Basel). Den beiden Betroffenen Simon Hofer und Vivianne Vinzens ist es dabei hoch anzurechnen, dass sie bereit waren, über dieses persönliches Thema so offen im Fernsehen zu reden. Auch wenn es für Aussenstehende schlussendlich nie wirklich nachvollziehbar sein wird, was es bedeutet, psychisch krank zu sein, wurde dadurch doch zumindest ein tiefergehender Einblick ermöglicht. Das sehr wohlwollende Eingehen der Moderatorin und der weiteren DiskussionsteilnehmerInnen auf die Betroffenen vermittelte zwar zwischenzeitlich ein bisschen das Gefühl, einer öffentlichen Therapiesitzung beizuwohnen, aber das ist bei einem solch persönlichen Thema wohl kaum vermeidbar.

Etwas irritierend empfand ich allerdings das Einblenden der Arbeiten des als Werber tätigten Simon Hofer. Ich verstehe das Anliegen, als Betroffener auch zeigen zu wollen, dass jemand mehr ist, als eben nur «betroffen». Dass man auch «was kann». Nur wird genau dadurch, dass dieses «Können» so hervorgehoben wird, der Unterschied zu den «Nichtbetroffenen» umso deutlicher betont. Wenn jemand in einem bestimmten Bereich arbeitet (egal ob psychisch krank oder nicht) gehe ich selbstredend davon aus, dass derjenige sein Handwerk auch beherrscht. Hätte die Moderatorin zur anwesenden Psychiaterin Undine Lang oder dem Psychologen Niklas Baer gesagt (ich übertreibe das zur Verdeutlichung jetzt mal absichtlich): «Sie haben ja ein ganz aussergewöhnliches fachliches Talent, diese Studie von Ihnen (Studie wird eingeblendet) finde ich wirklich sehr gelungen, wollen Sie uns mal was darüber erzählen?» hätte man das möglicherweise ein bisschen seltsam gefunden.

Der Clip

Während der Sendung wurde wie erwähnt auch der Pro Infirmis-Clip gezeigt.

Meine spontane Reaktion darauf:

Zugegeben, das ist keine besonders differenzierte Kritik. Aber auch einige Tage und Durchsichten des Clips später stelle ich mir dieselbe Frage: Was will mir der Clip eigentlich sagen? Depressive sind gefühllose Zombies? Und auf den ersten Blick an ihrem Zombiekostüm erkennbar? Und so einem soll ich dann auch noch näherkommen? (Ähm, nein danke, eigentlich lieber nicht). Ich fand die Darstellung von Menschen mit Behinderung in Form von nachmodellierten Schaufensterpuppen beim letztjährigen Clip von Pro Infirmis schon äusserst problematisch. Immerhin bestand damals noch ein klar erkennbarer Unterschied zwischen dem (lebendigen) menschlichen Vorbild und der nachmodellierten (stummen) Puppe. Dieser Unterschied verschmilzt hier und nimmt dem Protagonisten jegliche Menschlichkeit, macht ihn zu einem Gegenstand. Selbst in der schlimmsten Depression ist jemand aber immer noch ein Mensch und kein seelenloses Ding, auch wenn er sich selbst vielleicht so fühlen mag. Und auch wenn Zuwendung von akut Depressiven nicht (oder nicht so wie im gesunden Zustand) empfunden werden kann, ist sie essentiell wichtig.
Der Clip vermittelt an Angehörige aber die Botschaft: Der Depressive spürt ja eh nichts, also kann man sich die Zuwendung auch gleich sparen. Er zeigt keine Handlungsmöglichkeiten für Betroffene oder Angehörige. Und untergräbt mit der Szene auf der Brücke auch noch die von der Suizidprävention hochgehaltene Leitlinie, dass man keine konkreten Suizidorte bzw. -möglichkeiten zeigen soll.

Twitter als Verteilkanal

Was die Verbreitung dieses an Negativität und Hoffnungslosigkeit nicht zu überbietenden Films für Betroffenen Gutes Bewirken bewirken soll, ist mir schleierhaft. Aber darum geht’s ja auch gar nicht. Es geht einmal mehr darum, Betroffene als hilflose und bedauernswerte Wesen Dinge darzustellen, denen die Pro Infirmis (und ihre SpenderInnen) in edler Absicht zur Hilfe eilen. Schlicht: Es geht um eine möglichst hohe Verbreitungsrate, um die Marke «Pro Infirmis» zu stärken. Dazu benutzte sie am Tag der Veröffentlichung in ziemlich aggressiver Weise Twitter, indem sie in unzähligen Tweets Zeitungen, Organisationen (auch viele ausländische), Einzelpersonen, u.s.w. zum Teilen aufforderte:

Bild 3

Solche Aufforderungen entsprechen nicht der Twitter-Etikette (man teilt etwas, weil man es gut findet, und nicht, weil man dazu aufgefordert wird – Stichwort «earned media»). Vom Blick am Abend erhielt die Pro Infirmis deshalb eine kleine Nachhilfestunde in Höflichkeit:

PI_BaA

Bei einer Behindertenorganisationen lässt man das Betteln gerademal noch so durchgehen, ist ja für einen guten Zweck. Allerdings bin ich mit meiner Kritik dazu nicht alleine:
https://twitter.com/andbhold/status/540140632334143488

Mehrere Betroffene fragten sich auch:

Und befanden, als sie keine Antwort bekamen: «Wir sind wohl nicht wichtig»

Das besonders perfide an der offensichtlichen Arroganz und Ignoranz der Pro Infirmis ist die Tatsache, dass sie umgekehrt ganz gezielt diejenigen Betroffenen zum Teilen des Clips aufforderte, von welchen sie sich die grösstmögliche Wirkung als sogenannte Influencer versprachen. Beispielsweise über die durch die Initiierung der Aktion #notjustsad bekannt gewordene @isayshotgun
https://twitter.com/ProInfirmis/status/540081785296936960

Hat in diesem Fall hier nur mässig geklappt, denn wie gesagt: Twitterer lassen sich nicht gern vorschreiben, welche Inhalte sie zu teilen haben. Aber das Beispiel sagt einiges über die Einstellung der Pro Infirmis, die Betroffenen hauptsächlich als «nützliche Idioten» für ihre Zwecke benutzen zu wollen, aus.

Konversation mit der PI – nach wie vor: Zero points

Da ich die Frage nach dem (fehlenden) Einbezug der Pro Mente Sana durchaus spannend fand, fragte ich per Mail beim Mediensprecher der Pro Infirmis nach:

Sehr geehrter Herr X.

Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass die neue Kampagne von Pro Infirmis zum Thema Depressionen offenbar(?) nicht in Zusammenarbeit mit der Pro Mente Sana entstanden ist.
Können Sie mir erklären, weshalb nicht?

Freundliche Grüsse

Die Antwort:

Sehr geehrte Frau Baumann

Nachdem Sie sich ja am 2. Dezember sehr gehaltvoll und abschliessend über den erfolgreichen neuen Kampagnen-Film von Pro Infirmis geäussert haben

„Marie Baumann @ivinfo: was für ein beschissener Clip von Pro Infirmis“

sehe ich mich nicht veranlasst, mich mit Ihnen weiter darüber zu unterhalten.

Mit besten Grüssen

Für ihre kommunikativen Leistungen erhält die PI nach wie vor zero points.

Behindertenorganisationen sollten für Behinderte da sein. Nicht umgekehrt.

Und die Frage bleibt: Warum musste die kleine Pro Mente Sana (2 Mio Bundesgelder/Jahr), welche sich seit 36 Jahren um Belange psychisch kranker Menschen kümmert, mehrere Jahre händeringend nach Geldern für eine breit angelegte Präventionskampagne suchen und just als die Kampagne mit Hängen und Würgen endlich finanziert werden kann, schüttelt die grösste Behindertenorgansation der Schweiz (45 Mio Bundesgelder/Jahr), der die Belange psychisch Kranker noch vor zehn Jahren am Allerwertesten vorbei gingen (Was für die Päusbonogs offenbar nach wie vor gilt) eine eigene protzige Kampagne aus dem Ärmel?

Vielleicht einfach schlicht deswegen, weil psychisch Kranke von der Pro Infirmis als interessanter Markt erkannt wurden? Immerhin sind von den 230’00 IV-Bezügern in der Schweiz über 100’000 psychisch krank. Aber was nützt es den hiesigen psychisch Kranken wenn Pro Infirmis im Ausland bekannt ist und ihre Werbeagentur Jung von Matt mit dem Spot zahlreiche Werberpreise einheimst?

Ich habe ja nicht gerade mit überschwenglicher Begeisterung auf die im Oktober von der Pro Mente Sana lancierte Kampagne «Wie geht’s dir» reagiert, deshalb möchte ich jetzt ein bisschen Lob nachholen: Im Vergleich zur Kampagne der Pro Infirmis wirkt sie sympathisch, menschlich und positiv und bietet auf der zugehörigen Webseite auch wichtige Zusatzinformationen für Betroffenen und Angehörige an.
Und vor allem stehen dabei die Betroffenen und nicht das Ego der ausführenden Organisation(en) im Vordergrund.

Es stünde der Pro Infirmis wirklich gut an, mit dem eigenen Ego (sprich: der eigenen «Marke») etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Denn was ich schon zur letzten Kampagne der PI schrieb, gilt auch nach wie vor: Behindertenorganisationen sollten für Behinderte da sein. Nicht umgekehrt.

Dazu wäre ist vielleicht ganz dienlich, wenn die Verantwortlichen bei der Pro Infirmis ein bisschen weniger mit den Werbern der ausführenden Werbeagentur Jung von Matt auf Preisverleihungs-Parties sich selbst feiern würden, das versaut nämlich ganz offensichtlich den Charakter. Da man sich seitens der Pro Infirmis so gerne damit brüstet, dass die Auszeichnungen, die man für die PI-Clips erhalte, eindeutig deren Qualität bestätigen, als Abschluss eine kleine Anekdote dazu, mit welchen«Leistungen» sich Jung von Matt sonst noch solche Auszeichnungen des Art Directors Club Deutschland «verdienen». (Und ja, man kann das Beispiel als durchaus bezeichnend für die Branche betrachten).

Supplement: Eine Anekdote aus Werberkreisen

Notiert vom Satire-Magazin Titanic (2012), aber keine Satire, sondern tatsächlich wahr:

Bild-Agentur Jung von Matt!
Da blättern wir neulich aus lauter Langeweile im aktuellen Jahrbuch des Art Directors Club Deutschland (ADC), und wen müssen wir da wiedersehen? Den Brief der »Wir sind Helden«-Sängerin Judith Holofernes, in dem sie Euch eine Absage als Bild-Testimonial erteilt und recht verständlich erörtert, warum sie Eure Kampagne besonders perfide findet – den Ihr dann allerdings, hihi, hoho, kurz darauf einfach trotzdem und in Faksimile als Bild-Anzeige brachtet. Holofernes verzichtete damals auf eine Klage, um der Sache nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu bescheren. Der ADC verzichtete allerdings nicht darauf, diese kreative Top-Leistung mit einem Bronzenagel auszuzeichnen. Großer Applaus für zwei Kreativdirektoren, einen Art-Direktor und zwei Texter!
Eins täte uns aber schon interessieren: Wie macht man so was zu fünft? Einer kopiert den Brief, und vier holen sich schon mal einen runter?
Ihr seid Helden!

Der Propaganda-Anlass

Beim Lesen der offiziellen Mitteilung zur gestrigen Medienkonferenz «Arbeitgeber und IV gemeinsam für die Eingliederung von Zimmerpflanzen» musste ich ja schon ein bisschen schmunzeln:

«Der Gastgeber der Medienkonferenz, André Tobler, Geschäftsführer von Tobler Protecta AG in Ipsach, führte das praktische Beispiel seiner Firma an. Die IV-Stelle Bern habe die  Anstellung von zwei Menschen mit Behinderung und ihre Integration in die 17-köpfige  Belegschaft ermöglicht. Dieser Schritt wirke sich klar positiv auf das Betriebsklima aus, und die Produktivität leide nicht darunter.»

Ganz so, wie man das von anständigen Topfpflanzen eben erwartet.

Weniger geschmunzelt habe ich über die Zahl der 5400 im letzten Jahr «erfolgreich Eingegliederten», die in allen Medien aufgegriffen wurde und als Illustration dafür dient, dass das doch mit den 17’000 einzugliedernden IV-Bezügern gar kein Problem darstelle. Selbstverständlich ist es toll, dass 5400 Menschen trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen eine neue Stelle gefunden haben. Es handelt sich hierbei allerdings zum grössten Teil nicht um langjährige IV-Bezüger, sondern um Menschen, die aufgrund der mittels der 5. IV-Revision eingeführten Früherfassung bei der IV gemeldet wurden (Die Früherfassung richtet sich laut IVG an Personen, die während mindestens 30 Tagen ununterbrochen arbeitsunfähig waren, oder innerhalb eines Jahres wiederholt Kurzabsenzen aufweisen). Da sollte dann auch einfach mal die leise Frage erlaubt sein, in wievielen Fällen, der vorherige Arbeitgeber diesen Menschen gerade aufgrund ihrer Erkrankung gekündet hat…?
Bei immerhin 53% aller «Eingliederungen» konnte der bisherige Arbeitsplatz erhalten bzw. eine neue Stelle in der selben Firma angetreten werden (auch hier stellt sich die Frage, in wievielen Fällen war die Intervention der IV überhaupt notwendig?). Insgesamt konnte die IV(?) im Jahr 2011 rund 11 530 Personen am neuen oder alten Arbeitsplatz «erfolgreich eingliedern».

Man kann ja nicht immer nur meckern, und insgesamt ist es ja schön, dass die Sache mit der Früherfassung und Eingliederung so gut klappt. Ich möchte einfach mal anmerken, dass diese Zahlen auch zeigen, dass die Anpassung eines bestehenden Arbeitsplatzes in vielen Fällen möglich ist und die Arbeitgeber für solche Lösungen früher offenbar weniger bereit waren. Denn die hohe Zahl der IV-Fälle haben nicht ausschliesslich diese «IV-Fälle» selbst verursacht.

Aber sowas sagt man an so einem Anlass natürlich nicht, denn es geht ja darum, die Arbeitgeber zu umwerben. Und darum, die eigene «Leistung» ins beste Licht zu rücken, deshalb hat Herr Ritler auch nochmal das Märchen von den «nur» 300 IV- Bezügern, die nach Aufhebung ihrer Rente in der Sozialhilfe landen, erzählt. Ehrlich, das wird nicht wahrer, wenn man es nur oft genug wiederholt (Vor einem Jahr hat Herr Rossier das selbe an einer PK erzählt, es gab mal eine entsprechende SDA-Meldung, verschiedene IV-Mitarbeiter nutzen die Zahl in ihren Powerpointpräsentationen, aber immerhin gabs dazu auch eine kritische Interpellation im Parlament).

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Also an dieser Stelle deshalb ein Exkurs zu diesem oft zitierten Monitoring (für Querleser: nach dem Trennstrich unten geht’s wieder um die Medienkonferenz): Das BSV behauptet anhand der Ergebnisse des Monitoring SHIVALV über die Übergänge zwischen den sozialen Systemen, dass bei rund 2500 jährlich aufgehobenen IV-Renten «nur» rund 300 Personen pro Jahr von der IV in die Sozialhilfe wechseln. Effektiv sind dies aber nur diejenigen, die «ganz wechseln» also gar keine IV mehr erhalten. Insgesamt beziehen laut der Daten aus dem Monitoring nämlich 1900 Personen pro Jahr NEU Sozialhilfe, die im Vorjahr nur IV bezogen haben, hierbei dürfte es sich wahrscheinlich oftmals um Personen handeln, deren IV-Renten wegen (angeblich) verbesserter Gesundheit gekürzt wurden. Normalerweise sollten IV-Bezüger keine SH beziehen müssen, wenn allerdings jemand zb (neu) eine 50% Rente erhält und auch die EL eine 50% Erwerbsfähigkeit anrechnet, kann ein gleichzeitiger Bezug von IV und SH vorkommen (und wird sich mit der IV-Revision 6b noch massiv verschärfen).

Des weiteren betrachtet das Monitoring den Wechsel nur über den Zeitraum eines Jahres (erfasst werden nur diejenigen Personen, welche im Vorjahr eine IV bezogen haben, nicht aber solche, deren Rente vor zwei oder drei Jahren aufgehoben wurde). In der Regel dauert es länger als ein Jahr, bis jemand sein ganzes Erspartes aufgebraucht, evtl. Haus/Auto ect. verkauft hat und nur noch 4000.- Vermögen besitzt. Viele werden zwischenzeitlich möglicherweise auch von Angehörigen finanziell unterstützt. Wenn jemand aber nicht «direkt» von der IV in die SH wechselt, wird er im Monitoring nicht mehr als «ehemaliger IV-Bezüger» geführt. Da er ja vor mehr als einem Jahr IV bezogen hat, er ist dann ein ganz «normaler» Sozialfall.

Schlussendlich werden diejenigen, die zwar gesundheitlich beeinträchtigt sind, aber aufgrund der strikten IV-Praxis gar nie eine Rente bekommen haben und deshalb direkt (oder auch etwas später) in der Sozialhilfe landen, in dieser Untersuchung nicht ausgewiesen. Dies dürfte der häufigste Fall sein, da die IV bisher bestehende Renten nur aufheben konnte, wenn sich der Gesundheitszustand angeblich verbessert hat (oder eine Medas dies ähem «bescheinigt» hat. Mit der am 1.1. 2012 in Kraft getretenden IV-Revision 6a dürfen Renten aufgrund von pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebilder aber auch ohne Verbesserung des effektiven Gesundheitzustandes aufgehoben werden.

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Auch die Arbeitgeberseite hat den Anlass ausgiebig als Propagandaplattform benutzt, so zum Beispiel der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes, Hans-Ulrich Bigler (FDP), der seine Rede mit folgenden Worten begann: «Die Schweizer KMU handeln in hohem Masse sozialverantwortlich. Viele Gewerbler nehmen lieber einen finanziellen Verlust in Kauf, als dass sie in schwierigen Zeiten Mitarbeitende auf die Strasse stellen.»

Später folgte eine Breitseite gegen Quoten («schädliche Eingriffe in die unternehmerische Freiheit, nicht zielführend»), ein Plädoyer gegen eine Verlängerung der Zusatzfinanzierung («der sgv wird sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzen»), sowie eines für die IV-Revision 6bZentral dabei ist, dass die geplante Umstellung des Rentensystems auch auf laufende Renten angewendet wird. Leider hat der Ständerat hier ein völlig falsches Signal gesetzt, indem er alle bisherigen Renten unter Schutz stellte»), noch etwas generelles IV-Bashing («Wichtig ist auch, dass die IV in allen Bereichen sehr sparsam mit ihren Mitteln umgeht. Da erkennen wir nach wie vor ein erhebliches Verbesserungspotential. So stören wir uns beispielsweise daran, dass im Bereich der Hörgeräte die Pauschalbeträge auch dann voll ausbezahlt werden, wenn die benötigten Geräte weniger kosten. Wer es richtig zu drehen weiss, kann somit bei der IV neben einem Hörgerät noch einen Barbetrag abholen. Unverständlich ist für uns auch, dass die IV Hörgeräte bezahlt, die im Ausland eingekauft werden. Dies gefährdet nicht nur Arbeitsplätze in der Schweiz (unter Umständen auch solche von Behinderten), sondern entzieht der IV auch Steuern und Lohnbeiträge.»).

Und weils ja eigentlich um die Eingliederung ging (wirklich?) noch etwas Peitschenknallen für die Topfplanzen: «Behinderte lassen sich nur dann eingliedern, wenn sie auch wirklich arbeiten wollen und gewillt sind, ihre Einschränkungen durch eine hohe Einsatzbereitschaft zu kompensieren. Bei den meisten Behinderten ist dies der Fall. Leider gibt es aber auch die anderen. Wir hören immer wieder, dass es Plätze für Behinderte gebe, dass es aber nicht gelinge, diese befriedigend zu besetzen. Seitens des sgv erwarten wir, dass sich alle Betroffenen wirklich darum bemühen, im Erwerbsprozess zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dort wo dieser Wille fehlt, müssen härte-
re Sanktionen – insbesondere Rentenkürzungen – ergriffen werden.»

(Wir erinnern uns: Herr Bigler findet, Quoten sind böööööse – soviel zum Thema «Sanktionen für fehlenden Willen»… Ein kurzer Blick auf den Smartspider von Herrn Bigler spricht im Übrigen Bände)

Ähem ja, soviel dazu. Wer noch nicht genug hat, kann die ganzen Referate und Statistiken auf der BSV-Seite (auf der rechten Seite) herunterladen.

Nachtrag: Und neben der ganzen Propaganda wär’s vielleicht mal ganz klug, die Bachelorarbeit von Janine Hess (Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) zu lesen. Sie beschäftigt sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen Menschen
mit somatoformen Schmerzstörungen zurück in den regulären Arbeitsmarkt finden
. Im der zweiten Hälfte der Arbeit sind viele Zitate der in der Region Luzern befragten Unternehmer zu lesen. Ich sags mal so: Deren Bereitschaft, langjährige IV-Bezüger mit Schmerzstörungen einzustellen, bewegen sich in eher engen Grenzen. So zuckerwattenrosa, wie das offiziell von IV und Arbeitgeberverbänden gezeichnete Bild ist die Realität nämlich leider nicht.

Die IV-Revision 6a ist angenommen

Heute morgen fand die Schlussabstimmung zur IV-Revision 6a statt. Die Revision wurde mit 125 zu 57 Stimmen angenommen. Besonders positiv hervorzuheben sind hierbei die Nein-Stimmen der beiden EVP-Nationalrätinnen Maja Ingold (ZH) und Marianne Streiff-Feller (BE). Maja Ingold hatte sich auch schon früher über die soziale Kälte im Nationalrat während der IV-Debatte geäussert. Etwas Stirnrunzeln hingegen bereiten gewisse Enthaltungen von Seiten der SP – Ganz besonders diejenige von Pascale Bruderer, die sich ja immer sehr für Menschen mit Behinderungen eingesetzt hat. Aber mit Engagement für Behinderte lässt sich eben nun mal kein Ständeratssitz gewinnen, wird sich Frau Bruderer gedacht haben, da muss man schon etwas «Mehrheitsfähigkeit» an den Tag legen.

Und dass die Linke aus seiner Sicht absolut nicht mehrheitsfähig ist, zeigte CVP-Nationalrat Reto-wir wollen niemandem die Rente wegnehmen- wir wollen sie nur überprüfen-Wehrli in seinem Schlussvotum mehr als deutlich auf: «(…)
Zum Teil wider besseres Wissen, ganz sicher aber gegen jede Statistik stellen sie (Anm. «Die Linken») hier fortgesetzt die Behauptung auf, man mache den Sozialstaat kaputt, und folgerichtig bieten sie niemals Hand zu irgendeiner konstruktiven Lösung.(…)Kein anderer Staat hat in den letzten Jahren noch zusätzliches Geld in die Sozialpolitik gepumpt, wie wir es hier tun. Hunderte von Millionen werden dafür aufgewendet, dass die IV endlich eine Integrationsversicherung wird, nachdem sie das eigentlich schon seit 1960 hätte sein sollen. Das ist ein grosser Aufwand, um ein gutes Sozialwerk zu stützen. Der Beweis dafür, dass man auch schwierige Dinge hier in diesem Land steuern und zu einem guten Ende bringen kann, kam massgeblich aus der politischen Mitte.
Gefehlt hat nur die Ankündigung des Referendums. Das erstaunt mich, und ich bitte hier die Linke, das Referendum zu ergreifen. Es wäre nämlich das Beste, wir hätten auch hier eine Volksabstimmung, damit die Sache geklärt wird und die Legitimationsfrage – wie in allen Abstimmungen, die wir in den letzten Jahren zur IV hatten – auf den Punkt gebracht wird.
Die CVP/EVP/glp-Fraktion unterstützt dieses Projekt, nicht weil es in allen Punkten Glück bringen wird, sondern weil es Ausdruck praktischer politischer Vernunft ist. Praktische politische Vernunft hat dieses Land zum Erfolg geführt, hat es für die Leute lebens- und liebenswert gemacht. Das ist die Politik, die hier vertreten werden muss. Keine rechte Agitation und keine linke Realitätsverweigerung werden uns weiterbringen.»

Wehrlis Votum ist im Original um einiges länger und enthält noch weitaus mehr Spitzen und Breitseiten gegen «die Linke» und man könnte da jetzt sehr viele Anmerkungen anbringen, ich gehe aber nur auf eine Aussage ein, und zwar folgende: «Kein anderer Staat hat in den letzten Jahren noch zusätzliches Geld in die Sozialpolitik gepumpt» da Herr Wehrli ja selbst für die Quotenregelung eingetreten ist (angeblich… hat er scheinbar schon wieder vergessen, war dann wohl doch nicht ganz so ernst gemeint) hätte er auch mal all jenen auf die Füsse treten können, die gegen Quoten und für den sogenannten Arbeitsversuch eingetreten sind: denn kein anderer Staat finanziert mit Versicherten-Geldern(!) der Wirtschaft Arbeitskräfte. In vielen anderen Stataen werden durch Quotenregelungen bzw. die Ersatzabgaben zusätzliche Gelder generiert und nicht der Wirtschaft Versicherungsgelder hinterhergeworfen, wenn sie sich freundlicherweise dazu herablässt, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einzustellen. Sowas müsste man dann der Vollständigkeit auch mal sagen, Herr Wehrli!

Aber darum geht’s ja bei solchen Schlussvoten nicht. Es ging hier Herrn Wehrli offenbar vor allem um unfassbar arrogante und Pfaugleiche Selbstdarstellung mit gleichzeitigem Abwatschen der Linken.

Dagegen wirkte das Votum von Hansjörg Hassler (BDP/GR) geradezu freundlich und vor allem sachlich: «(…) Insgesamt betrachtet die BDP-Fraktion die vorliegende Revision als angemessen und notwendig. Sie muss aber – und das ist der BDP-Fraktion wichtig – mit der nötigen Sorgfalt und mit Augenmass umgesetzt werden. Die Massnahmen dieser Revision treffen Mitmenschen mit Behinderungen. Diese gehören nicht zu den Bevorteilten unserer Gesellschaft; das dürfen wir bei der Umsetzung der vorgesehenen Massnahmen nie vergessen.»

Vollständiges Wortprotokoll zur Schlussabstimmung

Was Avenir Suisse verschweigt

Avenir Suisse titelt in ihrem Infomationsbulletin vom Januar 2011 auf Seite 2:
«Schluss mit Schwindel» und schreibt: «Invalide sollen keine Rente mehr bekommen, wenn sich für Ihre Beschwerden keine objektivierbare Ursache findet.» Und nötigt mich damit mal wieder in den Schallplatte-mit-Sprung- Modus zu verfallen… Nun denn… *seufz*

Nur schon pauschal das Wort Schwindel für alle nicht objektvierbaren Erkran-kungen zu benutzen, ist einfach eine bodenlose Frechheit und Verunglimpfung der Betroffenen und dient einem einzigen Grund: Den Weg zu ebnen, für den von Avenir Suisse schon seit langem intensiv propagierten Abbau des Sozial-staates.

Es folgt das übliche Blabala, von wegen Schleudertrauma-Epidemie, den psychischen Beschwerden für die es angeblich keine Ursache gebe und zu guter Letzt noch dies: «Wer keine Rente mehr erhalte, rutsche in die Sozialhilfe ab, lamentieren die Kritiker. Sie verschweigen: Die Sozialdienste missbrauchten zwei Jahrzehnte lang die IV, um Klienten abzuscheiben, deren Beschwerden nie eine Rente rechtfertigten.»

Wenn ich aufzählen wollen würde, was die Avenir Suisse bezüglich IV alles verschweigt (und auch der ganze neoliberale Wirtschaftskuchen drum herum absichtlich mitverschweigt) würde ich sehr sehr viel schreiben müssen:

  • Bis heute keine Evaluation über die Folgen der 5. IV-Revision durchgeführt wurde und keine Informationen darüber existieren, was mit all den Menschen geschehen ist, deren Renten eingespart wurden und wie erfolgreich die Eingliederungsmass-nahmen tatsächlich sind.
  • Es ist eine Tatsache, dass es immer mehr Menschen gibt, die schwerkrank bei der Sozialhilfe anklopfen – oder für die deren Ehepartner aufkommen müssen
  • Das Märchen von den angeblich schwer objektivierbaren psychischen Erkrankungen wurde schon lange durch eine vom BSV (!) in Auftrag gegebene Studie widerlegt. Dies hat das BSV aber ganz bewusst nie breit kommuniziert, um mit der laufenden IV-Revision das Wort objektivierbar (also durch einen Psychiater diagnostizierbar) einfach mal ganz elegant durch die Wendung «organisch feststellbar» zu ersetzen. Was faktisch alle psychischen Erkrankungen von IV-Leistungen aussschliesst.
  • Und über die permanente Verunglimpfung von IV-Bezügern brauche ich der Avenir Suisse erst recht nichts erzählen, damit kennen sie sich ja selbst gut genug aus. Bezeichnete doch beispielsweise Katja Gentinetta, die damalige Vizedirektorin von Avenir Suisse, bereits im Herbst 2009 in der NZZ die IV als «komfortable Dauerarbeitslosig-keitsversicherung» und befand die in einer Motion von Reto Wehrli geforderte Neuüberprüfung von bestehenden Renten als «zwingend». Gentinetta schrieb: «(…)und es ist zu hoffen, dass dies im Rahmen der geplanten 6. Revision der IV ohne Kompromiss und Abschwächung durchgesetzt wird.» Es handelt sich hierbei just um diejenige Motion, die den Grundstein zur unseeligen Schlussbestimmung der IV-Revision 6a gelegt hat: Notabene OHNE, dass die Bundesversammlung die betreffende Motion je angenommen hätte. Aber offenbar finden von Avenir Suisse unterstützte Anträge über andere Wege Eingang in die Gesetzgebung als über die Bundesversammlung.

Und die Frage, wo die wahren Betrüger sitzen, stelle ich auch nicht. Das erklärt sich durch die oben aufgelisteten Tatsachen mittlerweile von selbst. Weshalb man das alles (und noch viel viel mehr) verschweigt und vertuscht. Nicht nur bei der Avenir Suisse.

The This Jenny One-man-show

SVP Nationalrat This Jenny füllte gestern gefühlte 90% der gesamten Sendezeit der Arena über die aktuelle IV-Revision mit Aussagen wie:

«Jeder der erzählt, er sieht weisse Mäuse, bekommt eine IV-Rente, hahaha»

«Die könnten alle arbeiten, die mit den „komischen Krankheiten“»

Kurz darauf:

«Aber die mit den „komischen Krankheiten, die will ich nicht in meinem Betrieb haben – die will keiner»

ect.
ect.
ect.

WTF…?

IV-Revision 6a im NR – Zusammenfassung

Schauen wir uns mal an, was die Damen und Herren Nationalräte, deren Mahlzeitenentschädigung pro Sitzungstag 110.- und somit pro Session mehr als eine durchschnittliche IV-Rente beträgt, so gesagt und beschlossen haben:

Die Ablehung der Behindertenquote für Unternehmen ab 250 Mitarbeiter dürfte mittlerweile allseits bekannt sein. Dazu kann man nur noch den pointierten Kommentar eines gewissen Emil Huber unter dem NZZ-Artikel «Arbeitsplätze für Behinderte ohne Quotenpflicht» zitieren: «Missbrauch» rufen, Leistungen kürzen, Ruf versauen – …und wenn die Rufer zu Taten gebeten werden, will keiner etwas wissen. Welche Heuchler.»

Nach Toni Bortoluzzis Drohung gleich zu Beginn der IV-Debatte, dass die SVP weder eine Quote noch einen Ausbau der persönlichen Assistenz dulde – ansonsten würde man die Vorlage ablehnen – lief alles exakt nach dem Fahrplan von SVP und FDP und man hätte sich die Debatte auch gleich ganz sparen können.

Grüne und SP äusserten sich stets klar, sachlich und engagiert trotz leider aussichtsloser Position gegenüber der bürgerlichen Mehrheit und hatten offensichtlich die Vorlage sehr genau studiert, was bei manchen Bürgerlichen äusserst fraglich war. Nicht nur Marianne Kleiner (FDP) fiel immer wieder durch etwas wirre Voten auf, auch andere bürgerliche Exponenten äusserten sich zuweilen doch sehr fragwürdig – so auch Ruth Humbel (CVP): «Die Minderheit will, dass auch für medizinisch nicht fassbare Beschwerdebilder eine Berentung möglich ist. Letztlich führt das dazu, dass jeder für sich selbst entscheiden kann, ob er eine Rente bekommt. Diese Mentalität hat in den Neunzigerjahren geherrscht und die IV wohl ins finanzielle Fiasko geführt. Wer damals eine Rente wollte, hat sie von einem Arzt verschrieben und von der IV-Stelle bestätigt oder dann von einem Arzt durchgesetzt bekommen.»

Das kommentiere ich jetzt mal nicht weiter, aber bemerkenswert an dieser Aussage ist doch, dass Frau Humbel sie im selben Votum untergebracht hat, in dem sie einen von ihr noch schnell reingschmuggelten Einzelantrag bewirbt, der (laut ihrer Formulierung) «verhindern will, dass eine Herabsetzung der Rente der IV zu einer Erhöhung der Invalidenrente der obligatorischen Unfallversicherung führen kann».

Paul Rechsteiner (SP) bemerkte zu diesem Antrag: «Zum Antrag Humbel, der offensichtlich im Auftrag der Versicherungen gestellt worden ist und drastisch zeigt, was für eine Mentalität hier plötzlich zum Ausdruck kommt: Da geht es um die Kapitalsummen, welche die IV nach einem Unfall bei einem Haftpflichtigen kassiert hat; diese kommen ja nicht den Geschädigten zugute; und da soll nun der Verunfallte nicht nur seinen Rentenanspruch verlieren, sondern gerade auch noch seinen Haftpflichtanspruch, der ja mit nichts anderem begründet worden ist als damit, dass der Unfall zur Invalidität geführt hat. Laut Strafrecht wäre so etwas Betrug»

Dass die Mehrheit des Parlaments diesen hastig hineingemogelten Antrag auch noch annahm, war nur eine Gegebenheit unter vielen, die die von bürgerlicher Seite immer wieder eingestreuten Bemerkungen, man meine es ja gut mit den Betroffenen und wolle ihnen durch diese Vorlage die «Chance zur Integration geben» nur noch höhnisch und ihre wahren Beweggründe immer offensichtlicher erscheinen liess. Die rechte Ratshälfte schien nach der erfolgreichen Ablehung der Behindertenquote in eine Art Blutrausch verfallen zu sein und versenkten einen Antrag der Linken nach dem anderen.

Besonders stossend daran ist, dass so mehrere neue Bestimmungen Eingang in die Gesetzgebung fanden, die wie die fragwürdige Schlussbestimmung zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne seriöse vorherige Abklärung, ohne Botschaft und ohne Vernehmlassung einfach so während der Komissionsberatung der NR-SGK noch schnell heimlich hineingemogelt wurden.

Beispielsweise der «Arbeitsversuch» nach Artikel 18a:
1 Die Invalidenversicherung kann einer versicherten Person versuchsweise einen Arbeitsplatz für längstens 180 Tage zuweisen, um die tatsächliche Leistungsfähgkeit der versicherten Person im Arbeitsmarkt abzuklären.
2 Während des Arbeitsversuchs hat die versicherte Person Anspruch auf ein Taggeld; Rentenbezügerinnen und -bezügern wird die Rente weiter ausbezahlt.
3 Während des Arbeitsversuchs entsteht kein Arbeitsverhältnis nach dem Obligationenrecht (…)

Heisst; der Arbeitgeber bekommt für 180 Tage eine Gratis-Arbeitskraft, da die IV Taggeld oder Rente weiter bezahlt.
Und Verweigerung seitens der Betroffenen dieser «Arbeitsplatzzuweisung durch die IV» dürfte dann wohl als Verletzung der Mitwirkungspflicht gelten… was wiederrum Kürzung oder gar Streichung der Rente/des Taggeldes zur Folge haben kann.

Oder auch Art. 66c zur Fahreignung
1 Zweifelt die IV-Stelle an der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, die zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen notwendig ist, kann sie die versicherte Person der zuständigen kantonalen Behörde (Art. 22 SVG) melden.
2 Die IV-Stelle informiert die versicherte Person über diese  Meldung.
3 Auf Anfrage im Einzelfall stellt die IV-Stelle der kantonalen Behörde die entsprechenden Unterlagen zu.

Dieser Artikel wurde (ebenfalls kurzfristig) aufgrund der in der Botschaft zur Via secura aufgeführten «Tatbestände, die eine Fahreignungsuntersuchung als angezeigt erscheinen lassen» eingeführt. Neben der Alkohol- und Betäubungsmittelabhängigkeit figurieren darunter auch «psychische Störungen, die zur Arbeitsunfähigkeit führen».

Nun muss man hierzu wissen, dass es ein altes Anliegen der SVP ist, Menschen mit psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit das Lenken von Motorfahrzeugen zu verbieten. Dass es hier nur sehr bedingt um die Sicherheit im Strassenverkehr geht, sondern vielmehr um Disziplinierungsmassnahmen, nach dem Mottto: «Wer nicht arbeitet, soll auch kein Brot essen nicht autofahren» dürfte wohl jedem klar sein. Die von der SVP 2007 eingereichte Motion «Personen mit psychischen Defekten dürfen keine Motorfahrzeuge lenken» wurde denn auch vom Bunderat folgendermassen beantwortet: «Wenn allerdings eine Person wegen einer psychischen Krankheit eine IV-Rente bezieht, ist sie zwar wegen ihrer Krankheit ganz oder teilweise erwerbsunfähig; das heisst aber nicht, dass sie auch ein gefährlicher Verkehrsteilnehmer oder eine gefährliche Verkehrsteilnehmerin ist.»

Die SVP verfolgt ihr Ziel mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit aber weiter (Wir erzählen irgendwelchen Unsinn einfach so lange, bis es jeder glaubt) bereitet noch ein hübsches Deckmäntelchen (Votum Scherer «Es geht nicht gegen handicapierte Leute, sondern es geht um mehr Sicherheit») darüber und schon ist das ganze mehrheitsfähig und die SVP kann sich wieder brüsten, dass sie eben immer erreicht, was sie will.

So auch bei der persönlichen Assistenz – die zwar immerhin (endlich!) eingeführt wurde, aber eben auch nur auf ein absolutes Minumum begrenzt, so dass (neben vielen anderen Einschränkungen) Menschen mit einer geistigen, psychischen, einer Hör- oder Sehbehinderung davon ausgeschlossen sind und Angehörige nicht für Assistenzdienste entschädigt werden dürfen.

Des weiteren wurden in der Beratung der IV-Revision 6a noch die Hilfsmittel und die sogenannte Kostenwahrheit behandelt, auf die ich hier nicht weiter eingehen werde.

In der Gesamtbetrachtung der Voten und gefällten Entscheide ergibt sich das Bild einer bürgerlich-rechts dominierten Parlamentsmehrheit, für die Menschen mit Behinderungen vor allem eins sind: ein lästiger Kostenfaktor. Und gerade in ihrer Funktion als «lästiger Kostenfaktor» eignen sich Behinderte für Politiker ganz hervorragend, um mittels massiver Diskriminierung, Disziplinierung, Sanktionierung und Verleumdnung der Betroffenen politisches und persönliches Kapital aus der ganzen Angelegenheit schlagen zu können. Es bleibt zu hoffen, dass der massive öffentliche Widerstand der Wirtschaft gegen Behindertenquoten auch dem einen oder anderen simpleren Gemüt endlich die Augen geöffnet hat über die wahren Absichten hinter all den heren Lippenbekentnissen zur sogenannten «Eingliederung statt Rente».

Eine genauere Betrachtung verdient auch das Abstimmungsverhalten jener CVP-Politiker, die das C immer besonders akzentuiert vor sich hertragen, wie beispielsweise Pius Segmüller: Sich öffentlich mittels angeblicher Wohltätigkeit für Behinderte zu profilieren, lässt sich offenbar problemlos mit einem konsequent behindertenfeindlichen Abstimmungsverhalten (das merken die Behinderten doch nicht…) vereinbaren. Wahrscheinlich fusst das «Engagement für die Schwächsten der Gesellschaft» auf einer Art Ablasshandel zur Wieder-gutmachung des dem grossen «C» diametral entgengesetzten Verhaltens im Nationalrat. In diesem Sinne dürfte wohl der eine oder andere Politiker nach der beendeten IV-Debatte zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichtes ein Nötli für die Kinder in Kriegsgebieten in den auf dem Bundesplatz stehenden JRZ-Glaskubus gesteckt haben.

Wortprotokolle Nationalrat (Wintersession 2010, 14. und 16. Dezember, IV-Revision, Erstes Massnahmenpaket)

«Jobs für Behinderte» als Propagandavehikel

Nächste Woche wird im Nationalrat über die IV-Revision 6a beraten, mittels derer 16’000 IV-Renten gestrichen werden sollen. Und just vor 2 Wochen entdeckte der Ringier-Verlag sein Herz für Behinderte und titelte quer über eine Doppelseite: «Blick hilft Behinderten, eine Arbeit zu finden» Illustriert ist der Beitrag mit einer attraktiven Frau im Rollstuhl.
Hinter dem Engagement steht die Stiftung My Handicap, der Bund und eben die Ringier-Gruppe.
Als Schirmherren (und -damen) fungieren:

  • Dr. Thomas Buberl, Mitglied des Vorstands Schweizerischer Versicherungsverband
  • Prof. Dr. Roland A. Müller, Mitglied der Geschäftsleitung Schweizerischer Arbeitgeberverband
  • Dr. Ellen Ringier, Präsidentin Stiftung Elternsein
  • Pascale Bruderer Wyss, Nationalratspräsidentin 2010
  • Yves Rossier, Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
  • Joachim Schoss, Stifter und Stiftungspräsident MyHandicap, Initiant
  • Marc Walder, CEO Ringier Schweiz und Deutschland, Mitinitiant
  • Dr. med. Christian Wenk, Oberarzt Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil

Die jeweiligen Statements dieser Personen zu ihrem Engagement sind direkt bei myhandicap.ch zu lesen.

Wenn sich Vertreter von Arbeitgeberverband (das sind die netten Herren, die sich dezidiert gegen eine Behindertenquote wehren), Versicherungs-verband (das sind die netten Herren, die sich in ihrer Vernehmlassungsantwort zur IV-Revision 6a gegen die persönliche Assistenz ausprachen) und Wirtschaft knappe 3 Wochen vor einer IV-Revision, die erneut massive Einschnitte für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen mit sich bringen wird, auf einmal berufen fühlen, sich öffentlich für «Jobs für Behinderte» zu engagieren, nennt man das korrekterweise nicht Engagement sondern Propaganda.

Und weil Propaganda etwas ganz anderes ist, als echtes Engagement, publiziert der Ringier-Verlag nun regelmässig Berichte über tiptop eingegliederte Behinderte, von der KV-Angestellten im Rollstuhl, über den einbeinigen Käser bis zum blinden Primarlehrer (Schweizer llustrierte).

Nur: bei den 16’000 IV-Renten, die eingespart werden sollen, geht es nicht um Einbeinige, Blinde oder Rollifahrer. Dass auch für diese die Jobsuche nicht ganz so einfach ist, wie die Hochglanzberichte in Blick und Co. suggerieren, ist die eine traurige Realität – die andere ist: es geht bei der IV-Revision um Menschen, deren Integration weitaus schwieriger und oftmals ehrlicherweise unmöglich ist: es geht um Menschen mit chronischen Schmerzen, mit Schleudertraumafolgen (heisst: Konzentrationsstörungen, schnelle Ermüdbarkeit, Gedächtnisstörungen) mit chronischem Erschöpfungssyndrom, mit psychischen Schwierigkeiten. Es geht um Menschen, die oft seit vielen Jahren nicht mehr im Erwerbsleben stehen, die wenig belastbar sind und über eine eingeschränkte und zudem oftmals von Tag zu Tag unterschiedliche Leistungsfähigkeit verfügen.

Die Thurgauerzeitung berichtete kürzlich über ein sogenanntes Integrations-projekt für Frauen mit psychischen Erkrankungen: sie arbeiten im Dorfladen in Wuppenau – und zwar ihrem Gesundheitszustand entsprechend: «Wie lange und wie regelmässig die vier Frauen im Laden tätig sind, hänge ganz von deren psychischen Verfassung ab. Deshalb werde jeden Morgen eine individuelle Einteilung gemacht, bei der die Mitarbeiterinnen mitreden und mitgestalten könnten. Ausschliesslich an der Kasse oder nur hinter der Käsetheke arbeitet hier keine. «Alle können alles und arbeiten Hand in Hand.» Fällt eine der Mitarbeiterinnen an einem Tag aus, springen die Geschäftsleiterinnen ein. «Wir sind sowieso immer da.» Anders als in der freien Wirtschaft verliert hier aber niemand seine Stelle, weil er immer wieder fehlt. Sind psychische Probleme der Grund, arbeitet die Betroffene vielleicht eine zeitlang im Hintergrund und schneidet Brot für die Sandwiches, statt mit den Kunden in Kontakt zu treten. Oder sie bekommt eine Auszeit und knüpft später dort wieder an, wo sie aufgehört hat.»

Jeder weiss, solche Arbeitsplätze gibt es in der freien Wirtschaft nicht. Ehrlicherweise erwähnt der Artikel das auch: «Die Frauen gelten aufgrund ihrer schweren Erkankungen als nicht mehr in die Arbeitswelt integrierbar und beziehen eine IV-Rente.»

So sieht es nämlich aus in der Realität jenseits der schönen bunten Blick-Doppelseiten mit den Vorzeigebehinderten, um die es in der aktuellen IV-Revision gar nicht geht. Und ich bin mir sicher, die Damen und Herren Schirmherrschaften wissen das auch.

(Ich hoffe, ich konnte verständlich machen, dass ich es natürlich selbstverständlich gut finde, wenn Menschen im Rollstuhl einen Job finden – aber eigentlich finde ich auch, sollte das doch schon längst ganz selbstverständlich sein – sollte….)

Diffuse Wahrnehmungsstörungen bei der Weltwoche

Soll man die Weltwoche ignorieren? «Ja». Hatte ich eigentlich beschlossen. Dann hat mich neulich jemand auf den Artikel «Wie im Selbstbedienungsladen» aufmerksam gemacht und ob ich nicht etwas darüber schreiben…? Hm. Die Weltwoche. Schon wieder. Fällt denen nix Neues ein, um ihr Blatt zu füllen? Alex Baur. Der mal wieder nach seinen ganz eigenen Regeln die folgende Tabelle interpretiert hat (aus der BSV-Studie «Migrantinnen und Migranten in der Invalidenversicherung – Soziale Unterschichtung, gesundheitliche Lage und Invalidisierungsrisiko» Guggisberg et al. 2010):

Anteil Renten am Total der laufenden Renten aufgrund psychischer Krankheiten und Krankheiten der Knochen und Bewegungsorgane nach Staatszugehörigkeit:

Sieht irgendjemand in obiger Tabelle das Wort «Nicht objektivierbar?» Ich nicht. Aber Herr Baur offenbar schon. (Dinge sehen, die nicht da sind – das ist aus gesundheitlicher Sicht betrachtet aber gar kein gutes Zeichen, Herr Baur…)

Baur behauptet nämlich (in der Weltwoche 25/10) – konkret bezugnehmend auf obige Tabelle – 80 Prozent der IV-Rentner aus der Türkei litten an angeblichen seelischen Beschwerden oder an körperlichen Schmerzen, die sich nicht objektivieren lassen» Auch bei den Schweizern, so liest Baur aus der obigen Tabelle heraus, sollen 55% der IV-Bezüger ihre Rente angeblich aufgrund «diffuser» Beschwerden erhalten.

Was Baur «entgangen» ist: die Tabelle zeigt den Anteil aller* Krankheiten der Kategorien Knochen/Bewegungsorgane/Psychische am Gesamtrentenbestand. Baur stellt damit alle Menschen mit körperlichen Krankheiten an Knochen und Bewegungsorganen und schweren psychische Erkrankungen wie Schizophrenien samt und sonders einfach mal pauschal in die Simulanten- ecke.

Und wie schreibt Baur noch dazu: «Leider hat sich anscheinend niemand dazu überwinden können, die Studie zu lesen. Tatsächlich ist die Lektüre des achtzig Seiten dicken Dokumentes in schwerverständlichem Sozialarbeiter-Kauder-welsch eine Zumutung. Nimmt man sich jedoch die Mühe, die harten Fakten aus den gestelzten Formulierungen und gewundenen Relativierungen heraus-zuschälen, öffnen sich Abgründe.»

Ja, allerdings eröffnen sich da Abgründe – speziell im Hinblick auf die «Fakten» die der Weltwochejournalist da «herausgeschält» haben will. Wenn man die Studie nicht versteht, hält man sich eben einfach an die schönen Bildchen mit den Tabellen – nur sollte man dann zumindest noch korrekt interpretieren können, was die Tabellen eigentlich aussagen.

Nach dem letzten Diffamierungsversuch rechtfertigte Baur hier im Blog seine inkorrekte Darstellung des Migrantenanteils bei der Invalidenversicherung (in der Weltwoche 22/10) damit, dass «der Satz ursprünglich anders formuliert war, dann aber beim redigieren verkürzt worden wäre». Und was ist wohl diesmal – selbstverständlich unabsichtlich – schiefgegangen?

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*Die Invalidenversicherung teilt die sogenannten Gebrechensarten folgendermassen ein:

  • Geburtsgebrechen
  • Psychische Krankheiten
  • Nervensystem
  • Knochen und Bewegungsorgane
  • andere Krankheiten
  • Unfall

Alle Zusammen = Gesamtbestand der Renten

Und entgegen der Weltwoche-Propaganda werden Renten nicht einfach so «verteilt» sondern haben sich nach dem Gesetz zu richten, dass da heisst: Art. 7 Abs. 2 ATSG: «Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist».
Passend zum Thema: Plündern Ausländer die IV? – reoladed

Nachtrag 9. Juli 2010: und wenn das Vorsorgeforum solche Wewo-Artikel in Twitter mit den Worten: «Zum Glück gibt es die Weltwoche. Zur IV und der kürzlichen Studie bringt sie ein paar bemerkenswerte Überlegungen» anpreist und grosszügig Auszüge aus ebendiesen Artikel 1:1 kritik- und kommentarlos in den Blog übernimmt – dann wird auch klar, in wessen Interesse es liegt, dass möglichst viele IV-Bezüger des angeblich «unrechtmässigen» Bezugs verdächtigt werden. Mitglieder des Vorstands des Vorsorgeforums sind: Verwaltungsräte von Krankenkassen, FDP-ler, ehemaliger Vizedirektor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands und so weiter…)

Lue zersch wohär dass dr Wind wääit

Man mag den Anhängern des Bedingungslosen Grundeinkommens hoffnunglose Sozialromatik oder den Machern des im letzten Artikel vorgestellten Filmes kritiklose rosafarbene Propaganda vorwerfen – aber wie sieht es denn auf der andern Seite aus? Bei denen, die behaupten, soviel näher an der «Realität» zu sein?

Am 10. und 11. Juni 2010 lud das liberale Institut zum Symposium unter dem Titel «der Sozialstaat – Ein Experiment auf Abwegen» Ein Blick in die Referentenliste zeigt; dem liberalen Institut Zugewandte gaben sich ein Stelldichein:

James Bartholomew (Adam Smith Institute, London) der Autor von «The Welfare State We’re In» sprach zum Thema: «The welfare state against morals: the erosion of social culture» Unter den Kritiken bei Amazon zum Buch von Bartholomew ist unter anderem folgendes zu lesen: «The author sneers at the number of unemployed people on disability benefit, particularly those who are classed as having mental problems, and implies many of these cases are fraudulent».

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Und wundert es da noch, dass auch der Weltwochejournalist Alex Baur zum «Tabuthema Sozialstaat» referieren durfte? (Und einmal mehr hat er die Mär von angeblichen «50% – 80% ausländischen Transferempfängern» zum Besten geben dürfen)

Oder der evangelische Pfarrer Peter Ruch («Sozialstaat oder Zivilgesellschaft? – Über Verantwortung und Solidarität»), der gerne mal im SVP-Parteiblatt «der Zürcher Bote» und der Weltwoche schreibt und das Lob der freien Marktwirtschaft mit Zitaten aus der Bibel begründen kann: «Immer wieder würde dabei die Notwendigkeit eines Respekts vor dem Eigentum Anderer betont – nicht nur der Diebstahl, auch schon der Neid würde hier als Sünde beschrieben. (…). Umgekehrt fordere die Bibel Tugenden wie Ehrlichkeit, Fairness und Vertragstreue, die eine freie Marktwirtschaft auszeichneten. Zahlreiche Protagonisten der Bibel warnten auch vor dem Wachstum des Staates, da der Mensch fehlbar sei und den Verlockungen der Macht kaum widerstehen könne.»

Fairness zeichnet die freie Marktwirtschaft aus…? Und steht in der Bibel nicht auch irgendwas von Kamel/Nadelöhr/Reiche/Himmelreich…?

Nicht fehlen durfte natürlich auch Katja Gentinetta («Wachstum ohne Grenzen? – Die Entwicklung des Schweizer Sozialstaats») von Avenir Suisse, die sich wie offensichtlich alle anderen Referenten mehr mit den Statistiken als den realen Menschen beschäftigt – oder wie kommt sie sonst auf Schlussfolgerungen wie «die Erhöhung des Rentenalters auf 71 beziehungsweise 73 Jahre wäre eine faire Möglichkeit (…) schliesslich arbeiteten die Menschen weniger körperlich und mehr intellektuell.» Bei Gentinetta wächst das Essen also direkt im Kühlschrank und wohnen tut sie in einem Leichtbauzelt? Und in ihrer Vision pflegen dann die 73-jährigen die 90-jährigen im Altersheim?

Auch wenn der Film zum bedingungslosen Grundeinkommen hauptsächlich der Idee gewogene Personen zur Sprache kommen liess, so zog sich die Bandbreite doch zumindest quer durch verschiedene Berufe und soziale Schichten bis hin zum HSG-Professor. Wenn hingegen das Liberale Institut zum Symposium ruft, und da nur Exponenten aus dem liberalen Klüngel Umfeld mit Berufen, die im übrigen für die Gemeinschaft mehrheitlich nicht besonders notwenig sind (sondern vor allem den Eigeninteressen ihrer Vertreter dienen), im komplett luftleeren Raum die Auswüchse des Sozialstaates geisseln (und keiner der Redner auch nur den leisesten realen Bezug zum behandelten Diskussionsthema aufweisen kann) – dann bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, wem denn hier die Bodenhaftung fehlt…

Und man möchte sich nicht einmal vorstellen, wie es um die Solidarität bestellt wäre, wenn es nach Robert Nef, («Einstieg in den Ausstieg – wie reformfähig ist der Sozialstaat?») dem Stiftungsratpräsident des Liberalen Instituts ginge, der meint: «Solidarität ja, Zwangssolidarität nein – Es brauche wieder mehr Selbstverantwortung(…) Die staatliche Umverteilungspolitik sei zu anonym, um freiwillige Solidarität unter den Bürgern zu fördern und provoziere übertriebene Anspruchshaltungen Betroffener.» Und wenn ebendieser Robert Nef seine Schrift «Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat» ausgerechnet bei Ulrich Schlüers «Schweizerzeit» verlegen lässt und ein langjähriger Duzfreund von Christoph Blocher ist…

Möchte man da im Falle eines Falles wirklich auf die freiwillige Solidarität von Menschen wie den oben zitierten Rednern angewiesen sein? Gibt es sowas überhaupt im Universum der freien Marktwirtschaft? Eine Leistung ohne direkte Gegenleistung? Ich bezweifle es. Klingt irgendwie nach Mittelalter, nach dem System der würdigen und unwürdigen Armen: «Mit diesem Begriffspaar unterschied man ab dem 16. Jahrhundert zwischen jenen, die aufgrund von Krankheit oder äusseren Umständen unschuldig in ihre missliche Situation geraten waren. Und jenen anderen, unwürdigen, die als arbeitsfähige «Bettler oder Beutelschneider» wahrgenommen und disqualifiziert wurden. Deren brachliegende Arbeitskraft sollte von nun an genutzt werden – und so begannen kirchliche und staatliche Vertreter im 17. Jahrhundert, die arbeitsfähigen Armen in Arbeitshäuser und ähnlichen Einrichtungen zu internieren, um sie zu geregelter Beschäftigung zu «erziehen» und auszubeuten.» (Quelle: Rezension «Arme, Bettler, Beutelschneider»). Noch Fragen, warum es im Interesse der wirtschaftsfreundlichen Kreise liegt, die «Armenfürsorge» möglichst zu privatisieren? Vielleicht auch, weil unser Sozialstaat trotz kräftigem Bestreben von bürgerlich-rechts nach deren Meinung immernoch nicht genügend wirtschaftsfreundlich mittelalterlich ist?

Ach herrjeh, die alten Herren mit ihren Ideen von vorgestern für die Welt von morgen.

Quellen: liberales Institut, Der Arbeitsmarkt

Weitere Referenten waren: Prof. Dr. Dr. Gerd Habermann, Friedrich August von Hayek-Stiftung («Der Wohlfahrtsstaat – Geschichte eines Irrwegs») und Prof. Dr. Charles B. Blankart, Humboldt-Universität zu Berlin («Der Teufelskreis der Umverteilung und marktwirtschaftliche Auswege»)

Hokuspokus mit unsicheren Beschwerdevalidierungstests

Artikel in der NZZ: Neue psychologische Tests gegen IV-Betrug

«Im Bereich der psychischen Erkrankungen bestand bis jetzt kaum eine systematische Möglichkeit, die Symptome zu überprüfen. Mit ungefähr 10- bis 30-minütigen Tests zur «Symptomvalidierung» sollen nun neuropsychologische Aufgaben angewandt werden, etwa mit der Zuordnung von Farben oder mit der Prüfung der Gedächtnis- und Arbeitsleistung. Wenn zum Beispiel ein Gesuchsteller bei gewissen Aufgaben schlechtere Resultate erziele, als es gar für geistig Behinderte typisch sei, könne dies ein Indiz dafür sein, dass eine psychische Krankheit vorgetäuscht werde, heisst es beim BSV.»

Einmal mehr zeigt sich, dass Ergebnisse von BSV-Studien scheinbar eh niemanden interessieren. Hatte doch die Studie Der Einsatz von Beschwerdevalidierungstests in der IV-Abklärung im Fazit festgehalten: «Trotz der wachsenden Forschungstätigkeit bleibt aber das Problem bestehen, dass all diese Tests, auch die wissenschaftlich gut untersuchten(…) eine nicht zu vernachlässigende Rate von falschen Ergebnissen liefern.»

Wie wär’s zur Abwechslung mal mit psychologischen Tests über die Wahrnehmungsfähigkeiten von IV-Mitarbeitern?